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Zille-Kinder.

Die Kinder hat Zille mit besonderer Liebe ins Herz geschlossen. Seine eigenen Kinder haben ihm zu allen Zeiten zu Studien gedient, auch als er noch nicht der seihständige Künstler war. (Siehe Bild Nr. 38 und besonders die Kinderbilder dieses Kapitels und die der Kapitel 1, 2, 3, 4 und 23.) Aber bald dehnte er seine Liebe auf alle Kinder aus. Mit großer Inbrunst widmete er seinen Zeichenstift den Weltstadtkindern, den Kindern der Stadt Berlin.

Die Stadt, die den Erwachsenen eine verschwenderische Fülle von Kulturgütern und Bildungsmöglichkeiten bietet, in deren Mauern Kunst, Politik, Theater, Wissenschaft und noch viele andere Gebiete des modernen Lebens täglich so viele Genüsse bereit halten, daß ein einzelner nur einen Bruchteil genießen und bewältigen kann – diese Stadt ist oft hart und geizig, lieblos und unmütterlich gegen die jungen menschlichen Geschöpfe, die ihr anvertraut werden. Was für eine traurige Kindheit verleben die Massen der Großstadtkinder! (Siehe auch Bilder aus andern Kapiteln, z. B. Nr. 22, 40, 98, 103, 111 u. a.) Kaum kann man es noch eine Kindheit nennen. Die Wagen und Klingelzeichen der elektrischen Straßenbahnen und das Töfftöff der Autos spielen eine größere Rolle in ihrem Leben und in ihrer Phantasie als etwa das Leben unserer Haustiere. Von dem Pflegen und Gedeihen der Blumen und vom Beackern der Scholle, vom Säen und Ernten wissen sie nichts aus eigener Anschauung. Und was nicht aus eigener Anschauung oder in voller Tätigkeit erworben ist, das ist ein tönernes Wissen, dem fehlt der Inhalt.

 

123. Die drei Kinder von Heinrich Zille – angetreten zum Modellstehen.
Studie aus dem Jahre 1894.

Nach dem Original zum 1. Mal veröffentlicht.

 

Doch daran wird wenig zu ändern sein. Die großen wirtschaftlichen Umwälzungen und Umbildungen, die unser Volk durchzumachen hat, bringen aber schwere Schäden mit sich. Die Bevölkerung ist nun einmal von dem Zug in die Industrie und in die Großstadt ergriffen worden. Sie befindet sich im Stadium einer Völkerwanderung, wie sie die Menschheit noch in keiner Epoche erlebt hat. Sie löst sich los von ihrer alten Scholle und schafft sich eine ganz und gar neue Heimat in den Großstädten. So müssen denn die Familien auch sehen, wie sie ihre Kinder in den Lebensverhältnissen der neuen Heimat großziehen. Am schlimmsten und erbarmungswürdigsten geht es nun natürlich den Kindern der größten Großstadt von Deutschland, den Kindern in Berlin – dieser Stadt, die mit ihren Vororten zusammen ungefähr vier Millionen Menschen beherbergt. Manche der Vororte haben ja noch einen nicht zu weltstädtischen Charakter, sie bieten also den Kindern wenigstens Luft, Sonne, Erde und Grün. Aber gerade die kopfreichsten größten Vorstädte wie Schöneberg, Neukölln, Lichtenberg, Charlottenburg und Wilmersdorf sind schon so verwachsen mit Berlin, so berlinisch geworden, daß ihre Kinder nicht anders aufwachsen wie Weltstadtkinder.

Und wie ist das nun?

Da sah ich neulich von der Hochbahn aus auf einem richtigen Berliner Hof einen kleinen Jungen stehen. Einen Jungen, dessen Geschwister wohl zur Schule gegangen waren und der nun auf sich allein angewiesen war. Er stand da, die eine Hand an der blauen Schürze, die andere verlegen am Mund. Hilflos sah er sich um auf dem asphaltierten Hofe. Nichts als grauer Stein ... so ganz abgeschlossen von der lebendigen Erde, mit der er hätte spielen können ... Was hatte er davon, daß er die Hochbahn und die Elektrische, die vielen Autos und die Omnibusse sehen konnte? Am Ende stand er doch da, wie wenn er gefangen wäre ...

Dieser traurige Junge auf dem asphaltierten, engen, luft- und sonnenlosen Hofe ist das Sinnbild des Lebens der Weltstadtkinder. Ihnen fehlt der frische Sauerstoff, der aus den lebenden Pflanzen und aus der Erde aufsteigt. Ihnen fehlt die Sonne, die nicht in die hochummauerten schachtartigen Höfe hinein kann und die selbst in die Straßen nur kurze Zeit ihre Wärme hinabschickt über die hohen Häuserreihen.

 

124. Kräh-Kräh!
Zilles Tochter Gretl im Winter 1886 im Garten zu Kietz-Bummelsburg, dem östlichen Vorort von Berlin.

Nach dem Original, das noch die Art der Hosemann-Zeit, aber schon eine kräftigere Hand zeigt, zum 1. Mal veröffentlicht.

 

 

125. »Ick habe zu ville Bonbons jefressen!«

Nach einer Studie zum 1. Mal veröffentlicht.

 

 

126. Die Pulle schmeckt!

Nach einem Studienblatt.

 

Am schlimmsten sind jene Kinder dran, deren Eltern erwerbsunfähig sind, oder die als Heimarbeiter sich ein kärgliches Brot verdienen. Allein in der Konfektion sind mehr als hunderttausend Heimarbeiter in Berlin beschäftigt; dazu kommen noch viele Tabaksarbeiter, Portefeuillemacher, Schuhmacher, Plätterinnen und allerlei andere Heimarbeiter. Die leben fast alle in kleinen Wohnungen von einem Zimmer und Küche, von denen sie oft das Wohnzimmer an Schlafburschen vermietet haben. Nun hausen sie mit ihren Kindern in einem engen Raum, wo geschlafen, gekocht, gearbeitet und gegessen wird; das ganze Familienleben spielt sich in diesem engen, von Ausdünstungen aller Art geschwängerten Gemach ab.

Da ist eine typische Familie: Vater, Mutter und fünf Kinder. Der Vater ist lungenkrank und liegt fast den ganzen Tag hustend auf dem Sofa oder in einem alten zerschlitzten Lehnstuhl. Die Mutter tritt am Fenster von früh bis spät die Nähmaschine. Die Kinder – nun, vormittags sind sie in der Schule, nachmittags aber lungern sie auf dem winkligen, dumpfen Hof oder im Hausflur herum. Oft müssen sie auch schon helfen, Fäden ausziehen, Nähte trennen – alles in dem engen Raum, dessen Luft verbraucht und verdorben ist.

Zu all diesem äußeren Elend kommen noch die Eindrücke der weltstädtischen Umgebung. Weltstädtische Umgebung! Welch ein Hohn!

Gerade nüchterne Straßen. Eine wie die andere. Selten unterbrochen von einem kleinen Schmuckplatz oder einer breiteren Straße, deren Bäume ebenso am Sauerstoffhunger leiden wie die Weltstadtkinder. Und die Bewohner dieser Straßen? Außer den kleinen Geschäftsinhabern fast alle Lebensgenossen jener Familie. Auf gleichem Flur mit ihr wohnt ein ehemaliger Bauarbeiter, der jetzt den ganzen Tag mit einer Schnapsbrüderkolonne an der Ecke bei einer Destillation steht, abends betrunken nach Hause kommt und seine Frau und Kinder schlägt. Die Frau ernährt die ganze Familie – sie geht waschen.

 

127. Hofwinkel in einem alten Hause in der Rosenstraße.

Nach der farbigen Originalstudie zum 1. Mal veröffentlicht.

 

Die Kinder aber sind den ganzen Tag sich selbst überlassen. Wenn die Weihnachtszeit naht, ziehen sie nach der Friedrichstraße, nach dem Leipziger Platz und anderen westlichen Laufgegenden und schreien mit kläglicher Stimme: »'n Sechser de laufende Maus!« »Een' Jroschen der Hampelmann!« Mit aufgeweichten Schuhen stehen sie bis in die Nacht auf dem naßkalten Pflaster. (Bild 27, 65, 108 und Kapitel »Zille als Sozialkritiker.«)

Ein anderer Nachbar jener Familie ist die Frau, deren Mieterinnen bis in den Nachmittag hinein schlafen, dann halbangekleidet in der Wohnung herumlaufen, in den Fenstern hegen und abends aufgedonnert auf die nächtliche Straße gehen. Manchmal werden sie wohl auch von Schutzleuten fortgeführt. Und der Hallo, der dann entsteht! Die Redensarten und Schimpfworte! Das ist dann ein Hauptvergnügen für die johlende Kinderschar, die bis zum Polizeibureau hinschwärmt und wartet, bis die »Grüne Minna« – das Polizeiauto – die Häftlinge nach dem Alexanderplatz schafft.

Wahrlich, ein weltstädtischer Eindruck.

Was bleiben den Kindern dieser Arbeiterstraßen noch für Spiele und Unterhaltungen? Blumenpflücken und ein Austummeln auf sonniger Wiese, ein stärkendes Buddeln im Sand lernen sie nie kennen. Also bleibt ihnen nur immer wieder der Hof und die Straße. An der Teppichstange dürfen sie nicht herumklettern. Die Hofsänger, die täglich kommen, plärren die zweideutigen Gassenhauer. Hier und da haben sich auch schon sommerliche Hoffeste eingebürgert. Auf dem Hof werden Kaffeetafeln gedeckt. Der Wirt oder ein Ausschuß spenden Kaffee und Kuchen – und ein Leierkasten dudelt den ganzen Tag seine zwei, drei Tänze. (Bild 28, 129.)

 

128. Mutter mit Kind.

Erste Studie zu dem Selbstmordbild: »Mutter, is ooch nich kalt?« »Hab keene Angst. Die Fische leben immer dadrin«!

Nach einem Studienblatt zum 1. Mal veröffentlicht.

 

Außer allgemein bekannten Bewegungsspielen – Greifzeck, Fuchs aus dem Loch –, die wegen des häufigen Wagenverkehrs aber nur auf dem schmalen Bürgersteig gespielt werden dürfen, bleibt also nur noch jene Art von Spielen wie »Himmel und Hölle«. Wenn die Straße mal umgepflastert wird, wenn neue Gasröhren gelegt werden, feiern diese Kinder wahre Freudenfeste. Die Sandhaufen sind Berge. Und endlich sehen sie die Erde! Aber lange dauert das nicht! Und es wird wie vorher.

Nun bieten ja die Schaufenster alle möglichen Anregungen. Da liegen Waren aus vielen deutschen Orten, aus den Obstdörfern, aus dem westfälischen Industriegebiet, aus dem Erzgebirge und von der Wasserkante, ja, aus allen Erdteilen. Aber haben die Kinder davon tiefere Anregung? Selten, nur ganz selten.

Sie gehen an den Dingen vorbei, nehmen sie mit den Augen auf, aber ins Gemüt und in den Geist gelangt dabei nur wenig. Kirschen sehen sie wohl, wissen auch, wie sie schmecken. Aber wie ein blühender Kirschbaum aussieht, davon wissen sie nichts.

So bleibt denn auch das Gemüt der Kinder meist leer und ungepflegt. Im besten Falle kommen sie zu jener Gewitztheit, die ja in dem Weltstadtleben ganz angebracht ist, die aber doch nur wenig Liebe erweckt. (Bild 19.) Sie wird sehr gut illustriert durch den Witz: Mehrere Kinder einer armen Familie kommen heim zur Mutter und legen der eine gestohlene Gans auf den Tisch:

»Da Mutta – die fühlte sich so einsam – da haben wir se mitgenommen!« (Bild 131.)

 

129. Zirkusspiele auf einem Berliner Hof.

Nach der Originalzeichnung.

 

Zu all diesem kommt noch die immer mehr sich vollziehende Trennung der Klassen. Die Reichen ziehen immer mehr nach gewissen Straßen des Westens und nach bestimmten auserwählten Vororten. Die Wohlhabenden und der gut verdienende Mittelstand drängt sich in den großen Wohnvierteln von W. W. zusammen. So bleiben denn die niederen Klassen in gewissen Vierteln ganz unter sich – wodurch die Einseitigkeit der Kindheitseindrücke immer größer wird. Auch von der Arbeit sehen die Weltstadtkinder nicht jene befruchtende Vielheit, wie Kleinstadt- und Dorfkinder. Für sie existiert nur die geisttötende Heimarbeit. Und wenn sie außerdem auf der Straße noch Eindrücke erhaschen, so sind

 

130. Wedding.
»Weeste Willy, ick jloobe, det Eis schmeckt nach jrüne Seefe!«

Nach der Originalzeichnung. (Aus Urberliner I.)

 

es Luxusreize: das Auto des Großhändlers, die Auslagen der Juweliere und Modegeschäfte, Stiefelhandlungen und Warenhäuser.

Alles das und nicht viel mehr bekommen die Kinder des kleinen Mittelstandes zu sehen, die Kinder der besser gestellten Arbeiter, der Buchdrucker, Mechaniker, der Bureauangestellten und Tausenden von Beamten und der kleinen Geschäftsleute. Auch sie wohnen in diesen Zimmern, in die so selten die hebe Sonne hineinscheint. Ja, die Kinder der Geschäftsleute haben es noch schlechter. Denn bei den Läden befinden sich nur zu oft die engsten und beschränktesten, dumpfigsten Wohnräume. Vor allem aber, was sehen alle diese Gastwirtskinder! Was hören sie! Denn daß der Alkohol die besten Instinkte löst, wird niemand glauben. Und in den

 

131. Am Heiligabend: »Mutta, die hat sich so einsam gefühlt, und da haben wir se mitgenommen!«

Nach der Originalzeichnung. (Aus Urberliner II.)

 

Berliner Destillen wird nicht die zarteste und gemütvollste Sprache gesprochen ... Wenn auch in das Leben der Kinder dieser Schichten, deren Lebenshaltung zwischen der proletarischen und der bürgerlichen steht, manchmal ein Lichtblick fällt – es kommt doch im Effekt beinahe auf das gleiche heraus, wie das der proletarischen Klasse. Schön – sie werden im Sommer ab und zu einmal mitgenommen zu den Kinderfreudenfesten der Biergärten. Aber auch dort kommen sie nur wieder in ein neues großstädtisches Milieu. Diese Gärten sind heute fast ohne Ausnahme eingerahmt von hohen Mietskasernen, die womöglich kalte Brandmauern den Gärten zukehren. Unter den Baumreihen stehen gerade aneinandergereihte Tischreihen – Tisch bei Tisch, Stuhl bei Stuhl.

 

132. Steppke: »Ick weeß schon, wo wir wohnen: Ackerstraße zweehundertundvier, uffn Hof in' Keller!«

Nach einem Original zum 1. Mal veröffentlicht.

 

Nirgends ein Tummelplatz für die Kinder. Nachmittags ist Konzert, abends aber oft Tingeltangel, wo die Kinder geschminkte, halbbekleidete Soubretten krähen und allerlei Zweideutigkeiten hören können. Und Kientöppe gibt's fast in

 

133. »Du Schießbudengesichte! Ick hau dir eens uff de Neese, det dir der Stehkragen platzt!« (Szene vor einem Kintopp in Berlin O.)

Studienblatt. Erste Fassung.

 

jeder Straße. Noch lange nicht ist das Repertoire dieser Bühnen für die Kinder berechnet. Aber gerade das lockt sie. Und dann die Rummelplätze, meist leere Baustellen zwischen kahlen Hintermauern! Karussell, Schieß- und Würfelbuden, Zelte für Ringer und »Schöne Geheimnisse«. Zille hat ein Bild von solchem Platz humorvoll unterschrieben:

Schaukel hin und Schaukel her!
Det jefällt die Meechens sehr –
Kriej nur keene Bange!
Jeht dir ooch im Schaukelsaus
Momentan de Puste aus –
Dauert's doch nich lange –

Außer diesen gibt's ja noch Kreise, die mit ihren Kindern es besser meinen und Sonntags oft Ausflüge machen. Aber: welcher von den Familienvätern vermag immer die Fahrgelder aufzubringen, die meist eine solche Fahrt ins Freie kostet? Und was nutzt auch solch Sonntagsausflug, wenn die sechs Wochentage auf dem Asphalt der Weltstadt und im Banne ihrer Zustände verbracht werden?

Nun haben ja auch Tausende von Vätern und Müttern ein Stückchen Land in den Laubenkolonien gepachtet. Die Kinder, die dort ihre Freistunden verbringen, sind ja nun ein wenig besser dran. Aber sie leben doch im Bannkreis der »Weltstadtkultur«.

Und auch die »Tiergartenmischung« – wie die Sprößlinge der wohlhabenden Viertel nach einer bekannten Grassorte genannt werden, sind eigentlich bedauernswerte Geschöpfe. Auch sie sind vielfach auf die engbebauten Straßen angewiesen und können nicht den ganzen Tag im Tiergarten spazieren geführt werden. Und sie leiden unter einem Zuviel, wo die Proletarierkinder unter einem Zuwenig leiden; sie werden nur zu oft mit teurem Putz und allerlei Tand behängt, der ihnen alles Kindliche nimmt. Wieviel vier- und sechsjährige sieht man mit Sonnenschirm und Handschuhen und in einer Kleidung, in der sie aussehen wie eine Miniaturausgabe der lächerlichsten, oberflächlichsten, aber so oft verhimmelten Modedamen!

Sie – denen die Sonne doch so gut tut – müssen sich mit einem Schirm schleppen.

Arme reiche Weltstadtkinder! ...

 

134. Eine Reihe Zille-Göhren.

»Hinaus in die Ferne, for'n Sechser fetten Speck,
den eß ick jar zu jerne, den nimmt mir keener weg,
un wer det tut, den hau'n wir uff n Hut,
den hau'n wir uff die Mütze bis die Nase blut!«

Berliner Kindervers.

Nach der Originalzeichnung.

 

Die Scherze, mit denen Zille seine Kinderbilder würzte, bestätigen, was ich oben sagte. (Siehe Bild 93.) Dazu seien hier eine Anzahl angeführt:

Das kalte Frühstück.

»Heute jibt's keen Kaffee! Vater is in Tegel un Mutter is nach de Entbindungsanstalt jebracht!«

*

»Mutta, draußen haun sich'n paa Besoffne, aba Vata is nich mang – –!«

*

Zweites Quergebäude, Hof, im Keller.

»Armer Vogel, kriegst keene Sonne uff unsen dustern Hof! un wenn mir ooch Vata uff'n Abend verhaut – ick laß dir raus – flieg ins Vogelland.«

*

»Ick jeh so jerne ›Unter de Linden‹ – bei uns zu Hause riecht's so nach arme Leite.«

*

Besuch vom Lande.

»Sehste Jroßvater, da staunste, hier trauste dir nich über'n Damm!«

*

»Vata jeht stehl'n – ick soll beten –«

*

Berlin N, Gerichtsstraße.

»Erwin, machs Fenster zu, meine Arbeit wird rußig!« –

»Ach Mutta, det riecht heite wieder mächtig fein nach den fettigen Rooch von's Krematorium.«

*

»Mutta, sieh mal, Kremtorte!«
»Wie haste denn die jemacht?«
»Mit Spucke, Mutta!«

 

135. Jüdisches Kind aus dem Seheunenviertel.

Nach einem Original zum 1. Mal veröffentlicht.

 

»Wenn ick will, kann ick Blut in den Schnee spucken!« (Bild 175.)

*

»Mutta, een Schmetterling!«

ruft ein »Hof«-Kind erstaunt, wenn endlich einmal solch kleines Tier sich zeigt und »Hof«-Sommer bringt.

In solcher Umgebung kommt denn auch wenig kindlich Gemütvolles zum Ausdruck. Die sittlichen Zustände sind schon viel zu kompliziert und brüchig, wie das Zilles Unterschriften beweisen:

»Vater wird sich frein, wenn er aus't Zuchthaus kommt, det wir so ville sind.«

*

»Herr Schutzmann, der Mann hat mir eben anjesprochen!« sagt ein kleines Kind zu einem Jungen im Spiel: das Echo einer bedenklichen Straßenszene!

*

Ja, die Spiele werden manchmal noch deutlicher:

»Jetzt spiel'n wir Friedrichstraße. Ihr müßt schrein ›Die Sitte kommt‹ und dann faß ick eich!«

Die Kinderwelt spiegelt eben oft die Welt der Großen.

*

Von Weihnachtsgeschenken wissen diese Kinder zu erzählen:

»Det machen se alles in die Zuchtheiser; Vater hat ooch mal geholfen, und denn quatschen se wat von Weihnachtsmann.«

Und ein Schulkind muß als Zeugin aussagen:

»So wat trau ick mir laut jar nich zu sagen.«

Sie weiß also schon ganz gut, was los ist –. (Siehe Bilder »Die Jugendlichen«.)

*

Im Freibad hört man nur zu oft das Badegespräch:

»Sag et doch deine Mutta!« –

»Hast ja gar keene! Bist ja der Fehltritt von deine Tante!«

Schließlich kommt es unter diesen Kindern sogar zur Rekordbelehrung: »Deine Mutta is schon zwee Jahre verheirat, und ihr seid drei Jöhren, aba meine Mutta is erst drei Jahre verheirat, und wir sind schon sechse un wat die bucklige Lehmann is, die ihre zähl'n nich, die is noch Freilein.«

*

 

136. Fritzchen schläft.

Nach der Originalzeichnung zum 1. Mal veröffentlicht.

 

Und da die Kinder auch »mit der Zeit leben«, fragen sie:

»Sie, Zeitungsonkel, is noch keen neuer Mord?«

Daß sie auch nicht allzuviel Schamgefühl zeigen können bei dem, was sie alles sehen, begründet Zille mit einem Bild, auf dem er ein Mädchen zeigt, wie es vor einem Kreis von Zuschauern sein Bedürfnis erledigt: Eine der Frauen, die mit ihren Kindern herumsitzen, sagt entrüstet:

»Det se jrade mittags ihre vier Buchstab'n muß zeigen – det soll woll uff uns jehn – so 'ne Jöhre – na dreckig is se jenug, det se sich mal kann in die Spree häng'n« –

»Na, ihre Schwester jestern war noch ville dreckiger!«

»Nu wenn schon, aber die is ja ooch ville älter!«

 

137. Fritzchen schläft.

Aus dem Ulk.

 

Beim Spiel äußert sich immer wieder das, was die Kinder hören: »Den ick erwische, muß mir heiraten. Vata is ooch so rinjeschliddert!«

*

Sie tun auch manchmal harmlos, zum Beispiel auf der Eisbahn, wo der Kontrolleur sie anhält:

»Ne, Freilein, forn Sechser kannste bei mir nich loofen, der Schport kost' immer noch'n Jroschen!«

»Na, ick habe man aber bloß een Schlittschuh.«

*

Diese Worte sind zugleich ein charakteristisches Echo aus Berlin N und O: man hat dort oft »nur einen Schlittschuh«.

Daß die Kinder so helle werden, ist auch begründet durch die Ansprüche, die von den Eltern an sie gestellt werden, wie das Zille in einem Bildchen ausdrückte:

»Wat –? Janze 30 Fennige von Weihnachtsmarkt? Ihr kommt mir immer mehr wie so'n Weihnachtsjeschenk von de Armen-Kommission vor!«

 

138. Großvaterpflicht.

Nach einer Originalzeichnung zum 1. Mal veröffentlicht.

 

Das macht sie natürlich aufgeweckt. Und mit einer frühreifen Selbstironie antworten sie, wenn sie gefragt werden:

»... und in welche Klasse geht ihr Kleinen?« –

»Bei die Jummipuppen!« –

»Gummipuppen?«

 

139. 'ne Gummipuppe.
Die rhachitischen Kinder nennt man wegen ihrer krummen Beine Gummipuppen.

Nach der Originalstudie zum 1. Mal veröffentlicht.

 

»Na ja, in de letzte Klasse, wo se noch die krummen Beine hab'n!«

*

Das veranlaßt dann manch unglückliches mißratenes Wesen zu äußern:

 

140. »Siehste, wat schmeißte die Pulle hin! Nu wird uns Mutta feste verdreschen!«

Nach einem Studienblatt zum 1. Mal veröffentlicht.

 

»Wenn ick jewußt hätte wie ick aussehe, dann hätt' ick mir nich' lassen uff die Welt komm'!«

*

Aber nicht alle nehmen einen Naturfehler tragisch, sondern meinen:

»Weeßte Juste, wegen det bißken dicken Nabel brauchste mit Wanda'n ooch nich jleich zum Doktor loofen, det sin merschtentels versetzte Pupers.«

»Na immer! Det Pflaster hat ihn fein rinjebracht. Soll se sich vielleicht, wenn se jrößer is, von ihr'n Bräutijam veräppeln lassen?«

 

141. »Halt dir feste, sonst kommen wir zu spät!«

Nach dem Original zum 1. Mal veröffentlicht.

 

Auf solchem Boden wachsen auch die »Hausmütterchen«, die zu ihren kleinen Geschwistern sagen:

»Wat? – ne Stulle willste? – ne Backpfeife kannste krieg'n – – und dann hopps ins Bette!«

 

142. Frühlingsspiel.

Nach dem bunten Original, etwa aus 1890, zum 1. Mal veröffentlicht.

 

Verweichlicht werden die Kinder nicht, sie werden abhärtend angeschrien:

»Schport treiben und heulen? Det is nischt vor unsen Fritze Ebert, wenn er dir Sonntags ins Stadion zukiekt!«

»Aba Mutta! Ooch – jrade – in – de Schnauze!«

*

Und so kommt zwischen ihnen und ihren Eltern oft eine freundschaftliche, neckende Art zustande, die sich in solchen Scherzen äußert:

»Heite hat's aba bei uns in de Klasse jeknallt, Vata! Uns'en Freilein is een Darm jeplatzt – weeßte – der dicke Brummer – uff die Jeije!«

*

»Mutter, weeßte wie man keene Flöhe kriegt?«

»Na, wie denn?«

»Man muß daneben jreifen!«

*

Die Kinder haben auch genug Selbstbewußtsein, um nicht unglücklich zu sein, wenn sie gefragt werden:

»Biste ooch ›von‹?«

»Jawoll – Mutter weeß bloß nich von wem!«

*

Zeitig meldet sich natürlich weibliche Koketterie:

»Großmutter, wie mein Kostüm sitzt. – Ob ick den Schönheitspreis kriege?«

*

Wer aber zu stolz in die Ferienkolonie zieht, bekommt von den Zurückbleibenden zu hören:

»Paß ooch uff, det eich nich die Lause seekrank wer'n!«

*

Wie weit diese Kinder von der Natur entfernt sind, ironisiert Zille in dem bekannten Scherz:

»Vater? Haben Brombeer'n Beene?« –

 

143. »Och – so viel Schokolade!«
Kinder vor einem Schaufenster, in dem nach dem Kriege zum ersten Male wieder Schokolade auslag.

Nach dem Original zum 1. Mal veröffentlicht.

 

»Nee! –«

»Na, dann hat Frieda eben zwee Mistkäfer jefressen!«

*

Trotzdem bleiben diese Zillekinder wie etwas besonders Liebes in unserm Gefühl und in unserm Gedächtnis. Sie wirken nicht bitter. Sie machen uns aufmerksam auf die Jugend um uns herum, bringen sie unserm Herzen näher.

Diese Kinder sind ja auch nicht verhungert. Einige sind vielleicht ein wenig rhachitisch. Aber Zille konnte doch nicht anders als durch seinen Stift zu melden und zu beweisen, daß Berlin seine Kinder nicht hungern läßt. Seine Kinder sind alle schön rund und derb. Und wenn sie auch unter den Großstadtschäden leiden: sie haben ihren Humor, springen vergnügt ins Leben hinein und werden schon wissen, das Leben besser einzurichten.

Und da jetzt viel Luft und Licht für die Kinder in den Großstädten geschaffen wird, dürfen wir hoffen, daß sie es von Jahr zu Jahr besser haben, die Zillekinder ... .


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