Ernst von Wildenbruch
Schwester-Seele
Ernst von Wildenbruch

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Viertes Kapitel

Ja – es war, wie Freda angedeutet hatte: Percival dichtete an seinem Prolog.

Das sah man ihm an, denn den ganzen nächsten Tag ging er mit wolkenumlagerter Stirn umher. Bei der Mahlzeit saß er in Gedanken, und man konnte sehen, wie er auf dem Tischtuche leise fingerte, ungefähr wie jemand, der die Silben eines Verses abzählt.

Von Zeit zu Zeit verschwand er, um sich auf sein Zimmer zurückzuziehen, und von dort kam er dann, umwölkt, wie er gegangen war, wieder zurück.

Es wurde ihm offenbar sauer, sehr sauer.

Den zweiten Tag ging das ungefähr ebenso. Am Abend aber erschien er, einen Bogen Papier in der Hand, der von oben bis unten vollgeschrieben war.

»Mühe habe ich mir wenigstens gegeben,« sagte er kleinlaut, indem er das Gedicht auf Fredas Tisch legte, »das, denk' ich, wirst du sehen.«

Man sah es dem Werke allerdings an, daß er sich Mühe damit gegeben hatte; ganze Strophen waren ausgestrichen, massenhafte Korrekturen übersäten das Ganze.

Lautlos setzte Freda sich an den Tisch; indem sie das Papier anfaßte, zitterten ihr beinahe die Hände.

Während sie las, zündete Percival eine Zigarre an und lehnte, scheinbar gleichgültig, am Ofen. Scheinbar, denn in Wahrheit war er mächtig aufgeregt. Mit blinzelnden Augen verfolgte er die Schwester, die langsam, schweigend seine Verse studierte.

Jetzt hatte sie das Gedicht durchgelesen; einen Augenblick verharrte sie stumm, dann fing sie noch einmal von vorn an und las es langsam noch einmal bis zu Ende durch.

Dem Dichter wurde unheimlich.

Zum zweitenmal war Freda fertig geworden; nun schob sie das Papier mit einer zögernden Handbewegung von sich, bis in die Mitte des Tisches. Dann lehnte sie sich, ohne den Bruder anzusehen, im Stuhle zurück.

Ein fatales Stillschweigen trat ein. Percival wurde bis über beide Ohren rot; er kannte das Gesicht seiner Schwester; das Gedicht hat ihr offenbar nicht gefallen. So verhielt es sich in der Tat.

Freda saß da und versuchte, mit ihrer Enttäuschung fertig zu werden.

Zwei Tage lang war sie stillschweigend hin und her gegangen, die Aufgeregtheit des Bruders beobachtend, sie selbst kaum minder aufgeregt als er. Und nun lag das Ergebnis der zwei Tage vor ihr, und es war ein schwaches Gedicht.

Alle schwesterliche Liebe in ihr vermochte gegen ihren prüfenden Verstand nicht aufzukommen – es war schwach, sehr schwach. In einer Reihe von mühseligen Strophen war ein Inhalt zutage gefördert, der eigentlich gar kein Inhalt war. An den Gedanken, den sie ihm gegeben, hatte er sich angeklammert, er hatte ihn breitgetreten, indem er Tante Löckchens gastliches Haus ausmalte, auch das aber ohne Wärme, Licht und Kraft. Dann, als wenn er sich des höheren Zwecks der Zusammenkunft besänne, hatte er noch einige Phrasen über Kunst und Dramatik hinzugefügt, alles ganz alltäglich und banal, und das war alles.

Freda litt geradezu Schmerzen; eine große Erwartung war ihr zuschanden geworden; sie konnte kein Wort hervorbringen.

Percival räusperte sich.

»Na,« sagte er, indem er sich zu heiterem Tone zwang, »scheint dir nicht übermäßig zu gefallen? Hm?«

Freda raffte sich auf, erhob sich und ging auf ihn zu. Sie nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände und küßte ihn auf die Stirn; er tat ihr so furchtbar leid.

»Gott – Percy,« sagte sie, »denen da bei Tante Löckchen, siehst du, würde es ja, so wie es ist, vermutlich ganz gut gefallen –«

»Aber dir gefällt es nicht?« unterbrach er sie, einigermaßen ärgerlich.

»Nun – wenn du mich fragst – ich meine freilich, du kannst etwas Besseres machen.«

»Na ja,« erwiderte er, »hatte ich mir ja gedacht –«

Er machte sich von ihren Händen los, trat an den Tisch, nahm das Papier auf und riß es von oben bis unten mit einem Griff durch.

»Der dämliche Prolog!« knurrte er, indem er die Fetzen zerknüllte und auf den Fußboden warf.

Freda raffte die Papierstücke auf und strich sie wieder glatt; wenn es auch verfehlt war – es war doch von ihm, und er hatte zwei Tage lang darüber gesessen.

Percival ging im Zimmer auf und nieder.

»Warum hast du mich auch dazu gebracht! Nun hab' ich's einmal versprochen, und machen also muß ich ihn jetzt!«

»Sollst du ja auch,« beschwichtigte ihn die Schwester, »sollst du ja auch.«

»Sollst du ja auch,« maulte er ihr nach, »aber wenn du mir immer den kritischen Spieß vor den Leib hältst, daß ich darauf auflaufen muß, dann kann ich es nicht.«

Freda war hinter ihm dreingegangen und hielt ihn jetzt an den Schultern fest. Kopfschüttelnd lächelnd, sah sie ihm ins Gesicht.

»Aber Junge, wer wird denn so die Flinte ins Korn werfen? Geh, schäm' dich was! Morgen setzt du dich hin und machst einen viel schöneren, einen wunderschönen, das weiß ich.«

»Weißt du das?« fragte er ungläubig.

»Ja, ja, ja,« erwiderte sie, indem sie ihn dreimal nacheinander auf die Schulter schlug. »Das weiß ich; die Disposition in deinem Gedicht ist ja ganz gut, nur die Gedanken mußt du noch ein bißchen tiefer herausholen, so recht vom Grunde heraus, verstehst du?« Ob sie sich wirklich so des Erfolgs bewußt war, den sie ihm versprach? – Jedenfalls gab ihre Sicherheit ihm neuen Mut.

»Soll mich der Teufel holen,« sagte er, mit dem Fuß aufstampfend, »ich krieg's dennoch fertig.«

Er war jetzt wirklich ganz versessen darauf, ein vernünftiges Gedicht zustande zu bringen. Es war etwas in ihn gekommen, das er früher nicht gekannt hatte, etwas, das ihn stachelte und erhitzte; zum erstenmal in seinem Leben war er ehrgeizig.

Alle seine bisherigen Triumphe in der Gesellschaft hatte er vermöge seiner liebenswürdigen Erscheinung, seiner äußeren Gaben errungen, das wurde ihm mit einemmal klar.

Jetzt, da er durch seinen Geist triumphieren wollte, sollte er Schiffbruch leiden? Teufel noch einmal! Seine Eitelkeit bäumte sich auf wie ein Pferd, das zum erstenmal die Peitsche fühlt. Er wollte ihnen schon zeigen, wer er war! Bewundern sollten sie ihn, sie alle, und seine Mamsell Schwester erst recht!

Den ganzen nächsten Tag sprach er mit Freda kein Wort. Er fürchtete sich vor ihr, und beinahe haßte er sie.

Vierundzwanzig Stunden, nachdem er ihr seinen ersten Prolog zur Begutachtung vorgelegt hatte, lag ein zweiter Entwurf vor ihr. Mit dem hingegebenen Eifer, mit dem sie den ersten gelesen hatte, studierte sie auch diesen zweiten durch. Die Zigarre zwischen den Zähnen kauend, sah Percival ihr zu.

»Schon besser,« sagte Freda, nachdem sie zu Ende gelesen hatte, »schon viel besser als der gestrige.«

Percival stieß mit dem Rücken gegen den Ofen, an dem er lehnte.

»Schon besser heißt noch nicht gut«, knurrte er.

Fredas Brust hob und senkte sich. Man sah ihr an, wie gern, wie ums Leben gern sie das Gedicht gut gefunden hätte, aber es war wie ein Siegel vor ihrem Munde; das befreiende Wort wollte und konnte nicht heraus. Mißmutig trat er an den Tisch, nahm das Papier auf und las das Geschriebene selbst noch einmal durch. Dann faßte er den Bogen zwischen beide Hände und – ratsch – flog das Papier, in zwei Hälften zerrissen, zur Erde wie das gestrige.

»Ist ja nichts,« murrte er, »ist ja wieder nichts!«

Ohne ein Wort hinzuzusetzen, ging er aus dem Zimmer und aus dem Hause. Den Abend verbrachte er am Biertisch mit seinen Kollegen.

Vielleicht hatte er sich dort eine andre Stimmung geholt; am dritten Tage, bald nach dem Essen, kam ein dritter Entwurf zum Vorschein, diesmal in humoristischer Gestalt.

Freda las auch diesen, und diesmal blickte sie, nachdem sie zu Ende gelangt war, beinahe schmerzlich zu dem Bruder auf.

»Junge,« sagte sie, »lieber, einziger Junge, quäl' dich doch nicht so furchtbar, laß dir doch Zeit, die Sache eilt ja nicht so.«

Es war also wieder nichts – natürlich!

»Hat gar keine Zeit«, fuhr er unwirsch auf. »Das weißt du doch selbst. Heute haben wir den Zwölften, und am Fünfzehnten ist die Aufführung!«

Die Hände in den Hosentaschen, ging er im Zimmer auf und ab. Freda saß stumm und traurig vor ihrem Tisch. Sie fühlte sich ganz niedergeschlagen, sie wußte nicht, was sie sagen, wie sie ihm helfen sollte.

Nachdem er eine Weile gewartet hatte, daß sie etwas sagen sollte, blieb er vor ihr stehen; sie faßte nach seiner Hand und blickte ihm liebevoll bekümmert in die Augen.

»Jesses, solch eine Leichenbittermiene«, sagte er ärgerlich lachend, indem er ihr die Hand entzog. »Du siehst mich im Geiste natürlich schon unsterblich blamiert. Aber diesmal, Herr Oberlehrer, sollen Sie sich getäuscht haben.«

Die Hände auf den Tisch gestützt, sah er ihr mit grellen, schlauen Augen ins Gesicht.

Sie verstand nicht recht, was er wollte.

»Was meinst du denn?« fragte sie.

»Du denkst natürlich,« fuhr, er fort, »ich werde jetzt zu Tante Löckchen hinlaufen und ihr sagen: ›Tantchen, ich kriege den Prolog nicht fertig‹« – er unterbrach sich und fing wieder an, im Zimmer auf und nieder zu gehen – »wäre auch eigentlich das allervernünftigste. Gerade daran, daß ich solch ein dummes bestelltes Gedicht nicht fertigkriege, könntest du ja eigentlich erkennen, daß wirklich vielleicht ein Dichter in mir steckt –«

»Das habe ich ja aber noch gar nicht bezweifelt«, beeilte Freda sich einzuwenden.

»Na ja, schon gut, ich weiß schon, was du denkst,« schwadronierte er weiter, »aber dir gerade zum Tort will ich den Prolog nun doch schaffen; und wenn ich ihn spreche, soll alle Welt bravo, bravo, dakapo schreien!«

Freda stand auf und hielt ihn, wie sie zu tun pflegte, an den Schultern fest.

»Aber Heißsporn, wer verlangt denn etwas andres?«

Sie sah ganz glücklich wieder aus; alles konnte sie ertragen, seinen Ärger, seine Unliebenswürdigkeit, seine Prahlerei, nur seinen Kummer nicht.

»Hast du eine neue Idee?« forschte sie.

Er lachte ihr ins Gesicht.

»Aber eine ganz famose! Du wirst einmal sehen!«

Er nickte ihr, lustig lächelnd, zu und ging hinaus. Gleich darauf sah sie, wie er mit hastigen Schritten, so daß der weite Wintermantel hinter ihm herflog, durch die Anlagen dahinstürmte, nach dem Innern der Stadt zu.

Zum Abendessen kam er zurück, mit entwölkter Stirn, wieder ganz der lustige Percival, der er immer gewesen war. Fredas Augen hingen mit stummer Verwunderung an ihm, und indem er ihren staunenden Blick gewahrte, drückte er die Serviette an den Mund, um nicht laut herauszulachen.

»Na, Freda,« sagte Papa Nöhring, »unser Dichter macht ein Gesicht – ich will wetten, er hat seinen Prolog fix und fertig.«

»Noch nicht ganz, Papachen,« erwiderte der Dichter, »aber beinahe, und wenn's fertig ist, wird's was Feines werden – das glauben Sie wohl nicht, Herr Oberlehrer?« wandte er sich über die Tafel hin an Freda.

»Junge!« rief sie, indem sie vom Sitze aufsprang, um den Tisch herumkam und seinen Kopf mit beiden Armen umfing, »wenn du mir sagst, daß du die ganze deutsche Literatur mit deinem Gedicht über den Haufen rennst, ich glaube dir alles! alles!«

Sie küßte ihn leidenschaftlich auf den Kopf.

»Papa,« sagte sie, indem sie den Bruder umschlungen hielt, »es ist doch wahr – er ist nun einmal unser Hausgenie!«

Papa Nöhring lachte seelenvergnügt vor sich hin.

»Ja, ja, aber verzieh du nur den Schlingel nicht zu sehr und verdreh' ihm nicht den Kopf.«

Percival machte sich aus den Armen der Schwester frei und ergriff diese an beiden Händen.

»Die und verziehen?« Mit großen runden Augen blickte er zu ihr auf.

»Na, hör' mal, Papa, du kennst aber Herrn Oberlehrer Freda Nöhring nur schwach.«


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