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Zille-Studien und -Akte.

Wer dieses Kapitel aufmerksam durchblättert, wird einen ganz unbekannten , einen neuen Zille kennenlernen. Den Zille, der nicht nur der Meister des Milljöhs war, sondern der wirklich meisterhafte Akte und Studien jeder Art geliefert hat.

Manche seiner Frauenakte sind von glänzender klassischer Form. Verraten, daß er nicht umsonst in der Berliner Akademie in der Schule gewesen ist, die einst Schadow leitete.

Hier ist er weit mehr als nur Heimatkünstler.

Wer diese Blätter aufmerksam betrachtet und wertet, muß bekennen, daß in Zille unter allen Umständen ein großer Künstler gesteckt hat, daß ihn nicht nur das künstlerische Interesse für die derbe Volkstümlichkeit zum Künstler gemacht hat.

Aber aus diesen Studien – die wie fertige Werke wirken – spricht auch nicht nur die Kraft der Schule, der Akademie, in der er sich künstlerisch übte. Aus diesen Blättern spricht die eigene Kraft, das eigene Können, das persönliche Künstlertum. Das ist keine reine Schülerware. Das ist mehr als nur erlerntes Können. Das bekommt niemand nur vom Lernen fertig oder »mit Gewalt«, wie Zille immer bescheiden meint. (Siehe Kapitel: »Zille als Künstler«.)

Dazu gehört ursprünglich Begabung.

Nicht nur diese Begabung brachte Zille mit auf die Welt. Er brachte seine besondere Persönlichkeit mit. Wer diese Studien – und auch viele andere in diesem Buch – betrachtet, erkennt fast überall die besondere Hand des Meisters.

 

42. H. Zille: Meine Mutter.

Diese ungeschminkte Porträtskizze zeigt auch die Begabung fürs Porträt, die durch die Porträtskizzen von seinen Kollegen dokumentiert wird. Man denkt unwillkürlich an Dürers Zeichnung von seiner Mutter.

Nach dem Original zum 1. Mal veröffentlicht.

 

Zille geht schon bei seinen frühesten Studien über das Akademische hinaus. (Siehe Bild 6 und die Akte aus den neunziger Jahren.) Ganz fest dokumentiert sich seine Persönlichkeit und seine Eigenart aber in den Akten aus dem Beginn dieses Jahrhunderts. Der Akt der Gertrud L.., die Akte nach den Jugendlichen (siehe auch Bild 28 und 34), die Studie nach Lotte Prietzel sind Beweise der unmittelbaren Fäden, die Zille mit der kraftvollen Natur verbinden. Er ist frei von allen Konventionen.

 

43. Tochter Gretel beim Frühstück vor dem Hause in Karlshorst.

Nach dem Original aus Zilles Gesellenzeit, um 1885.

 

Wenn wieder manche Franzosen (Maillol) gepriesen werden dafür, daß sie das wirklich Weibliche aus allen Konventionen herausgehoben haben, so scheint mir dies im Anblick der Zilleakte ungerecht. Auch Zille ist wie manch anderer deutscher Künstler zu den Quellen der Kunst vorgedrungen. Wer kennt sie denn alle? Wer kennt alle ihre Werke? Wer ist durch alle ihre Werkstätten, ihre Mappen und Studienbücher hindurchgewandert?

 

44. Suppenschüssel.

Aquarelliertes Studienblatt aus früher Zeit. Beachtenswert ist die Liebe, mit der jede Kleinigkeit beobachtet und mit weicher Hand wiedergegeben ist.

Zum 1. Mal veröffentlicht.

 

Auch Zilles andere Studien sind ganz persönlich und durchaus meisterhaft. Zuerst entdecken wir Zille als Landschafter – als Landschafter von Bedeutung und feinster poetischer Empfindung. Und von hier aus finden wir auch die Erklärung, wie so viele seiner andern Zeichnungen und Werke, so empfindungsvoll auf uns wirken; weil Zille ein Mensch voller Poesie ist ... (Siehe Bild 7 »Zerzauste Kiefer« und die Studie »Weidenbaum« sowie die Schilderung aus Alt-Berlin im Kapitel »Milljöh«.)

Auch an den anderen Skizzen merkt man die gute Schule, in der Zille sich geübt hat: Menzel ist sicher nicht ohne Einfluß auf ihn gewesen. Ist doch auch ihm nichts zu gering, daß es nicht gezeichnet und aufgezeichnet werden müßte. Unterwäsche und Strümpfe auf der Wäscheleine – und Stiefel. Anton von Werner, der damalige Direktor der Akademie, hat ja auch Stiefel gezeichnet und gemalt, mit durchaus echter Künstlerschaft. Zille notierte ebenso eifrig wie Menzel. Selten zeichnete er sich mehr als ein paar Striche auf. Die aber faßten das ganze Objekt, dessen äußere Erscheinung, dessen eigentümliche Bewegung, Beleuchtung und inneres Wesen. Zille schaute und zeichnete unablässig, sammelte ein gewaltiges Wissen. Und arbeitete, arbeitete. Eine Unzahl von Mappen hat er in seinem reifen Leben angefüllt mit Studienblättern. Viele große Blätter hat er mit seinen Studien beklebt. Auf beiden Seiten. Mit je dreißig bis vierzig Skizzen. –

Zille malte natürlich keinen Soldatenstiefel wie Anton von Werner. Er nahm sich richtige »Trittlinge« vor. Und er wußte sie so klassisch wiederzugeben, daß sie wirken, als sei ein Schicksal mit ihnen gestaltet. Ein Schicksal spricht aus diesen brüchigen, zerschlissenen Trittlingen. (Bild 55.)

Alle seine andern Studien – siehe besonders die Kapitel »Zille und seine Modelle«, »Zille-Kindheit«, »Lehr- und Gesellenjahre«, »Milljöh« und »Zille-Kinder« – sind von gleicher künstlerischer Inbrunst und Könnerschaft.

Wenn Zille eine Gosse malt, wenn er einen Suppentopf auf dem Papier verewigt, oder einen Kinderwagen oder einen Arbeiterkopf mit wenigen Strichen in seiner verarbeiteten und verbissenen Art festhält: immer ist ein Stück lebendige Welt künstlerisch gestaltet.

 

45. Studienblatt aus frühester Zeit.

Die Blumen in der Vase äußerst fein in Bewegung und Farben. Auch die leichten Umrisse der Gestalten zeigen schon das feine Auge für jede Bewegung, für den Charakter und das Wesen des Dargestellten.

Zum 1. Mal veröffentlicht.

 

 

46. Blicke aus dem Fenster der Wohnung zu Rummelsburg.

Studienblatt aus dem Jahre 1885. Wer genau hinsieht, findet schon den ganzen Zille.

 

 

47. Weidenbaum.

Aquarellstudie aus dem Jahre 1884. Prachtvoll, dies flüchtig und doch vollständig lebendig skizzierte Stück Landschaft mit dem leicht angedeuteten Hintergrund!

Nach dem Original zum 1. Mal veröffentlicht.

 

 

48. Blick auf die Ostbahn bei Rummelsburg im Jahre 1883.

Im Garten die gießende Frau des Gendarmen, des »Pascha« von Rummelsburg. Auch diese Skizze ist ein Beweis für die große Begabung Zilles für die Landschaft. Genaue Sachlichkeit, von künstlerischem Temperament begleitet und beseelt!

Nach dem Originalaquarell zum 1. Mal veröffentlicht.

 

 

49. Mein Soldatenrock.

Aquarell aus dem Beginn der achtziger Jahre. Zille erhielt den Rock als Gabe von seinem Gefreiten, als er vom Militär (Leiber in Frankfurt-Oder) entlassen wurde. Er trug ihn jahrelang als Arbeitskittel. Auch hier tritt die Fähigkeit, den einfachsten Vorwurf durch Beseelung zum Kunstwerk zu erheben, deutlich hervor.

Nach dem Original zum 1. Mal veröffentlicht.

 

 

50. Weiblicher Akt. Aus Zilles Akademie-Stunden.

Nach dem Original zum 1. Mal veröffentlicht.

 

 

51. Aktstudie.

Nach einem Mann, dessen Kopf häufig für Kaiserbilder benutzt wurde. Er fühlte sich sehr stolz als »Spezialist« und stand Akt nur im äußersten pekuniären Notfall.

Nach dem Original zum 1. Mal veröffentlicht.

 

 

52. Weiblicher Akt. Aus dem Ende der neunziger Jahre.
Zeigt schon die Bevorzugung des nicht verschnürten Körpers.

Nach dem Original zum 1. Mal veröffentlicht.

 

 

53. Else B... Rückenansicht.

Nach dem Original zum 1. Mal veröffentlicht.

 

 

54. Kauernde auf Kissen. 12. 03.

Nach dem Original zum 1. Mal veröffentlicht.

 

Bei Zille gilt das Wort: das tägliche Leben ist durch Einfachheit ins Künstlerische zu erheben. Es ist weit entfernt von der Arroganz der Mystik. Aber es ist selbst ein Stück der Unendlichkeit, des Ewigen.

Gerade da, wo das Leben am einfachsten ist, kann es erschüttern – durch künstlerische Darstellung.

 

55. Mädchen mit Fußbank, 15½ Jahre. 21.12.03

Nach dem Original zum 1. Mal veröffentlicht.

 

 

56. Gertrud L....
Akt einer älteren Frau. 2. 11. 04.

Nach dem Original zum 1. Mal veröffentlicht.

 

 

57. Frauen-Akt.

Aus dem Jahre 1904. Zeigt, wie Zille nie sich nach der Mode richtete sondern das Weibliche in vollster Entfaltung darstellte.

Nach dem Original zum 1. Mal veröffentlicht.

 

 

58. Frauenstudie im Halbprofil.

Nach dem Original zum 1. Mal veröffentlicht.

 

 

59. Elfriede R.... auf dem Hocker.

Nach dem Original zum 1. Mal veröffentlicht.

 

 

60. Hühnerstudien.

Nach dem Original aus der Zeit um 1890, zum 1. Mal veröffentlicht.

 

Allerdings erfordert das gesunde Kräfte. Diese Kräfte überwinden alles Böse, allen Jammer und führen zum Glück. Das Glück aber gedeiht nur, wo die Natur nicht vergewaltigt wird, wo Klarblickende zum Natürlichen, zur Einfachheit vordringen.

Bei Zille kommt manchmal noch ein anderes hinzu:

 

61. Ehestandslokomotive.
Studie nach einem vielgebrauchten Kinderwagen.

Nach dem Original zum 1. Mal veröffentlicht.

 

Er hat Mitempfinden, nicht nur Mitleid mit seinen Objekten. Er bringt Dirnen, verlauste Pennbrüder, beschmutzte Kinder, kesse Jungs und wiefe Männer, armselige Frauen, geradezu oft wandernde Lumpenbündel.

Das alles ist so echt, daß die Gestalten fast riechen. Sie riechen nicht gut, wie Fritz Stahl zum siebzigsten Geburtstag von Zille schrieb: »Und doch fühlt man weder Ekel

 

62. Stiefel muß sterben –
Studien aus der Jugendzeit.

Nach dem Original zum 1. Mal veröffentlicht.

 

noch Grauen. Alles ist offenbar von einem Künstler gesehen, der beides nicht gekannt hat. Er hat alles sehr menschlich gesehen, voller Interesse für diese Leibhaftigkeit und ihre Formen und Bewegungen – nur mit ein bißchen Heiterkeit, wie man die unschuldigen Kinder und Tiere ansieht, wobei auch Moral und Ästhetik nicht mitzureden haben.

 

63. Auf dem Wege zur Arbeit.
H. Zille: »Mein erster Versuch, etwas aus dem Arbeiterleben zu komponieren.«

Nach dem Original zum 1. Mal veröffentlicht.

 

 

64. Varietétänzerin. Aquarellstudie vor 1900.

Nach dem Original zum 1. Mal veröffentlicht.

 

 

65. Weihnachtsmarkt im Osten von Berlin.

Nach dem bunten Original aus dem Jahre 1910, zum 1. Mal veröffentlicht.

 

Zu diesem Stoff und zu diesem Ton paßte ganz wundersam der Stil. Stil war es nämlich trotz aller Wirklichkeitstreue. Realistische Darstellung im gewöhnlichen Sinne hätte die Stoffe unerträglich gemacht. Und um dieselbe Stimmung mitzuteilen, in der er selbst Zuschauer dieser kleinen Welt gewesen war, diese lächelnde Menschlichkeit, war es nötig, Distanz zu der Wirklichkeit zu geben. Dazu dienten ein leichter Strich, eine leichte Farbe, sozusagen ein Humor des Vortrags ...«

 

66. Auf dem Wege. Bewegungsstudie.

Nach dem Original zum 1. Mal veröffentlicht.

 

Stahl hat zweifellos mit vielen seiner Worte recht. Er deutet manches in Zilles Wesen und Kunst.

Aber er enthüllt, begreift nicht alles.

 

67. »Nu man nich so hastig!«
Skizze einer jungen Mutter, die ihr Kind gehen lehrt. Etwa 1910.

Nach dem Original zum 1. Mal veröffentlicht.

 

 

68. Gang ins Wasser.
›Mutta, is ooch nich kalt?« »Laß man, de Fische leben ja immer drin! ...«

Nach dem zweiten Entwurf zu dem Selbstmordbild einer Arbeiterfrau, etwa 1905.

 

 

69. »Wenn ick so die Olle verkloppen könnte! ...«

Nach der Originalstudie um 1910, zum 1. Mal veröffentlicht.

 

 

70. Die fahrende Kapelle.
Skizze einer alten Frau, die mit ihrem geliehenen Leierkasten in den Volksvierteln von Hof zu Hof fährt und auf grauen Höfen »laut macht« – durch ihre Drehorgelei etwas Frohsinn bringt.

Nach einer Originalstudie um 1914 zum 1. Mal veröffentlicht.

 

Zilles Wesen ist nur zu verstehen, wenn man weiß, daß er nicht nur Zuschauer dieser kleinen Welt war. Er lebte mit dieser Welt. Er lebte in dieser Welt. Er ist vertraut mit allem, was er darstellt. Er ist ein Stück von ihnen. Wenn er eine Gosse zeichnet, so war ihm selbst eine Gosse nähergekommen, als er in seiner ersten eigenen Wohnung, halb Kellerwohnung, dicht neben seinem Fenster das Leben der Gosse, das Tropfen und Klopfen, das Rieseln und Stürzen des Wassers miterlebte.

Und so ist es auch mit seinen Menschen. Er lebt mit ihnen, mit diesem Volk. Er wohnt noch heute in einer Straße, in der, dicht neben dem vornehmen Kaiserdamm, »Volk« lebt, Frauen in Tüchern und mit Schürzen vor den gedunsenen Leibern, Kinder, die in zu großen Schuhen und in Latschen von der Mutter (die eigenen einzigen Schuhe sind beim Flickschuster) auf der Straße herum schlurren – und viele Männer, die mit Mützen daher kommen – und die Mädchen mit »ihm« vor der Düre stehn! ...

 

71. Arbeiter-Wäsche auf der Leine.

Nach einer Originalstudie zum 1. Mal veröffentlicht.

 

Zille kennt ihre Heimlichkeiten und Freuden, ihre Kümmernisse und ihre Not. Er kennt ihre Lieder und Redensarten, ihren nie versagenden, oft eine böse Szene mit Lachen beendigenden Witz. Er hat ihre Hochzeiten, ihre Landpartien, ihre Vereinsfeiern, ihre Kindtaufen und Beerdigungen mitgemacht.

 

72. »Een paar dausend Steene schlepp ick jeden Dag.«

Nach der Originalskizze eines Steinträgers.

 

Er ist kein Zuschauer geblieben, wie Stahl meinte. Er hat mit seinen Menschen alles miterlebt und mitgelebt. Er ist ihnen gefolgt von ihrer Kindheit an, behielt sie immer im Auge und im Gedächtnis, im Gefühl. So wie er sein eigenes Leben von seiner Kindheit an aufmerksam verfolgt hat und wiedergeben kann.

Er steht nicht kühl beobachtend beiseite. Er lebt mit und sieht wie Schicksale sich erfüllen. Ihm ist wirklich nichts Menschliches fremd. Er glaubt nicht an Schuld. Er sieht nur Schwächen – Zustände, er sieht eben Schicksale.

An anderer Stelle sagte ich schon, daß Zille sich als Knecht des Kapitals fühlt – und nur darum imstande sei, so unerhört echt und lebendig das Leben seiner Menschen wiederzugeben – die sich ja auch als verknechtet fühlen und nicht wissen, daß jeder sich befreien kann ...

Dies Wort vom Knecht des Kapitals gilt für vieles, was er schuf.

Er lebt in seinen Objekten. Mag das ein alter Stiefel, mag es ein Kind oder ein armes verlumptes Wesen sein: er lebt – in dem, was er zeichnet. Er bringt seine Werke dadurch zu diesem unerhörten Leben, das alle seine Werke, selbst die geringste Skizze erfüllt.


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