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Zwei Einladungen gingen Herrn Regierungsrat Nöhring in den nächsten Tagen zu. Beide kamen aus der Familie, und beide erweckten seine Heiterkeit, so verschieden sie unter sich waren. Von Percival kam die eine, von Schottenbauer die andere.
Percival lud zu seinem großen Diner ein, schriftlich, und nicht nur schriftlich, sondern mit großer, goldgeränderter Karte.
»Herr Regierungsassessor Nöhring und Frau beehren sich, Herrn Regierungsrat Nöhring und Fräulein Tochter zum Mittagessen am 3. November, nachmittags sechs Uhr, ergebenst einzuladen. Um Antwort wird gebeten.«
Laut lachend warf Papa Nöhring die Karte auf den Frühstückstisch.
»Der Bengel wird wahrhaftig rein toll; ich weiß gar nicht, was in ihn gefahren ist. Heute haben wir den 20. Oktober – also volle vierzehn Tage voraus.«
Mit leisem Lächeln las Freda die Karte durch.
»Er hat es ja neulich gleich in Aussicht gestellt, daß es ein Völkerfest werden sollte; darum ladet er so früh ein.«
»Na ja, aber wer, zum Kuckuck, heißt ihn denn solche Feste geben? Mir scheint wirklich, das bißchen Gehalt, das er jetzt bekommt, ist ihm zu Kopfe gestiegen.«
Freda wurde ernst.
»Weißt du, Papa, der Gedanke ist mir schon öfters in letzter Zeit gekommen. Er ist jetzt mit Therese, wie ich höre, beinahe alle Abend irgendwo eingeladen; jedenfalls wird er sich revanchieren wollen, und dabei wird es dann hoch hergehen, vermute ich.«
»Wenn er nur keine dummen Streiche macht und über seine Mittel geht«, meinte Papa Nöhring. Und beide schwiegen in Gedanken.
»Der 20. Oktober,« nahm Papa Nöhring das Gespräch wieder auf, »dann ist ja wohl morgen das Schokoladenfrühstück bei Schottenbauer? Wie?« Freda nickte.
Es war so. Der Regierungsrat hatte neulich geäußert, daß er doch nun endlich einmal die vielbesprochene Wohnung am Wasser kennenlernen möchte; mit Enthusiasmus war Schottenbauer darauf eingegangen.
»Ob Freda den Papa nicht begleiten wollte?«
Als sie eingewilligt, hatte er es sich erbeten, daß sie ihm erlauben möchten, ihnen ein Schokoladenfrühstück vorzusetzen.
»Na, aber Schottenbauer – wozu denn das?«
Er hatte aber den Alten wie ein Kind umschmeichelt.
»Das dürft ihr mir nicht abschlagen; jetzt in diesen schönen Herbsttagen an dem offenen Balkon – ganz mit euch beiden allein – ach, das ist ein zu hübscher Gedanke!«
Was sollte man machen? Die Sache war ja unschuldig genug; und wenn jemand so liebenswürdig bat – Papa Nöhring konnte sich nie satt daran sehen, wenn die Gebensfreudigkeit ihm vom Gesicht strahlte, dem – lieben Kerl.
»Na also, Freda, was meinst du? Wollen wir Schokolade bei ihm trinken?«
Freda errötete etwas, aber – »nun ja denn.«
Dankbar ergriff Schottenbauer ihre Hand und küßte sie.
»Du mußt doch endlich einmal den Raum sehen,« lachte er, »wo du schon so lange gewohnt hast.«
»Ich – dort gewohnt?«
»Aber Freda – so kannst du fragen?«
Er blickte ihr in die Augen, und nun verstand sie, was er meinte.
»Zudem«, fuhr er fort, »ist es gewissermaßen ein Abschiedsfest, mein ganzes Leben lang kann ich die Wohnung doch nicht behalten; einmal muß ich sie doch aufgeben und eine ordentliche, vernünftige Wohnung in Berlin suchen – Freda, nicht wahr?«
Er schmiegte sich an sie; ihr tiefes Erglühen verriet, daß sie ihn diesmal gleich verstanden hatte.
Also am 21. Oktober sollte es sein. Vorläufig mußte er auf einige Tage nach Berlin. »Geht es mit dem Stück am Königlichen Schauspielhaus los?« erkundigte sich Papa Nöhring.
Ja, allerdings, aber am Zwanzigsten, abends, käme er wieder.
»Aber was ich noch sagen wollte,« erklärte Papa Nöhring, »ich weiß, Schottenbauer, daß auf deinem Tisch nicht aufgeräumt werden darf. Außerdem – deine Schokolade in Ehren – aber ich will deine Werkstatt kennenlernen, verstehst du? Wir kommen also nur unter der Bedingung, daß es so bei dir aussieht, wie es immer bei dir ausgesehen hat.«
Schottenbauer kratzte sich hinter den Ohren.
»O jemine! Wohl etwa gar in meinem Schlafrock – ?«
»Richtig,« lachte Papa Nöhring, »der famose Schlafrock, von dem Percival erzählt hat! Den mußt du anziehen!«
Nun aber setzte Schottenbauer sich energisch zur Wehr.
»Unter keinen Umständen. Nein. Wenn Freda ihn darin sähe, nähme sie jetzt noch ihr Wort zurück.«
Also wurde ihm der Schlafrock erlassen.
»Aber zeigen mußt du ihn. Sehen müssen wir ihn wenigstens.«
Das sollte in Erwägung gezogen werden; bestimmte Versprechen gab er nicht.
Am 21. Oktober also, mittags um zwölf, an einem köstlichen, warmen Tage, als das herbstliche Gold, das auf Büschen und Bäumen lag, wie ein strahlender Widerschein zum Himmel leuchtete und die ganze Luft mit goldigem Licht erfüllte, stand Schottenbauer an der Tür seines Hauses, die sich auf die Straße öffnete, und sah klopfenden Herzens den Herrn Regierungsrat Nöhring die Straße entlang kommen, feierlich im schwarzen Rock, und neben ihm, in hellgrauem Herbstkleide, ein Kapotthütchen auf dem blonden Haupt, entzückend, wie er sie noch nie gesehen hatte, Freda, seine Tochter.
Mit einem prächtigen Strauß von Spätrosen empfing er sie; dann führte er sie über den Hof, die steile, ausgetretene Hintertreppe hinauf. »Damit ihr den Weg findet,« erklärte er lachend, indem er voranging, »und nicht vor Schrecken umkehrt.«
Als nun aber die Tür seines Zimmers sich öffnete und der Blick über Strom und Landschaft sich vor ihnen auftat, blieben Papa Nöhring und Freda in unwillkürlicher Überraschung stehen.
»Aber das ist ja herrlich – wundervoll!« kam es gleichzeitig von ihren Lippen.
Sie traten auf den geöffneten Balkon.
»Da drüben,« rief Freda, »Tante Löckchens Haus!«
»Und da rechts,« setzte Schottenbauer leise hinzu, »die Brücke – und dort –« er zeigte mit dem Finger und lächelte verlegen – »gerade dort war die Stelle.«
Sie folgte seinem Fingerzeig; indem er neben ihr am Eisengeländer stand, legte er den Arm um sie; Freda blickte stumm und errötete gleich ihm.
Inzwischen hatte Papa Nöhring das nebenan liegende Gemach durchmustert und voller Rührung die Bedürfnislosigkeit erkannt, in welcher dieser Mensch zu leben gewohnt war.
Jetzt, als Schottenbauer sich mit Freda vom Balkon umwandte, stand er sinnend vor dem Tische, auf dem die Manuskripte lagen.
»Aber nun die Schokolade!«
Schottenbauer lief an die Tür und klatschte in die Hände.
»Madame! Madame! Die Schokolade!«
Mit einer frischgewaschenen Haube angetan, freundlich knicksend, erschien die alte Wirtin. Ein Tischchen wurde zwischen den Arbeitstisch und die Schwelle des Balkons geklemmt. Und nun begann zwischen ihr und Schottenbauer ein förmlicher Wettlauf zur Küche hinüber und wieder in das Zimmer zurück.
Ein Kuchenteller erschien, dann noch einer und noch einer; alsdann eine dickbauchige Kanne und Tassen, und endlich, von Schottenbauer wie eine Trophäe getragen, ein mächtiger Baumkuchen, in dem ein ungeheures Bukett von Astern und Georginen steckte.
»Aber Schottenbauer, bist du denn rein des Teufels?« schrie Papa Nöhring.
Hinter dem zackigen Kuchen sah Schottenbauer zu Freda hinüber.
»Ich weiß nicht – hab' ich's von dir selbst oder von jemand andrem gehört, oder hab' ich's geträumt, daß Baumkuchennasen dein Lieblingsessen wären –«
»Das mußt du wirklich geträumt haben,« erwiderte sie, »aber es gibt ja Träume, die die Wahrheit verkündigen.«
»Siehst du,« sagte er mit zufriedenem Lächeln, »wie ich in deiner Seele lese.«
Er stellte den Baumkuchen auf den Tisch.
»Aber nein,« rief Papa Nöhring, »der Turm da nimmt uns ja die ganze Aussicht fort!«
Also wurde er wieder aufgehoben, und nun hielt ihn Schottenbauer Freda hin.
»Du hast sooft dein stolzes Näschen über mich gerümpft, nun gib mir einmal Revanche und laß dir von mir eine Nase geben.«
Er ruhte nicht, bis daß sie sich die längsten und schönsten Zacken abgebrochen hatte. Dann goß er seinen Gästen Schokolade ein, und man sah ihm an, was für ein Vergnügen es ihm bereitete, den Wirt zu spielen.
Und nun saßen die drei und aßen und tranken.
Die Sonne blinkte in Tante Löckchens Fenstern und in dem Wasser des rinnenden Stromes; ein leichter Wind zog den Fluß herauf; er trieb die geblähten Segel der Schiffe wie große weiße Schwäne vor sich her, er raschelte in den Winden, mit denen der Balkon umrankt war, und spielte in dem blonden Haar des schönen Mädchens, das an der offenen Balkontür saß und mit träumenden Augen hinausschaute. Was für Gedanken es sein mochten, die ihre Seele erfüllten. –
Vom Bollwerk, unterhalb des Balkons, scholl der Lärm der Arbeit herauf. Schiffe wurden ausgeladen. Man hörte das Ächzen der Stricke, an denen die großen Tonnen aus dem Schiffsraum emporgewunden, das Kreischen der Faßdauben, wenn die Fässer über das Steinpflaster und auf die Rollwagen hinaufgeschrotet wurden; dann das Hufgestampf der Pferde und das Rasseln der Lastwagen.
Ihre Gedanken kehrten zu dem Tag zurück, zu dem Morgen, als sie in Genua am Fenster gelegen und auf den Hafen hinuntergesehen, auf das Getöse hinuntergelauscht hatte. Wie weit war sie damals von dem Menschen dort entfernt gewesen. Auf Nimmerwiedersehen – so hatte sie gemeint. Und jetzt saß sie auf seinem Zimmer und trank bei ihm Schokolade und aß seinen Kuchen.
Schicksal des Menschen – Wille des Menschen.
Ein lautloser Strom das eine, unscheinbar und unwiderstehlich in treibender Gewalt – eine kleine, flitternde, glitzernde Welle der andre, die sich einen Moment dem Strom entgegenwirft, um im nächsten Augenblick, kopfüber gerissen, mit ihm dahinzufließen.
Wirklich? War es so? War jeder Wille so? Oder waren die Willenskräfte der Menschen vielleicht verschieden? Gab es vielleicht Menschen, deren Wille nicht nur der aufspritzenden Welle, sondern dem Strom ähnlich sah, unscheinbar nach außen, in der Tiefe aber stoßend mit immer gleichmäßiger, unaufhaltsamer Gewalt, dem Ziele, dem Ziele, dem Ziele zu?
Mit einer geheimen Scheu blickte sie über den Rand der Tasse hinüber, wo Schottenbauer jetzt daran war, mit dem Regierungsrat die gelben Papierberge zu durchstöbern, die auf dem Schreibtisch lagen – ob dieser Mensch da vielleicht von der Art war? Einer der wenigen, der geheimnisvollen Menschen, deren Seele zu schweigen vermag, zu warten und zu wollen?
Papa Nöhring richtete sich vom Tisch auf.
»Ja, aber sag' mal, der Percy hat uns doch noch von einem ganzen Ballen Papier erzählt, den du irgendwo in einer Kommode aufbewahren sollst?«
»Ah so!« Schottenbauer trat an die Kommode, die er damals vor Percivals Auge geöffnet hatte. Er zog das Schubfach auf.
»Vermutlich hat er das da gemeint.«
»Um Gottes willen –« Papa Nöhring fuhr beinahe erschreckt zurück. Das hast du alles geschrieben? und das läßt du so daliegen, daß es im Staube verkommt?«
Schottenbauer zuckte die Achseln.
»Ach, ich bitte dich – sind ja, wie die Bildhauer zu sagen pflegen, lauter verhauene Blöcke. Abgetanes Zeugs. Wenn ich mal die Wohnung aufgebe, kommt der ganze Wrast ins Feuer.«
»Das verbitte ich mir«, erklärte Papa Nöhring.
Schottenbauer mußte unwillkürlich auflachen. Der alte Mann hatte ganz entrüstet gesprochen.
»Wenn du kein Herz für deine Sachen hast,« fuhr der Regierungsrat fort, »gut, so nehme ich sie an mich. Das kommt alles ins Archiv.«
Mit einem Griff langte er in das Schubfach und hob den ganzen Haufen loser Bogen heraus.
»Papachen,« rief Schottenbauer, »tu mir den einzigen Gefallen – das ist ja so gräßlich verstaubt!«
Er hatte recht; denn als jetzt Papa Nöhring die Papiermasse auf dem Schreibtisch niederlegte, stieg eine Staubwolke daraus empor.
»Schadet nichts«, entgegnete Papa Nöhring. Mit heißhungerigen Fingern begann er zu blättern. Unterdrückte Ausrufe des Staunens begleiteten sein Tun.
»Ist es denn möglich? Ist es denn erhört?«
Ganze, fertige, mehraktige Dramen, Stöße von Gedichten.
»Und Novellen schreibst du auch?« unterbrach er sich.
Er hatte das Manuskript einer Erzählung entdeckt; mindestens dreißig von den gelben Bogen lang.
Wie in einer Art von Verzweiflung lief Schottenbauer aus einem Zimmer ins andre.
»Ja doch, ja doch, ja! In allem habe ich gefrevelt, worin so ein unglückseliger Poet freveln kann! Aber ich beschwöre dich, laß das Zeugs liegen; ich gebe dir mein Wort, wenn ich an die alten Sachen zurückdenke, versetzt es mir den Atem. Wie bleierne Berge liegt das alles auf mir! Es ist ab und ab und abgetan!«
Papa Nöhring hatte sich vor dem Schreibtisch niedergesetzt. Jetzt wandte er das Gesicht zu dem Mann, der immer noch hin und her lief.
»Ja, aber sag' mir« – Schottenbauer blieb stehen –, »wenn das alles für dich abgetan ist – arbeitest du immer nur mit neuen Plänen?«
Schottenbauer trat heran; sein Gesicht war ernsthaft geworden.
»Ja – es ist mir selbst manchmal merkwürdig, beinahe unheimlich – das, was ich geschrieben habe, wird mir, wenn ich fertig damit bin, gleichgültig, als hätte es ein andrer gemacht. Ich lebe immer nur in dem, was gerade wird.«
»Und – wird denn immer etwas Neues? Hast du immer neue Ideen?«
»Papachen« – Schottenbauer streichelte das Haupt des alten Mannes –, »damit ist es ein eigen Ding. Für den Dichter darf es nur eine Qual geben: Überfülle. Am Tage, wo er nicht mehr an Überfülle leidet, ist er eigentlich schon bettelarm und sollte die Feder weglegen.«
Papa Nöhring hielt ihn an beiden Händen.
»Menschenkind – was bist du für ein reicher Mensch!«
Am Tisch drüben zuckte Freda auf.
Wo hatte sie das Wort doch neulich schon gehört?
Ja – sie selber hatte es gesagt.
Papa Nöhring war noch nicht fertig mit Staunen und Fragen. Es war eine Art väterlicher Besorgnis in ihm für diesen jungen Geistesverschwender.
»Schreibst du dir denn auch alles hübsch auf?«
»Ob ich aufschreibe – was?«
»Na, die neuen Ideen, die du hast.«
Schottenbauer lachte kurz auf.
»Wozu denn?« »Wozu?« fragte Papa Nöhring, »damit du sie nicht vergißt.«
Schottenbauer streichelte wieder über den greisen Kopf vor ihm.
»Papachen, eine Idee, die man wieder vergessen kann, ist überhaupt gar keine gewesen. Um die ist es nicht schade, wenn sie zum Teufel geht.«
Der Regierungsrat sah ihn an, als wenn er ihn nicht recht verstände.
»Solch eine Idee,« fuhr Schottenbauer fort, »siehst du, heutzutage brauchen sie dafür den Ausdruck, daß man einen ›Einfall‹ hat« – er lachte ärgerlich auf.
»Solch ein dummes, nichtswürdiges Wort! An dem einzigen Wort, siehst du, erkennt man, daß die Menschen heutzutage gar nicht mehr wissen, was Poesie ist, wie sie entsteht. Ein Einfall! Als ob einem eine Dichtung einfallen könnte! als ob sie einem von draußen wo angeflogen käme! Das, was man eine dichterische Idee nennt – nun – was find' ich denn nur für einen Ausdruck, um es zu beschreiben – siehst du – das ist ein Aufleuchten der Seele, des tiefsten Innern, wo man plötzlich in Fernen sieht, von denen man keine Ahnung gehabt hat. Na, mit einem Wort, solch eine Idee, das ist eben ein Erlebnis, und ein Erlebnis, das man gehabt hat, nicht wahr, das braucht man nicht erst aufzuschreiben, das vergißt man nicht?«
Papa Nöhring schwieg, als erwartete er, daß Schottenbauer weitersprechen würde. Freda saß lautlos an dem Tisch drüben.
»Ein Erlebnis, das vergißt man nicht« – dieser Mensch, der immer noch halb einem Knaben glich, der da mit gesenktem Kopf, seinen Gedanken nachhängend, durch die Zimmer stapfte – wer hatte ihn Wahrheiten erkennen gelehrt, die sie unter so furchtbaren Erfahrungen hatte erlernen müssen?
Besaßen diese Menschen, die man Dichter nennt, wirklich etwas, was andere Menschen nicht besitzen, einen Seherblick, der sie befähigt, in die Seele des andern zu blicken, und dem andern die Geheimnisse seines eigenen Innern, die verschwiegenen, verborgenen, nie aufgestandenen Geheimnisse zu verkünden?
Sie erhob sich, und indem sie an dem Schreibtisch vorüberging, fiel ihr Blick auf ein Blatt, das der Vater nicht bemerkt zu haben schien. Durch seine seltsame Gestalt fiel es ihr auf.
»Was ist denn das?« fragte sie, mit dem Kopf hindeutend.
Sie sah ein Briefkuvert, von oben bis unten vollgekritzelt mit flüchtigen Notizen, in welchem einige lose Blätter Papier steckten.
»Ach, das«, sagte Schottenbauer lächelnd. »Na ja, siehst du, wenn du willst, kannst du mich jetzt einen inkonsequenten Prahlhans schelten. Das, wovon ich vorhin sprach, siehst du, das sind so die ganz großen Ideen, aus denen die großen Dichtungen wachsen. Aber im Walde, weißt du, gibt es neben den Bäumen auch Unterholz. Da liest man nun so einmal in der Zeitung etwas, da erfährt man eine Geschichte, die einen interessiert, da hört man einmal ein Wort, einen Ausdruck, der einem merkwürdig erscheint – na, und siehst du, das schreibt man sich dann eben auf.«
»Aha«, sagte Papa Nöhring.
Schottenbauer nahm das Kuvert auf.
»Na ja, lach' du mich nur aus. Wenn man nun einmal die Passion hat, aus allen Bruchstücken der Menschenäußerungen sich ganze Menschen zusammenzubauen und Menschenschicksale zu kombinieren, na, siehst du, dann setzt man sich eben hin, und wenn man nichts Besseres zu tun hat, entwirft man sich so einen Plan, wie man dies und das anfangen und zu Ende bringen würde.«
Er blickte wieder auf das Blatt.
»So eine Art Magazin, verstehst du, für spätere Zeiten, wenn einmal die großen Funken nicht mehr aus der Seele sprühen.«
»Warum hast du denn auf ein Kuvert geschrieben?« fragte Papa Nöhring. »Ich hatte gerade kein andres Papier zur Hand.«
Er warf das Kuvert auf die übrigen Papiere.
»Wenn du also durchaus willst, dann kannst du das auch ins Archiv nehmen.«
Dann nahm er es wieder auf.
»Oder, Freda, du hast es doch eigentlich entdeckt« – er hielt es ihr lachend hin. »Wenn du es annehmen willst, ich schenk' es dir.«
»Aber Schottenbauer,« sagte Papa Nöhring ganz ernsthaft, »so etwas verschenkt man doch nicht; auch nicht im Spaß.«
»Aber Papachen –« Schottenbauer lachte hell auf und küßte ihn auf das weiße Haar. »Wenn ich es Freda schenke, bleibt's doch im Haus?«
Er wischte das ganz verstaubte Kuvert mit seinem Taschentuch ab, dann reichte er es Freda noch einmal dar.
»Willst du's haben? Ja?«
Freda zögerte. Eine feine, nervöse Röte bedeckte ihre Wangen.
»Du – überschüttest einen ja mit Geschenken.«
In ihren Worten zitterte etwas wie ein verhaltener Ärger. Statt »überschüttest« hatte sie eigentlich sagen wollen »erdrückst«. Es wurde ihr wirklich beinahe zuviel.
Schottenbauer sah sie einigermaßen betroffen an.
»Das sind doch immerhin Pläne,« fuhr sie fort, »die du wahrscheinlich einmal ausführen wirst; wenn sie dir auch jetzt bei dem Überfluß, in dem du schwelgst, nebensächlich erscheinen. Nun sagst du, daß du sie mir schenken willst – wie ist denn das zu verstehen, wenn es dein Ernst ist? Etwa so, daß ich mich hinsetzen dürfte und sie ausführen, als wenn es meine eigenen Eingebungen wären?«
»Aber das wäre ja reizend,« unterbrach er sie, »wenn du das tätest. Ich habe mir immer gedacht, wie hübsch es sein müßte, mit einer klugen, geliebten Frau zusammen zu arbeiten. Und ich weiß nicht – aber ich habe ein Gefühl, als steckte auch in dir so etwas von einem Dichter.«
Fredas Nasenflügel erzitterten leise. »Sehr liebenswürdig von dir,« erwiderte sie, »daß du mich so mit deinem Geiste – wie soll ich sagen – füttern willst; aber ich glaube, du irrst dich; ich habe gar kein Talent.«
Schottenbauer trat zu ihr heran und legte den Arm um sie.
»Aber Freda – was ist denn? Bist du mir böse? Ich sagte dir ja, daß ich das, was ich da gesammelt und aufgeschrieben habe, so gewissermaßen als eine Vorratskammer ansehe, wie ein Magazin, in das ich vielleicht später einmal hineinsteige. Wenn ich dir nun die Blätter da übergebe, so – so lege ich gewissermaßen die Verwaltung meines Magazins in deine Hand, vertraue sie dir an. Der Gedanke war mir so lieb – ist er es dir nicht? Sind meine Gedanken und Entwürfe von jetzt an denn nicht die deinigen auch? Nun siehst du – wenn ich immer mit meinen schweigenden Gedanken im Kopfe herumlaufe – in meinen Kopf kannst du schließlich nicht hineinsehen. Darum meinte ich, weil dies da doch auch Gedanken von mir sind, es würde dir Vergnügen machen, wenn du wenigstens einen Teil von mir kennenlerntest.«
Freda hielt noch immer die Hand zurück. Nun warf er das Kuvert auf den Papierstoß zurück.
»Na also – wie du willst! Ich habe die Empfindung, als wenn ich heut alles mögliche und recht viel Unnötiges daherschwatze, nicht wahr? Aber nehmt's nicht so genau. Daß ich euch heut so bei mir habe, das – das macht mich ja ganz kindisch vor Vergnügen, geradezu wie betrunken!«
Er unterbrach sich lachend.
»Betrunken von Schokolade!«
Dann kam er wieder zu Freda zurück.
»Aber daß ich euch überschütte, das mußt du nicht sagen, niemals! Hast du denn keine Ahnung, was ihr mit eurem Besuch mir geschenkt habt?«
Mit sanfter Zärtlichkeit legte er beide Arme um sie; liebevoll blickte er ihr in die Augen. »Weißt du denn nicht, daß, wenn ich dir gäbe und immerfort gäbe, ich dennoch mein ganzes Leben lang in deiner Schuld bleiben würde? Freda – meine Freda!«
Seine Stimme war zum Flüstern herabgesunken.
Freda trat an den Schreibtisch.
»Also – will ich es nehmen.«
Sie nahm das Kuvert vom Tisch auf und versenkte es in ihre Tasche, und sie tat es jetzt mit unwillkürlicher Hast. Die ganze Zeit über hatte sie ja eigentlich vor Neugier gebrannt, den Inhalt der sonderbaren Blätter kennenzulernen, den Ursprung der Werke zu erfahren, die bisher so geheimnisvoll fertig, wie aus dem Nichts geboren vor sie hingetreten waren. Menschliche Neugier und wirkliches sachliches Interesse vereinigten sich in ihr, und nur ihr Stolz hatte sie zurückgehalten, zuzugreifen, als er ihr das Kuvert anbot.
»Also hat jedes sein Teil«, sagte Papa Nöhring, indem er aufstand und den Papierballen an sich nahm.
»Willst du denn damit über die Straße gehen?« fragte Schottenbauer.
»Warum denn nicht? Hast du vielleicht die Strippe noch, mit der du damals dein erstes Manuskript zusammengebunden hattest?«
Schottenbauer suchte umher.
»Da hab' ich so ein Ding – ob's die von damals ist, weiß ich nicht –«
»Aber sie sieht ihr ähnlich,« meinte Papa Nöhring, »die gehört auch ins Archiv.«
Er rollte den Haufen zusammen und umschnürte ihn, so daß eine geradezu ungeheuerliche Papierröhre entstand. Dann nahm er Schottenbauers Kopf zwischen beide Hände und schüttelte ihn.
»Leben Sie wohl, Monsieur Krösus, auf Wiedersehen. Morgen geht's wieder nach Berlin?«
»Heute noch,« erwiderte Schottenbauer, »heute nachmittag.« »So, so? Sie sind also wohl höllisch hinter dem Stück her?«
»Ja – in den ersten Tagen des Novembers sollte es herauskommen«, unterrichtete Schottenbauer.
»Wenn nur die erste Aufführung nicht gerade auf Percivals großen Dinertag fällt.«
»Das wäre dann freilich vom Übel. Na, wir werden ja sehen.«!
Damit gingen sie, und bis an die Straßentür gab ihm Schottenbauer das Geleit.