Ernst von Wildenbruch
Schwester-Seele
Ernst von Wildenbruch

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Sechzehntes Kapitel

So lange wie heut abend hatte die Lampe selten in Freda Nöhrings Zimmer gebrannt. Den ganzen Tag über hatte sie vergessen, was sie da mittags in die Tasche gesteckt hatte; gegen Abend erst, als sie das Kleid ablegte und sich in den bequemen, weichen Hausrock hüllte, war das Papier aus der Tasche des Kleides herausgefallen. Also nahm sie es mit hinunter.

Nach dem Abendessen, als der Vater sich zurückgezogen, holte sie es wieder hervor.

Man mußte doch einmal zusehen –

Sie war in ihr Zimmer gegangen und hatte sich bei der Lampe niedergesetzt, und als sie wieder aufstand, war es tief in der tiefen Nacht.

So lange hatte sie an den paar Worten gelesen, die auf dem Kuvert standen, und an den paar Zetteln, die darin steckten?

Ja – und als sie nun durch das schweigende Haus zu ihrem Schlafzimmer hinaufging, hatte sie ein – wie sollte sie es nennen – ein fabelhaftes Gefühl.

So war ihr eigentlich im ganzen Leben noch nicht zumute gewesen.

Was war's denn nur? Immerfort, während sie sich entkleidete, kam ihr die Frage; sie vergaß, was sie vorhatte, und versank in ein träumerisches Nachsinnen.

Was war's denn nur? Eine zusammenhängende Dichtung etwa, die sie gefesselt und gespannt und nicht losgelassen hatte?

Nein, Gott bewahre! Sondern nur lauter Andeutungen von Dichtungen, Skizzen, Keime.

Aber was für Keime! Und welche Masse!

In jedem einzelnen fühlte man den kommenden Baum.

Und dieser Reichtum!

Als wenn man über einen unabsehbaren Garten hinblickte, wo es aus allen Beeten quoll und schwoll und sich nicht zu lassen wußte vor treibender Lust – so war es.

Den Kopf in beide Hände gestützt, saß sie auf dem Bettrand. Wie hatte er doch gesagt? »Für den Dichter darf es nur eine Qual geben, Überfülle« – bei Gott, ja – nun verstand sie, was er damit gemeint hatte.

Und der solches besaß und vermochte, das war – dieser Mann?

Merkwürdig, aber – indem sie jetzt seiner gedachte, geschah es zum erstenmal, daß sie vergaß, was für ein kleiner, unscheinbarer Gesell er eigentlich war.

Wenn er jetzt dort vor ihr gestanden hätte – weiß Gott, sie wäre imstande gewesen, seinen Kopf zwischen ihre Hände zu nehmen, so wie es der Papa mit ihm machte, und ihm in die Augen zu sehen – »wer bist du denn eigentlich, du Mensch, du?« und ihn – liebzuhaben wohl gar? Ja wirklich, sie hatte solch ein Gefühl in diesem Augenblick, so unbegreiflich es ihr eigentlich erschien; küssen hatte sie ihn können, wahrhaftig, auf den Mund küssen, der so an wundersamen Erzählungen reich war.

Denn das war das Merkwürdige an der Sache; alle diese Andeutungen und Skizzen waren die Keime zu Erzählungen, zu Novellen und Romanen.

Er hatte ja gesagt, daß er seine großen Entwürfe nicht aufschriebe. Seine Dramen waren ihm demnach die Hauptsache und dieses alles nur so ein Nebenbei. In ihre Gedanken verloren, lächelte Freda Nöhring vor sich hin.

»Du Kindskopf!«

Es war nämlich eigentümlich; das, was ihm nebensächlich erschien, war für sie eine Hauptsache. Diese Stücke Leben, die er da vor sie hingebrockt hatte, verstand sie eigentlich viel besser als die Schauspiele in Versen, die sie von ihm kennengelernt hatte. Ja, sie gefielen ihr so, daß ihr zumute war, als wäre ihr eine ganz neue Welt aufgetan worden, und alles Wohlgefühl, das den Menschen bei solcher Gelegenheit erfüllt, sie empfand es in diesem Augenblick.

Sie konnte gar nicht einschlafen; die Gedanken hielten sie wach. Aber es waren keine schlimmen Gedanken. Ihr war so ganz eigentümlich zu Sinn, so, als wenn sie in ihre Decken hineinkichern sollte.

Und jetzt fiel ihr ein, was er gesagt hatte, als er ihr das Kuvert anbot: daß es reizend wäre, wenn sie sich hinsetzte und die Skizzen, die er da hingeworfen hatte, ausführte; und wie hübsch er sich das gedacht hätte, mit einer klugen, geliebten Frau zusammen zu arbeiten.

Mit beiden Armen fuhr sie aus dem Bette in die Luft, gerade als wenn sie jemand umhalsen und umarmen wollte.

Wen denn nur?

Ihn? Aus Dankbarkeit, weil er sie teilnehmen lassen wollte an dem Leben, das ihn erfüllte, das nun auch ihr Leben werden sollte?

Sie verstand ja ihr eigenes Gefühl in diesem Augenblick nicht, aber etwas Derartiges mußte es wohl sein. Denn es regte und bewegte sich etwas in ihrem Innern, das sie nicht begriff, etwas, wovon sie fühlte, daß es eigentlich immer dagewesen war, aber geschlafen und geschlummert hatte wie die Ahnung von Kräften, die in der Tiefe ihrer Seele ruhten und heute zum erstenmal die Augen auftaten.

Was war denn das?

War es nur die Wonne, die den Menschen überkommt, wenn er neben und mit einem schaffenden Menschen einhergeht und immerfort den Quell des Lebens neben sich sprudeln hört?

War es, daß ihre Ohren zum erstenmal aufgegangen waren und zum erstenmal dieses Sprudeln vernahmen?

Oder war es, daß ihre eigene Seele aufstand und mit tastenden Händen nach der wunderbaren Lust des Schaffens und Gestaltens griff?

Vielleicht etwas von alledem, vielleicht – und mit dem Gefühle eines Kindes, welches weiß, daß morgen Weihnachten sein wird, schlief sie endlich ein.


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