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Der große Abend bei Tante Löckchen rückte heran. Am nächsten Tage, in den Nachmittagsstunden, sollte die Generalprobe sein.
Während des Vormittags hatte Percival sich befleißigt, das Gedicht auswendig zu lernen; Freda war einsilbig und gedankenvoll im Hause hin und her gegangen.
»Soll ich's dir einmal sprechen?« fragte er, nachdem man sich von der Mahlzeit erhoben hatte.
»Willst du's denn heute schon, bei der Probe, sprechen?« fragte sie gleichgültig.
»Das nicht, aber ich möchte es doch auswendig hersagen, auch wenn ich das Papier in den Händen halte. Und dann vielleicht, daß du dies und jenes zu erinnern findest.«
»Also gut – bring' das Gedicht!«
Seit gestern abend, nachdem sie ihn von sich geschoben, hatte Freda den Bogen nicht mehr angerührt.
Percival holte ihn herbei; bald darauf saß sie am Tische im Salon, Percival stand vor ihr und deklamierte den Prolog.
Ein paarmal stockte er, und Freda mußte einhelfen. Es dauerte aber jedesmal merkwürdig lange, bis sie die Stelle im Manuskript gefunden hatte – sie war offenbar nicht recht bei der Sache.
Nachdem er geendigt hatte, nickte sie.
»Ganz gut, recht gut!« Er war einigermaßen überrascht. Hatte er wirklich so gut gesprochen, oder war sie mit den Gedanken anderswo gewesen? Beinahe wollte es so scheinen, denn sobald sie ihr Urteil abgegeben hatte, stand sie auf.
»Wir werden uns fertigmachen müssen; es wird Zeit.«
Arm in Arm durchwandelten sie die Straßen der Stadt, und indem die beiden schlanken Gestalten gleichmäßigen Schrittes nebeneinander hergingen, gewährten sie ein prächtiges Bild.
Jetzt hatten sie die Brücke erreicht, und als sie bis in deren Mitte gelangt waren, kam ihnen vom andern Ende ein einsamer Spaziergänger entgegen.
Plötzlich fühlte Freda, wie der Bruder sie am Arme zog.
»Du – Freda – das ist er!«
Er hatte keinen Namen genannt; sie wußte auch ohnedem, wen er meinte.
Unwillkürlich warf sie den Kopf in die Höhe und riß die Augen auf. Er war noch so weit entfernt, daß sie Zeit behielt, ihn zu mustern.
Sie sah einen kleinen, vierschrötigen Mann, der mit gesenktem Haupte, die Hände auf dem Rücken, eilends fürbaß schritt. Seine Gestalt war in einen dicken Winterüberzieher eingeknöpft, und dadurch bekam sie etwas Plumpes; ein niedriger Filzhut bedeckte den Kopf.
Er war ganz nahe an die Geschwister gekommen; im letzten Augenblick erst richtete er das Gesicht auf und erkannte Percival.
Instinktiv griff er nach dem Hute, dann, als er die Dame an dessen Seite gewahrte, riß er den Hut vom Kopfe und machte eine Verbeugung.
Hatte er vor Freda einen Schreck bekommen? Im Augenblick, als er die Augen zu ihr erhob, hatte es beinahe ausgesehen, als ob er zurückprallte. Dann war er raschen Schrittes weitergegangen und unter den übrigen Fußgängern verschwunden.
Freda und Percival setzten ihren Weg fort, anfangs ohne zu sprechen. Nach einiger Zelt unterbrach jedoch Freda das Schweigen.
»Ist das aber ein garstiger Mensch!«
Das Wort kam laut, hart und gehässig heraus; sie warf es von den Lippen, als steckte der Mensch selbst darin, und als würfe sie ihn fort, beiseite, irgendwohin. Percival lachte kurz auf.
»Der Schönste ist er nicht,« sagte er, »das ist wahr; aber weißt du, was seinerzeit der Kardinal Cajetan zum Papst sagte, als er ihm Luther beschrieb? Habet bestia illa oculos profundos et mirabiles speculationes in capite suo.«
»Was heißt das?« fragte sie rauh, indem sie mit feindseligen Augen vor sich hinblickte.
»Der Kerl hat tiefe Augen«, übersetzte Percival, »und wunderbare Gedanken in seinem Kopfe.«
Freda gab keine Antwort; sie verharrte schweigend, und auch den ganzen Abend während der Generalprobe blieb sie stumm.
Ein Gefühl war in ihr, das ihr Seele und Kehle zusammenschnürte, ein böses, widerwärtiges Gefühl.
Als sie das Gedicht gelesen hatte, war ihr gewesen, als richtete sich hinter demselben etwas Majestätisches auf, und in Ehrfurcht war sie davor niedergesunken.
Dann, als sie erfuhr, daß nicht ihr Bruder der Verfasser war, sondern ein andrer, ein Fremder, hatte sie sich in Empörung, Stolz und Wut aufgesträubt – vor diesem andern, diesem Fremden hatte ihre Seele auf den Knien gelegen, ihm hatte sie demütigen Tribut gebracht! Und dieser andre war ja der Vernichter ihres Bruders, sein Totschläger, sein Mörder! Sie verwünschte, haßte und haßte ihn! Um Kopfeslänge – das fühlte sie ja nur zu genau – überragte er ihren Bruder, das ganze Gedicht war ja wie die zuckende Handbewegung eines Riesen, vor welcher der arme Percival wie ein Zwerg in den Staub sank! Mochte Percival darüber lachen können, daß es so war, sie konnte es nicht. Ihr war, als sähe sie ihn daliegen, an der Erde, im Staube, gebrochen und besiegt – das Leid, das er gar nicht zu empfinden schien, wühlte wie Gift und Tod in ihrer Seele. Und wenn es nun einmal nicht zu ändern war, daß dieser andre auf der Welt war, dann mußte es wenigstens wirklich ein Riese sein, wirklich ein majestätischer Mann; nur einem solchen durfte ihr Bruder erliegen; dann war es wenigstens ein großer, ein adliger Untergang! Und nun – jetzt eben – dieser Anblick – dieser Mensch – diese Enttäuschung!
Solch ein kleiner, häßlicher, unbedeutender Kerl – vor dem hatte ihre stolze Seele gekniet? Solch ein Wurzelmann sollte es sein, der ihren Bruder, ihren Heißsporn, ihren schönen, strahlenden Percy, unterkriegte? Nein, nein, nein! das war nicht möglich, war wider die Natur, das konnte, sollte, durfte nicht sein!
Ein geradezu verzweifelter Haß stand in ihr auf, und der Haß war vergiftet, denn der Abscheu mischte sich hinein.
Nicht ein Riese war's, der ihren Bruder daniederstreckte, ein Insekt war's, das an ihm heraufkroch und ihn stach. Ja – ein Insekt! denn wie ein Käfer, der seine kurzen Beine strampelnd durcheinanderwirft, so hatte er ja ausgesehen, als er bei ihr vorüberging, unter der dicken Schale seines dicken Winterüberziehers.
Ein Glück war es, daß die Darsteller ihre Rollen so gut innehatten, daß sie des Einhelfens nicht mehr bedurften. Freda würde ihres Amtes als Souffleuse schlecht gewaltet haben heute abend.
Sie war nicht lustspielmäßig gestimmt. Ihr war, als trüge sie eine Wunde in der Brust, und unablässig spielten ihre Gedanken daran herum wie tastende Finger, die sich nicht enthalten können, immerfort nach der Wunde zu greifen, obschon jedes Berühren den Schmerz vermehrt.
Ihre Augen hingen unverwandt an dem Bruder; sie behüteten ihn gleichsam. War ihr doch, als wenn eine feindliche Macht ihn bedrohte, vor der sie ihn schützen, ihn decken mußte mit ihrem eigenen Leibe.
Staunend blickte sie auf seine harmlose Fröhlichkeit.
Kannte er denn den Skorpion nicht, der um ihn herumschlich, der Minute wartend, da er ihn stechen, ihn zunichte machen, sein fröhliches Blut vergiften würde?
Aber natürlich – zum Verdachte war seine Natur ja viel zu arglos, viel zu vornehm und zu gut.
Wie er ihr leid tat, der Junge, und wie sie ihn liebte, liebte, liebte!
Nachdem die Probe beendet war und man sich im Speisezimmer zum Abendessen niedergesetzt hatte, kam das Gespräch auf den Prolog. Tante Löckchen erkundigte sich, ob er fertig wäre.
Percival errötete und ließ ein verlegenes Lachen als Antwort hören. Plötzlich aber kam ihm ein unerwarteter Helfer. Freda, durch die ganze Länge der Tafel von ihm getrennt, hatte die Frage gehört.
»Sein Prolog ist fertig, Tantchen,« sagte sie mit klarer, fester Stimme, »und ich denke, er wird damit vor dir und deinen Gästen Ehre einlegen.«
Unwillkürlich fuhr Percival mit dem Kopfe herum. Das Gesicht seiner Schwester war leichenblaß; ihre Augen sahen ihn mit kalt entschlossenem Ausdruck an. Langsam wandte er sich ab; er hatte sie verstanden; er schwieg.
Tante Löckchens Augen funkelten.
»Siehste, Junge, das ist recht!« Sie erhob das Glas, um mit ihm anzustoßen; die verlegene Bescheidenheit, mit der Percival ihren Dank in Empfang nahm, erweckte die Begeisterung der Gesellschaft.
»Hoch soll er leben,« stimmte Fräulein Nanettchen singend an, und »hoch soll er leben, hoch soll er leben, dreimal hoch!« sang jubelnd der ganze Chor nach.
Als die Gläser an das seinige klangen, stand plötzlich auch Freda vor ihm. Einen Augenblick sah er sie mit fragendem Lächeln an. Sie aber setzte hastig das Glas auf den Tisch, nahm seinen Kopf in beide Hände und küßte ihn einmal, zweimal auf Augen und Stirn.
Ein allgemeines »Bravo« begleitete den Ausbruch schwesterlicher Zärtlichkeit. »Percy,« erklärte Major a. D. Bennecke, »so gespannt wie auf deinen Prolog morgen, bin ich noch im ganzen Leben auf nichts gewesen. Das wird morgen ein Triumph für dich werden.«
Alles stimmte bei. Ein Gedicht, für das sich Freda Nöhring so begeisterte, mußte etwas Außerordentliches sein.
Als die Geschwister nachher Arm in Arm nach Haus gingen, wurde der Prolog mit keiner Silbe zwischen ihnen erwähnt.