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Wenn man Zille will verstehn, muß man in Zillekneipen gehn. Also in die Lokale, in denen das einfache Volk verkehrt und auch in solche Gastwirtschaften, in denen allerlei Entgleiste und Verunglückte, vor allem auch die Armen im Geiste und im Gelde eine billige Geselligkeit und eine wohlfeile Betäubung ihres Elends suchen. Dort wird man nicht nur seine Menschen finden, sondern zugleich auch manche Aufschlüsse über sie.
Aus seinen Schilderungen wird das Berliner Kneipenleben der letzten Jahrzehnte wach. Sie sind ein Stück Kulturgeschichte der Reichshauptstadt. Vor allem die Schilderungen aus den Kellern. Diese Kellerlokale sind ja in letzter Zeit fast ganz verschwunden – bis auf den berüchtigten Jägerkeller in der Jägerstraße, in dem auch gewisse Kavaliere aus der Friedrichstraße und manche von ihren Damen verkehren. Auch der »Stramme Hund« am Oranienburger Tor, in dem nach durchkneipter Nacht Studenten, Kellner, Künstler, Universitätsprofessoren und Droschkenkutscher an weißgescheuerten Tischen beisammen saßen und Erbssuppe speisten, besteht noch – mit fast demselben Publikum (Bild 106). Nur kommen anstatt der Droschenkutscher mit den blauen Pelerinenmänteln jetzt Schofföre in Lederjacken. Sie riechen nicht mehr nach Pferd und Stall, sondern nach Öl und Benzingas.
Im Osten und auch im Norden gibt's noch Kellerwirtschaften. Aber sie sind doch recht vereinzelt. Und der Hammelkopp-Keller, in dem die abgeknabberten Köpfe unter den Tisch geworfen wurden, ist auch eingegangen. Von einem andern typischen Bierkeller (siehe Bild 105) erzählt Zille:
»Vor fünfundzwanzig Jahren verkehrte ich im Bayrischen Bierkeller in der Poststraße. Es ging eine gewundene Treppe runter. Unten saßen wir im Halbdunkel auf einfachen Bänken an Holztischen. Aber 'n großen Seidel gab's. Der Wirt – nu ooch schon tot ... Da konnte man Leute finden. Fast alle ohne Kragen. Hausdiener – und Schiffer von der Mühlenschleuse. Und Gelegenheitsarbeiter. Feine Leute bei! Die jetzt bloß auf die Groschens für den Topp warteten und denn gleich runterkamen in den etwas dustern Raum. Feine Leute – zum Beispiel ein Deutsch-Russe, der in Rußland Inspektor auf einem ganz großen Gut gewesen war und Sonnabends Tausende an: die vielen hundert Arbeiter ausgezahlt hatte. Jetzt hatte er keinen Pfennig mehr in der Hand.
Und der Bierkeller ist längst ein Produktenkeller geworden.
Alter Dreck wird da gestapelt ... Außer den diesem Kapitel beigefügten Bildern sind zur Ergänzung zu beachten: die Abbildungen zu »Die Männer der Mächens«, »Milljöh« und Bild 3.«
In diesen Kellern hat Zille manches Motiv gefunden. Das bezeichnendste ist wohl:
»Methyl.
›Der Bückling war jut. Bloß der Schnaps hatte so 'n Beijeschmack nach Rosenlikör.‹«
In diesen Kellern verkehrte eben oft die armseligste Gesellschaft, die nicht viel für einen Schnaps zahlen kann. Und der Wirt ist auch nicht immer sehr gewissenhaft. Er will doch auch bestehen! Und die Leute verlangen doch nun einmal ein großes Glas »Kognak« für zehn Pfennige! Z.
*
Außer diesen Kellern gibt's dann auch noch einzelne »Bouillonkeller«, die etwa um 1900 und bald darauf aufkamen. Das waren Lokale ohne Konzession, Schnaps und Bier auszuschänken ... Sie hatten auch meist die ganze Nacht auf und schänkten billig warmen Kaffee und Milch sowie andere alkoholfreie Getränke. Es waren Ersatzlokale für die zu teuern Kaffeehäuser. In ihnen suchten alle Menschen Erfrischung, die nachts in der Weltstadt unterwegs sein mußten: Zeitungsdrucker, Kutscher, Straßenmädchen, deren Freunde, ferner Bettler – und auch Künstler, die nicht so leicht zur Ruhe kommen. Neuerdings hat ja ein ganz einfaches Kellerlokal einen ungeheuren Zulauf von Künstlern, Rechtsanwälten und andern Nachtbummlern. Allerdings gibt's da auch Alkohol ...
105. Der Bayrische Bierkeller in der Poststraße.
In die Bouillonkeller aber kamen auch jene Nachtgestalten, von denen Zille allerlei erlauschte.
Wieviel rührende Sehnsucht und Zuversicht äußerte sich in dem Seufzer der blinden Bettlerin zu ihrem erbärmlich ausschauenden neuen Führer:
»Willem, ich glaube, du mußt ein schöner Mann sein!«
*
In manchen Bouillonkellern wurde auch gespielt. In der Mitte ein Tisch für den Bankhalter. Ringsherum die »Klub«mitglieder aus der Friedrichstraße, bepelzte Bardamen und andere Nachtvögel. Die Geldscheine wurden in der Inflation nur gebündelt in die Bank geschmissen oder dem Gewinner hingeworfen ...
In solchen Bouillonkellern wurden aber auch gute Ratschläge von guten Freunden erteilt:
»Warum heiratste nich die Liese, Paule? Sie kocht dir, sie wäscht dir, sie flickt dir, – und wenn de besoffen bist, weeste wo de hinjehörst!« (Bild 82.)
Manche der Keller waren so niedrig oder hatten einen so niedrigen Eingang, daß größere Menschen sich beim Hinabsteigen bücken mußten. Sie bekamen dann davon ihren Namen, wie das »Hotel Bück Dich«. Der Wirt, der Patriotenwillem, hielt eine derbe Standpauke an seine Gäste, kümmerliches Bettelvolk:
106. Unterm Niveau. Im Keller zum Strammen Hund. »Der Herr und die Dame! Zweimal Schweineschnauze!«
»Wenn ihr eene blasse Ahnung von Staatserhaltung un Sittlichkeit hätt', tat ick eich wat von unse Parade vor S. M. erzählen. Aber ihr wißt ja nich eenmal, wer eich rausgelassen hat. Denkt bloß ans Fressen un Saufen, mir anzupumpen un Lause an de Stuhlbeene zu schmieren.«
Aber es gab auch andere Keller, zu denen bessere Gäste hinabstolperten. Zille erzählt:
»Ja, da war in der Jägerstraße auch der Meyerkeller. Wo jetzt der Jägerkeller ist. Da standen anstatt Tische nur Tonnen. Und auf einer Tonne saß so'n verkrachter Assessor. Der machte den Clown. Dafür hatte er Essen und freie Zeche. Der hängte jedem, der 'rein kam, einen Namen an:
Nasenmeyer – wenn er eine große oder 'ne Himmelfahrtsnase hatte.
Bartmeyer – wenn er einen langen Bart trug.
Hutmeyer – wenn der Hut auffällig war.
Schielmeyer – wenn er nicht grade sehen konnte.
Und dabei waren; die Leute vergnügt – und die Hauptsache war der Suff.«
*
Die meisten Kellerlokale aber waren von der Art der »Pansch-Apotheke«, deren Wirt einer jungen Mutter den allzu weisen Rat gab:
»Junge Frau, der Schnaps is gut for Kinder, da verdrücken sich die Würmer!«
Wie manche Wirte lebten und endeten, erzählte Zille einst drastisch:
»Ja, der eine Kellerwirt fürchtete das Delirium. Aber den ganzen Tag trank er nur Kognak. Wasser oder Kaffee oder gar Essen kam nicht über seine Lippen. Abends aß er ein Pfund Butter. Wenn er ganz voll war vom Kognak, dann ging er aufs Klosett und nahm sich ein Pfund Butter mit, das er da aß.
Oft fanden wir ihn morgens da eingeschlafen.
Einmal schrieb er an mich, aber ich kam schon zu spät
107. »Weißbier macht so voll!«
hin. Er war schon tot. Hing schon ganz kalt am Fensterriegel.
Ich sollte wohl für seinen kleinen Jungen sorgen, der bei der Großmutter lebte ...«
*
»Vor allem aber gab es bei diesen Kellerwirten immer die echte Berliner Weiße. Für bessere Gäste, die 25 oder gar 3o Pfennige anlegen konnten, die große ›Märzweiße‹, ein Getränk, das nicht zu sehr mit Wasser versetzt war und mehrere Wochen oder Monate im dunklen Kellerloch lagerte. Und sonst die ›kleine Weiße‹ für 10 und i5 Pfennige. Zwischen jedem Glas Weißbier wurde ein Kümmel genehmigt. Die große Weiße wurde aus der Steinkruke in breite Glasstumpen ausgeschänkt, die von mehreren Gästen gemeinsam ausgetrunken wurden. Mit dem Daumen wurde ins Glas hineingefaßt und es an den bärtigen Mund geführt. Das war die Gegend, in der die dickbäuchigen und rotnasigen Trinker sagten:
›Weißbier macht so voll‹ –
›Ja – und es gibt Leute, die jar keens trinken können!‹
Da neckten sich die echten Schnapsbrüder:
›Ja, Willem, Nagels Kirsch mußte immer verdünn', sonst'en kriegste Löcher ins Hemde!‹
Und die Familienmutter wies ihr Kind zurecht in solchem mit Papierband zurecht gemachten ›Bürgerheim‹:
›011er Brüllaffe, Vater muß doch erst trinken, dann kannste det Jlas auslecken!‹«
*
Eine solche gute Alt-Berliner Kneipe schilderte Zille mir in diesen Worten:
»An der Ecke vom Krögel war vorm Kriege noch so 'ne richtige alte Berliner Weißbierkneipe. Wunderbar – echt Biedermeier. Mit bunten Glasecken im Fenster – Tisch und Stühle echt – die Schnapspullen fein gebaucht – und allerlei Raritäten.
108. »Familienleben.«
»Zu ville derf man ooch nich saufen, Fräulein, sonst kann man zu Hause de Olle nicht vahaun!«
Die Gastwirtstochter war ein feines Mädchen. Sie schänkte ja noch ein – aber sie hatte Stimme und nahm Gesangunterricht. Sie ist nu auch Sängerin. Und neulich war sie mit ihrer Tochter bei mir. Schon ein großes Mädchen. Aber die will doch nu nich singen lernen – nee, zum Film! Und denn gleich Diva! ...
Ja, die hatten dann die schöne Kneipe verpachtet. Und der Pächter hat keine Pacht gezahlt und hat ein Stück nach dem andern aus der schönen Einrichtung verkauft. Die schöne goldene Uhr unter dem Glassturz – Gläser – Stühle – Schränke.
Die alten Wirtsleute mußten die Budike wieder selbst übernehmen und sie neu einrichten.
Aber die schönen alten Sachen waren futsch. In alle Winde zerstreut.«
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Erschütterndes erzählt Zille aus einer andern Kneipe aus Alt-Berlin:
»An der Wand hingen verrostete Schlittschuhe. Wer im Winter auf den Hof wollte zur P.P.-Tonne, mußte sich die Dinger anschnallen und über die gefrorene Feuchtigkeit in die verschwiegene Ecke schuddern.
Dabei rannte ick im Dunkeln gegen einen. Der rührte sich aber nich vom Fleck. Und da steck ich 'n Streichholz an – und denke, ich bin im Panoptikum. Da hatte sich nämlich einer aufgehängt – und ich hatte ihn bloß 'n bißchen ins Schaukeln gebracht.«
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Der Gasthof zum Grünen Baum
im Scheunenviertel war natürlich nicht mit dem Gasthof in der Krausenstraße zu vergleichen. Er hatte ganz andere Gäste, die sich einquartierten und einschätzten nach dieser Tabelle:
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Auch, wenn jeden Tag ein anderer Gast im Bett schlief.
Und wer noch weniger Geld hatte, legte sich in ein Bett, das immer monatlich einmal bezogen wurde und in dem also vielleicht schon zehn oder zwanzig andere Gäste geschlafen hatten. –
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Von solchen Kneipen und ihren Gästen entwirft Zille selbst ein anschauliches Bild:
»Im Schatten
Schiefe Häuser, dunkle steile Treppen, winklige Stuben, zum Verkriechen einladend.
Wenige kennen die alten engen Gassen, mitten in der Stadt, das Rauschen der Großstadt flutet abseits vorbei.
Dazwischen ein Häuschen, wie aus einer Kleinstadt geholt, mit spitzem Giebel nach der Straße gestellt. Beschattet von einem alten Nußbaum, dessen Wurzeln sich im Keller und unter dem Straßenpflaster festhalten.
›Kuchenhaus‹ nannten es die Gäste der Gastwirtschaft ›Zum Nußbaum‹.
Wer fand Süßigkeit? Die der Nußbaum festhielt, verkamen in Bitternis, Krankheit und Elend. Leute mit Namen gab es hier.
›Der Major, der Schutzmannskarl, die gnädige Frau, der Fürst ohne Hirn, der polnische Graf, die Veilchengräfin‹ und so viele.
Mädchen, mit kurzgeschnittenen Haaren, aus der Strafanstalt entlassen, schlürfen im wilden Tanz Freiheit und Schnaps.
Bleiche Männer, scheublickend, unterernährt, Schädel und Wangen rasiert, noch Zuchthausluft ausatmend, lassen sich hier wieder ›Herr‹ nennen.
Wer wieder frei, den zog es nach des Nußbaums Schatten. So war's vor Jahren –
So war's noch jetzt. –
›Matrosenkarl‹, ›Bockwurst‹, ›Ede‹, ›der lange Paul‹,›Schnepperchen‹, ›der Löwe des Ostens‹, ›Schmorjule‹, ›Liese mit's Jlasoge‹, ›Elsa mit 'n Doppelarsch‹ – nur andere Namen.
Paula mit den bandagierten Krampfaderbeinen, grauem Kopf, ›aber def Herze is' noch jung!‹ Als sie jung, waren die Hausdiener ihre Freier, nun sind's die Herren Chefs, – ›die Konfektion is' mir treu!‹
Der ›Judenmaxe', der schlanke Juden Jüngling und brutale Zuhälter. ›Jiebt's woll noch een Jewerbe, wo sich der Jude nich rindrängelt!‹ sagt der frühere Damenschneider Milli, jetzt auf den Namen ›Wanda‹ hörend.
Wanda hieß auch die kleine dicke Budikerfrau im ›Hotel de Bückdich‹, acht ausgetretene Stufen führten hinunter. Mutter Wanda hatte immer noch einen kleinen Gratislikör übrig, gegen Würmer und Bauchweh, für schnapsholende Kinder.
›Wat willste Paule?‹ »Für zwee Jroschen Leichenwagen mit Troddeln!‹
Ob Pauls Vater seinen Leichenwagen in dieser Ausstattung später an der Somme auch bekommen hat?«
Z.
*
Über dies Nußbaumhaus, über dies Wahrzeichen Alt-Berlins in dem Winkel an der Ecke der Fischerstraße, das schon Jahrhunderte überdauert hat und nun vom Magistrat vor dem Zusammenbruch durch einen gründlichen Innenausbau gerettet wurde, schrieb Hans von Zwehl zum siebzigsten Geburtstag Zilles:
»Ein toller Gasthof mit einer tollen Geschichte! Ein paar Häuser weiter hat einst Michael Kohlhaas gehaust, der Monomane der Gerechtigkeit, der Dörfer für ein paar Pferde verbrannte, und der vom Scharfrichter mit dem Beil hingerichtet wurde. Heute tropft noch Moder, Pilz und Unrat auf die engen Höfe und die Phantasie der Kinder, die in dem schmalen Durchgang nach der Spreebrücke vor den alten Schweineställen spielen, ist von struwelpetrigem Aberglauben erfüllt. Vor dem Wasser, in der Köllnischen Straße, ist auch eine Herberge für die ›Berber‹, die Bettler, die hier ›Platte‹ schlafen, das heißt auf dem Tisch oder, wenn sie reicher sind, auch im Bett. Die greisenhaft komischen, manchmal auch ganz jungen und überreifen Insassen dieses Herrenhauses der Armut, das Selma Lagerlöf geschrieben haben könnte, sind von unerhörter Naturtreue. Einen von ihnen nennen sie Kasimir, der ist wie der arme Tom im Lear. Ein Irrer, der einen nackten Plattschädel zwischen zwei Haarbüscheln trägt und die gefolterten Augen nach innen dreht, ein Nietzschekopf im letzten Stadium, der ein gehetztes, wissenschaftliches Kauderwelsch hersagt und ständig das Pensum eines in ferner Kindheit dunkelnden Gymnasiums daherplappert: ›pepaideuka, pepaideukas‹, und manchmal sagt er auch mit herrischen Gebärden: ›Accent aigu, accent grave‹. Die Alte dort am Ofen, die auf jeden Fremden mit sehnsüchtig dürstenden Blicken zueilt, ist die Schönste des Hauses: eine verlebte 63jährige Dirne, aber von biegsamer Schlankheit der Glieder und mit den klugen leuchtenden Augen eines gestrandeten Lebens. Die Graue hat dem Meister Zille, wenn er gut gelaunt war und Geld ausgab, um Schnaps zu trinken und Speck und Käse zu holen, oft Modell gesessen. Und es heißt, daß der Meister ihrem Liebsten, der blind wurde, eine größere Summe Geld gegeben hat, um ihn vor dem Elend zu bewahren. Jedenfalls verfügt sie über größere Autorität gegenüber den jüngeren Weibern und ist Gebieterin auch über einen Teil der Männer, die hier auf der Lauer herumsitzen und sich nach einem Spender sehnen. Da ist der Ringnepper und der Spritzapotheker und der Diskant junge im Mufflonfell mit Puderquaste, grünem Kleid und roter Bluse, die Musikantin mit dem fanatischen Ausdruck der Lesbierin, dem intelligenten Gesicht und den gestorbenen Pupillen, dazu die Fahrer in den tschechischen Äppelkähnen, die Hamburger Stüermanns, die Händler mit Knöpfen und Hosenträgern, die Hofsänger und die Fuhrleute, und wenn einer Geld zeigt und es eine Stubenlage gibt, lacht das ganze Milieu.«
H. v. Zwehl fragte einst Zille:
»Und der Nußbaum? Und das Geld für den Blinden?«
110. »Der Nußbaum«. Bierlokal in Berlin C.
»Det Nußbaumhaus,« sprach Zille langsam, »ja, det habe ick bekannt jemacht. Und ick soll eenen Jeld jejeben haben? Davon kann er doch nicht blind geworden sein... Viel Jeld hab ich ja ooch jar nich. Na, ick will Ihnen de Wahrheit sagen: es ist eine jrößere Jesellschaft jewesen, und da haben wir für den Ollen jesamnielt, wenn Se't janz jenau wissen wollen. Aber er war ja blind, und da kann man ja nich wissen, ob er ooch die Nutznießung davon jehabt hat. Er soll ja nachher verhungert sein ...«
Wenn Zille in den Nußbaum kam, wußte bald die ganze Gegend:
»Zille is da!«
Alle Nachbarn rannten hin in Hemdsärmeln und Latschen, wie sie gerade zu Hause rumliefen. Manche redeten ihn als Professor an. Einige fragten auch, ob er auch genug dafür bekomme, wenn er nu in der Akademie sei.
Zille sieht vergnügt über seine Brille weg – er weiß schon, die Nachbarn spekulieren auf ein paar Lagen – ablehnend sagt er:
»Nee – det kostet nischt und et jibt nischt – basta!«
*
Aber es gibt auch andere Zillekneipen. Auch in das muffige Gebiet der »Roten Laterne« hat Zille hineingeleuchtet. Am erschütterndsten in dem Bild, wo Kinder vor solcher »Roten Laterne« stehen und zur Mutter sagen:
»Mutter, ick seh Vätern sitzen bei der roten Hexe! Du mußt ihr mal wieder ordentlich mit den Besenstiel zudecken!«
*
Auch die Geschäftsgeheimnisse der sogenannten Kabaretts, dieser ehemals Tingeltangel genannten Singspielhallen, die jetzt fast ganz von den Kinotheatern verdrängt sind, enthüllte Zille. Die Sängerinnen, die sich wohl andere Beziehungen zur Kunst vorgestellt hatten, mußten mit den Gästen »auf Prozente« trinken, d. h.: sie bekamen fast gar keine oder nur eine ganz geringe Gage. Von den Getränken, die an dem Tisch verzehrt wurden, an dem die Sängerinnen sich zu den männlichen Gästen setzten, erhielten sie ihre Prozente. Also: recht viel spendieren lassen! Recht viel trinken! Je größer die Zeche, je mehr Prozente ...
In den kleinen Nebenzimmern solcher Kabaretts bekamen diese meist ihren Eltern entlaufenen Sängerinnen von den alten, angetrunkenen Weinonkeln weinerlich zu hören:
111. Die rote Laterne.
»Mutter, ick seh Vatern sitzen bei die rote Hexe! Du mußt ihr mal wieder ordentlich mit den Besenstiel zudecken!«
»Zwee Jahre such ick meine Tochter. Sie is ooch uff de Bühne jejangen, dabei hab ick mir det Saufen anjewöhnt!«
*
Von einer Wanderung durch diese Kabaretts berichtete mir Zille:
»Eine Sängerin schrieb einmal an mich. Das heißt, eine, die aus der Provinz gekommen war und die nun hier studierte. Sie möchte doch einmal sehen, wie es in den Kabaretts und in den Singspielhallen zugeht. Sie wollte zu mir kommen oder wir könnten uns auch woanders treffen.
Wir trafen uns denn auch in einem feinen Weinlokal. Sie war ein hübsches Mädchen – und stellte mir ihren Bräutigam vor. Einen Lederhändler, einen jüdischen Mann, der es aber ehrlich mit ihr zu meinen schien. Reich schien er ja zu sein. Wahrscheinlich bezahlte er auch die Pension für sie – im bayrischen Viertel. Aber na – er hat sie wohl geheiratet ...
Sie war ja nun sehr glücklich, daß ich gekommen war und sie durch die Tingeltangel führen wollte. Und er betrug sich auch sehr bescheiden und durchaus gebildet.
Und dann gingen wir nach'm Oranienburger Tor zum Café Boulevard – wo gleich vorne rechts die ›Fleischbank‹ war – wo die Sängerinnen in ihren ballettartigen, bunten Kostümen oder in losen, hemdartigen Hängern Schau saßen.
Das Fräulein guckte. Und sah sich scheu um unter den Herren, die auf die Bühne starrten.
Dann gingen wir in das Elsässer Schloß an der Novalisstraße, wo die Bühne in der Ecke bei den Schaufenstern eingebaut war – wo die Mädchen schon seit Jahren den ›Wa–alzertraum‹ sangen – und ›Ich laß mich nicht verführen!‹ Von da aus führte ich sie noch zu Haberland in der Münzstraße – wo's in dem niedrigen langen Ladenraum ganz voll war von jungen Pärchen und alten Herren – und wo man vor Tabakrauch die Komiker und die Soubretten nur wie durch 'n Schleier sah.
112. »Mensch, ick sage dir – wenn meine Liese merkt, det 'n Auto vorfahren will, denn fährt se quer vor den Stinkwagen!«
Und zum Schluß ging ich mit der jungen Sängerin und ihrem Bräutigam noch nach der Parochialritze, nach der kleinen Destille in der Parochialstraße. Das hübsche Mädchen war schon ein bißchen ernüchtert. Und nun nach dem Anfang in der schönen Weinkneipe der Schluß in der Parochialritze!
Ich fragte nach der Frieda. Die war auch mal Sängerin gewesen. Jetzt tippelte sie für den langen Paul – immer auf dem Strich ... singen konnte sie ja schon lange nicht mehr. Sie war aber nicht da. Sie war in ihrer Wohnung im Jüdenhof.
Ich ließ sie nun holen. Als sie hörte, ich sei da, kam sie auch. Und hatte sich extra fein gemacht. Einen Straußfederhut auf. Ja, und 'ne seidene Bluse.
Na, das schöne Fräulein erschrak ja ein wenig, als ich ihr die Frieda als ihre Kollegin vorstellte. Frieda, diese Ruine. Ins Breite – und gedunsen.
Wir saßen damals vergnügt beisammen. Der Bräutigam lud alle ein. Und Frieda ließ sich nicht lange quälen und sang stolz ihr Lieblingslied:
›Hier hab ich so manches liebe Mal
Mit meiner Laute gesessen! –‹
Diese Ruine – mit ihrer gebrochenen, verwüsteten Stimme. Alkohol – und Nachtluft – und Rauch – und der Lebenswandel ...
Mir sträubten sich die Haare – wie Frieda glaubte, sie könne noch singen. Wie sie ihr ganzes Gefühl in die unmöglichen Töne legte. Mir schauderte.
Und die junge Sängerin wurde ganz blaß.
Ich glaube, sie wollte nicht mehr zum Kabarett – zum Tingeltangel.
Die hatte gesehen, wie das Ende ist. –«
Von diesen »Kabaretts« ist es in jeder Beziehung nicht weit bis zu den Kneipen, die zu Anfang als »Parochialritze« geschildert wurden. Die Mädchen, die man erst auf der Bühne gesehen, findet man bald auch in den »Wärmehallen«, wie die Gaststätten der Prostituierten genannt werden. Von Erlebnissen in solchen Lokalen erzählte Zille gelegentlich:
»Kennen Sie Café Filzlaus? An der Ecke Klosterstraße und Parochialstraße? Wissen Sie, woher das seinen Namen hatte?
Na, die Mädchen, die da verkehrten, veranstalteten zum Zeitvertreib Wettrennen mit Filzläusen. Sie brachten jede ein paar Tierchen mit in Streichholzschachteln und schütteten die aus auf den Tisch – welche nun am raschesten über den Tisch lief ...
Die Tiere waren schon ganz schlapp – hatten bloß 'n kleinen roten Faden durch den Leib – sonst waren sie ganz durchsichtig – bloß Haut.
Na, die Mächens hatten ihren Spaß damit.«
*
»Bei Dulli in der Linienstraße gegenüber von der Kleinen Auguststraße habe ich auch allerlei erlebt. Namentlich in der ersten Zeit, als ich ›Volk‹ zeichnete. Ich hatte keine Ahnung, daß da nur Immertreu-Leute verkehrten – aber als ich eintrat, kam es mir doch nicht ganz geheuer vor.
Ich stellte mich also mit dem Rücken gegen den Schanktisch und sah mir die Leute an. Die meisten spielten Karten. Dem einen saß auch sein Mädchen auf dem Schoß. Die andern Mädchen saßen an einem Tisch für sich. Sie schienen sich aufzuwärmen von ihren Pendelgängen. Aber als sie sahen, daß ich sie beobachtete, wurden sie unruhig – und mehrere gingen hinaus.
Schließlich war kein Mädchen mehr drin.
Und die Kerle spielten zwar weiter – aber sie sahen immer zu mir hin – und tuschelten miteinander.
Plötzlich schrie die Wirtstochter, die hinter dem Schanktisch stand, mir von hinten in die Ohren:
›Wat wollen Sie? – Machen Sie, dat Se rauskommen!‹
Ich sagte mir: Ruhigbleiben ist die Hauptsache. Leise antwortete ich:
›Erst trink ich mein Bier aus!‹ ›Wer sind Sie?‹ schrie das Mädchen mir in die Ohren. ›Sie treiben mir alle Gäste raus!‹
Na, ich trank den Rest – und ging langsam nach der Tür – immer die Augen auf die Männer, die ihre Karten hingelegt hatten. Einer stand schon auf – da hatte ich aber schon die Tür – die Stufen runter – rechts und links standen ganze Reihen von Mädchen und Kindern – die warteten, daß ich rausfliegen sollte.
Nu kam ich aber ganz ruhig – ging bis auf den Fahrdamm – ging ruhig in der Mitte weiter – immer die Ohren nach hinten – ob sich keiner anschleicht.
Es ging dann ruhig ab.
Aber wenn ich nicht die Augen auf die Kerle gerichtet hätte – dann wäre ich sicher rausgeflogen – vielleicht auch mit 'n Messerstich im Rücken –.
Ein andermal, als ich in einer andern Kneipe wieder sowas erlebte, sagte ich:
›Nu – nu lassen Se mir mal noch einen Augenblick!‹ Und dann stopfte ich mir die Pfeife – und es blieb ruhig ...
Später war ich ja ganz gut Freund mit den Herren. Sie luden mich sogar ein zu ihren Landpartien nach dem Grunewald. Dreißig Kremser. Ein paar sogar mit Musik. Trinken und Essen die Hülle und Fülle. Alles beste Qualität. Echtes Bier in Fässern – französischen Kognak – Würste und Schinken von Hefter. Damals, als wir andern bloß Brot und Rübenmarmelade hatten ...
Nachher waren sie mir nochmal böse – wegen der ›Hochzeit‹ in meinem einen Buch – wo ich sagte, ich ginge lieber 'ne Stunde vor Festschluß, weil ich doch nicht wollte, daß mir inzwischen einer von den Gästen Besuch macht.
›Haben Sie denn wat, dat sich lohnt?‹ fragte mich daraufhin einer von den Brüdern.
›Nee, eben nich!‹ antwortete ich: ›Aber ihr hättet euch schließlich darüber geärgert und hättet mir meine paar Klamotten zertrümmert!‹
113. In der Kaschemme. Der Wirt: »Polente kommt, singt een frommet Lied!« Alle: »Heil dir im Siegerkranz –«
Na – da lachten sie denn – und jetzt sind wir alle mit Humor wieder gute Freunde.«
*
Aber nicht immer geschieht was in solchen Lokalen. Wer nicht mit den richtigen Augen und Ohren hinkommt, merkt jedenfalls nichts. Zille erzählte:
»Da ging ich auch mal im Osten bummeln mit Doktor – na, der Name tut ja nichts. Es war eben ein Doktor. Er schreibt sonst ganz gut. Ganz lebendig und aus dem Leben raus – wenigstens soweit es seine Kreise trifft. Aber der sah nischt, als ich ihn da im Osten führte – am Schlesischen Bahnhof – Koppenstraße und so.
Da waren wir auch in dem ... Keller. Da saß der Weber-Emil. Fünf Jahre Z. Der Matrosen-Karl – acht Jahre Z. wegen Notzucht und solch schöner Sachen. Der Antennen-August – solch langer Latsch. Und denn die Damen! Die Stubenmuttern, Klettermarie und wer alles da war. Radieschen war auch dazwischen. Sie ging jetzt nicht mehr selber. Sie schickte jetzt selbst Mädchen auf'n Talon, aufs laufende Band ... Auf Bänken und auf Bretterstühlen. Bei einer Gasflamme in der Mitte. Da konnte man doch was studieren.
Da brauchte man bloß in die Gesichter zu sehn.
Dann erlebte man doch Schicksale ...
Aber Dokterchen fragte:
›Wann kommt denn nu der Mord?‹
›Den gibt's nicht auf Bestellung!‹ sagte ich ihm. ›Monate vergehen, ehe sowas geschieht. – Und Ihnen wird überhaupt nichts geschehen. Den ›Sehern‹ geschieht selten was, wenn sie sich anständig betragen. Bloß nicht aufdringlich sein oder von oben herab ...‹
Aber der Doktor sah nichts. Dem war das mächtig langweilig.
Und dabei ringsherum: Nichts als Erlebnisse. –«
*
Wer eben nur in diese Kneipen geht, um Kuriosa zu suchen, dem kann es gehen wie der »feinen Gesellschaft«, die in Ballkleid und Frackanzug vom Hoteltanz kommen und in der Kaschemme beim Anblick der schwebenden Paare ausrufen:
»Hier tanzen sie ja anständiger als bei uns!«
114. Heinrich-Zille-Klause.
Fahrgast: »So, Herr Vorsitzender, da sind wir ja, schön Dank, das Lokal haben Sie ja schnell gefunden!« Kutscher: »Det wär jelacht! – Die Heinrich-Zille-Klause, W 8, Charlottenstraße 46, kennt jeder Kutscher und Schofför!«
In den letzten Jahren ist dann noch eine Zillekneipe aufgemacht worden, die mehr einen Zillekult treibt. In manchen Lokalen – Kaffeehäusern und Bierhallen – sind Zillebilder als Dekoration an die Wand gemalt worden. Im bayrischen Viertel so gut wie in Neukölln und am Wedding wie in Moabit sowie in der Gegend am Alexanderplatz. Besonders zu Bockbierfesten werden Zilleszenen und Zillewitze gern vergrößert an die Wände gemalt und von einem Pseudo-Zille erklärt.
Aber in dieser Zillekneipe, in der Zilleklause in enger Nebenstraße von Unter den Linden, hängt fast alles Wichtige, was Zille in Zeitschriften und sonst im Druck veröffentlicht hat, in guten, von ihm handkolorierten Abzügen, säuberlich gerahmt an den Wänden einer gemütlichen Hinterstube. Sogar einige Originale sind da – und auch mehrere sonst unbekannte Stücke. Und allerlei Zeichnungen und Photos, die Zille in verschiedenster Stellung, im Arbeitszimmer und bei Ausflügen wiedergeben.
Das alles wird betreut von einer Stammtischrunde, zu der zwar nicht jene Zillegestalten gehören, die aber doch auch ihre besonderen Beziehungen zu seinem Wesen hat. Zille hat ja früher immer einen guten Durst gehabt. Je kräftiger der Trunk, je lieber. Und diese Stammtischrunde nennt sich
Ki–wa–ko–sta.
Das heißt: Kirschwasser–Wachholder–Kognak–Stammtisch.
Das Alkoholische der Zillekneipen ist da. Die Stammtischbrüder haben neben dem Alkoholischen aber Zilles Kunst und Art so gepflegt, daß er auch jetzt noch – Antialkoholiker – gern an sie denkt und von dieser Zilleklause sagt:
»Sie ist wie eine grüne, blühende Insel im grauen Meer der Großstadt.«
Sie ist aber vor allem wie ein Zillemuseum. Wer möglichst viele Zillebilder kennenlernen will, findet sie dort am besten beisammen – und auch alle Abbildungen von den Zillekneipen. Die Originalkneipen kann ja nicht jeder aufsuchen. Sie bestehen auch nicht mehr alle. Aber in der Zilleklause findet man sie alle beisammen – an der Wand.