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Ganz erhitzt kam Percival zu Mittag nach Hause. Er hatte ja solch eine Masse von Besorgungen gehabt! Erst der Besuch bei Wallnows, wo alles wohl und munter war und tausendmal grüßen ließ, dann ein Sprung auf die Regierung, um nach seinen Akten zu sehen – na, und auf der Regierung, da war denn die Geschichte natürlich schon herum; vom Kanzleidiener an hatte alles ihn mit neugierig fragenden Augen angesehen, sobald er eingetreten war. »Ist's wahr? ist's denn wahr?« Dann waren die Regierungsräte und die Kollegen angerückt, auf sein Zimmer. »Nöhring – was hör' ich? Ist's wahr? Ist's denn wahr?« Und nun ein Händeschütteln, ein Gratulieren, eine allgemeine Freude –.
Er fiel dem Vater plötzlich um den Hals wie jemand, dem das Herz davon übergeht, daß er bei den Menschen so viele Freunde hat und Liebe genießt. Papa Nöhring klopfte ihn verständnisvoll auf den Rücken.
Von der Regierung dann auf die Redaktion des städtischen Wochenblatts, um die Verlobungsanzeige aufzugeben, und von da zum Lithographen, um Anzeigekarten zu bestellen. Denn das erforderte doch der Anstand.
»Natürlich, das erforderte der Anstand.«
»Wollen wir denn nun nicht zu Tisch gehen?« unterbrach Freda den unablässigen Bericht.
»Ja, ja, wir wollen zu Tisch gehen; der Junge kann ja beim Essen weitererzählen.«
Beim Essen erzählte er dann weiter; von der Hauptsache hatte er ja noch gar nicht gesprochen, nämlich von der wahrhaft liebenswürdigen Art, mit welcher der Regierungspräsident seine Anzeige aufgenommen hatte.
»Ah so – du bist also persönlich zu ihm gegangen?«
Natürlich war er persönlich zu ihm gegangen – das erforderte doch der Anstand.
»Ja freilich, freilich, das erforderte der Anstand.«
»Na? und der war so nett also gewesen, der Regierungspräsident?«
»Aber ich kann's dir wirklich gar nicht beschreiben, Papa!« An beiden Händen hatte er ihn genommen.
»Das ist mir eine erwünschte Gelegenheit, Nöhring, Ihnen zu sagen, daß ich mit Ihnen zufrieden bin. Sie sind ein tüchtiger, begabter, strebsamer junger Mann; werden mal ein brauchbarer Beamter werden.« Dazu hatte er ihn auf die Schulter geklopft.
»Hört, hört!« unterbrach Papa Nöhring.
»Ja, nicht wahr? Der Regierungspräsident, der doch verschrien war wegen seiner Unzugänglichkeit – ›Und nun haben Sie sich verlobt?‹ hatte er weiter gesagt, ›ist vernünftig, ist recht; kenne Ihre Fräulein Braut, ist eine scharmante junge Dame. Nun will ich Ihnen einen Rat geben, Nöhring; das war der erste Streich, und der war gescheit –‹«
»Der erste Streich?«
Freda war's, die so fragte – es war das erste Wort, das sie hervorbrachte.
»Ja, ja – er war ordentlich witzig geworden, der Regierungspräsident – ›nun lassen Sie möglichst bald den zweiten folgen, das heißt, machen Sie Ihr Examen. Wenn Sie sich dranhalten, nehme ich Sie als Assessor an meine Regierung, und ich glaube, ich kann Ihnen in Aussicht stellen, daß Sie dann in nicht zu ferner Zeit hier als Regierungsrat angestellt werden.‹«
Papa Nöhring griff über den Tisch nach Percivals Hand.
»Junge – wenn das alles so käme – du, als Regierungsrat hier am Ort –?«
Der Gedanke machte ihn ganz glückselig. Percivals Augen leuchteten mit den seinigen um die Wette. »Nicht wahr, Papachen? Nicht wahr?«
»Dann wirst du dich nun wohl bald daran machen, an dein Examen?«
»Aber natürlich doch, sofort; alt und grau wollen wir doch wahrhaftig nicht werden, bis daß wir heiraten.«
Papa Nöhring schob sich vom Tische ab.
»Denn, siehst du, mein Junge, wir müssen doch nun mal ernsthaft über diese Dinge reden; ohne Anstellung, das heißt ohne Gehalt wenigstens, kannst du natürlich nicht heiraten, das wirst du ja begreifen.«
Ja natürlich begriff er das.
»Denn, siehst du, ein reicher Mann bin ich ja keineswegs, das brauch' ich dir wohl nicht erst zu sagen. Und Thereschen ist ja ein liebes Ding – und – ich sage es ja nicht deshalb – das weißt du ja wohl – aber ein Goldfisch ist sie doch auch keineswegs.«
»Das könnte man ihr nicht nachsagen. Nein.«
Nein; preußische Appellationsgerichtsräte pflegen ihren Kindern keine Schätze zu hinterlassen, wenn sie sterben, und Theresens Vater, der Appellationsgerichtsrat Wallnow, hatte davon keine Ausnahme gemacht.
»Darum, siehst du, mein Junge, auch mit Gehalt und allem, was ich dir etwa geben könnte, werdet ihr euch dennoch sehr nach der Decke strecken müssen; denn was das Leben eigentlich kostet, lernt man ja immer erst, wenn man verheiratet ist. Sekt für alle Tage – dazu wird's nicht reichen; nicht mal zu Wein.«
Percival klopfte den Vater auf die Hand.
»Wenn wir Sekt trinken wollen, kommen wir zu dir 'rum, Papa!«
Der Regierungsrat lachte.
»Kommt nur; solange es welchen bei mir gibt, sollt ihr davon abbekommen – vorausgesetzt, daß Freda die Kellerschlüssel dazu hergibt.«
Er schaute zu der Tochter hinüber; Freda gab keine Antwort. Noch nie im ganzen Leben hatte sie mit so völlig abwesender Seele mit Vater und Bruder zusammengesessen. Es war ihr, als wenn sich zwei fremde Menschen über Dinge unterhielten, die sie nicht begriff.
War das Percivals zukünftiges Leben, wovon die beiden sprachen? Wirklich? Diese Zukunft, aus der es nach engen Stuben, nach schlechter Küche, nach »armen Leuten« roch, das seine Zukunft? Gehalt ergattern, Beamter werden, in der Tretmühle gehen, das war's, woran sie sich ergötzten, wofür sie sich begeisterten? Sie war wie benommen. Als der Vater sich an sie wandte, war es, als müßte sie sich auf sich selbst besinnen.
»Du wolltest ihm ja die Depesche zeigen?«
Sie sagte es, nur um irgend etwas zu sagen.
Richtig, das hatte Papa Nöhring doch beinahe vergessen. Er holte das Telegramm hervor, und Percival las es durch. Die Wirkung war nur mäßig; er schmunzelte und reichte es zurück. Seine Gedanken hatten offenbar keine Zeit, jetzt nach Meiningen zu wandern; sie waren hier verankert »bei seiner Therese«.
Auch behielt man jetzt keine Muße, sich mit Schottenbauer und dessen Stück zu beschäftigen. Kaum daß man von Tisch aufgestanden war, kamen die Verlobungsanzeigen vom Lithographen an.
Nun hieß es beraten, wer alles eine Anzeige bekommen sollte, und dann: die Adressen schreiben.
Dazu mußte Freda mit heran. Am runden Tisch im Salon saß sie mit Percival und schrieb; die Tischplatte bedeckte sich mit einem Haufen von Kuverts.
Als die Arbeit endlich vollbracht war und Freda sich mit einem Seufzer erhob, klingelte es schon wieder.
Wer kam denn nun?
Wer anders als Mutter Wallnow und Therese, die jetzt ihrerseits anrückten, um bei Nöhrings Kaffee zu trinken.
Natürlich – Wallnows und Nöhrings, Nöhrings und Wallnows, das war von jetzt alles eins, ein Haus, eine Wirtschaft, ein Kuddelmuddel, es kostete Freda geradezu Anstrengung, die beiden Frauen auch nur mit der notdürftigsten Liebenswürdigkeit zu empfangen.
Und dazu kam nun auch noch Percivals Zärtlichkeit gegen seine Braut, die entsetzliche Zärtlichkeit. Sie waren hier ja zu Hause, also brauchte er sich keinen Zwang anzutun; und er tat sich keinen an, nicht den allermindesten, nein. Es war Freda immer unangenehm gewesen, wenn Brautleute sich vor den Augen anderer herzten und küßten – jetzt wurde es ihr geradezu widerwärtig, unerträglich. Sie ging hinaus, sie konnte es nicht mit ansehen, wie die beiden »sich ableckten«. Sie ging in den Garten, in die freie Luft; es war, als wenn der »Arme-Leute«-Geruch, den sie vorhin verspürt hatte, sie überall verfolgte. Und das ging von ihm aus, von ihm, der bisher in ihrem Leben gestanden hatte wie ein grünender Waldbaum, aus dessen Zweigen die Erquickung auf den Wanderer herniederweht.
Als sie zweimal um den Garten herumgegangen war, hörte sie schon wieder die Klingel im Hause vorn anschlagen. Beinahe mußte sie lachen. Das wurde ja ein Gasthof, wo sie wohnte, nicht viel besser als eine Kneipe! Indem sie den Flur betrat, vernahm sie die Stimme des neuen Ankömmlings und wußte, wer es war. Fräulein Nanettchen, die natürlich schon alles erfahren hatte und nun, bevor sie noch eine Anzeige erhalten, hergestürmt kam, um ihren Jubel und ihre Begeisterung zu entladen.
Das Haus dröhnte förmlich wider. Als Freda in das Zimmer kam, sah sie, wie Percival und Therese in Nanettchens Armen soeben platt gedrückt wurden; dann wandte sich diese ganze verkörperte Zärtlichkeit auf sie, auf Freda.
»Nein, aber sag' mir, einziges Kind, wie ist dir denn zumute? Bist du denn nicht ganz glückselig? Ich bin ja rein entzweigegangen vor Freude, als ich es gehört habe!«
Sie wischte sich die Augen. Ein Vorteil war es, daß sie gar keine Antwort verlangte; so brauchte Freda nichts zu sagen. Nachdem sie diese aus den Armen gelassen, wandte sie sich wieder zu dem Bräutigam zurück, und dann bekam auch Mutter Wallnow ihre Umarmung. Von einem ging sie zum andern, mit immer erneuten Zärtlichkeitsbeteuerungen – »ungefähr wie ein Ballon,« stellte Freda für sich fest, »dem man das Ventil öffnet, damit er nicht platzt«.
Die Tränen der Rührung standen Nanettchen noch in den Augen, als man sich im Speisezimmer zum Kaffee setzte. Beim Genusse des anregenden Getränks aber ging die Rührung in sanfte Heiterkeit und die sanfte Heiterkeit allmählich in ausgelassene Lustigkeit über. Es wurde ein wahres Kaffeebacchanal. Als Nanettchen erfuhr, das Percival möglicherweise hier am Orte Regierungsrat werden würde, kannte sie sich nicht mehr vor Entzücken.
»Kinder, Kinder, von morgen fang' ich an, mich nach einer Wohnung für euch umzusehen! So ein huschliches, muschliches Nest! Nicht wahr? Mit einem Blick ins Grün? Und für das arme alte Nanettchen ist auch noch ein Plätzchen hinterm Ofen frei? Nicht wahr? Gott – Kinder – Kinder – Freda, mein Engel, gib mir noch eine Tasse Kaffee!«
Dann wandte sie sich wieder an Therese Wallnow.
»Meine geliebteste Regierungsrätin in spe, bei deiner Schwägerin mußt du dir das Rezept geben lassen, wie man Kaffee kocht; besseren Kaffee als den Nöhringschen gibt's auf Gottes weiter Welt nicht mehr!«
Nun aber wollte sie fort, denn es war ja schon ganz spät geworden. Aber es stand in den Sternen geschrieben, daß sie heute abend nicht so früh davonkommen sollte, denn im Augenblick, da sie aufsprang, kam ein Getrappel von Schritten durch den Salon; Papa Nöhring erschien und mit ihm Tante Löckcken und Herr Major a. D. Bennecke. Sogar die braune Diana stattete abwechslungshalber einen Besuch bei Nöhrings ab.
Mit Jubelgeschrei wurden die Ankömmlinge begrüßt; die kaum besänftigte Fröhlichkeit schlug jetzt in haushohen Wellen auf; Freda bekam alle Hände voll zu tun, um in der Eile ein Abendessen herzurichten.
Als sie zur Tür hinaus wollte, stand Therese Wallnow plötzlich neben ihr.
»Freda – kann ich dir nicht ein bißchen behilflich sein?« Das Wort kam so bittend heraus; man merkte dem armen kleinen Dinge das Verlangen an, im Herzen der Schwägerin ein wenig besser angeschrieben zu stehen.
Freda sah sie mit einem erstaunten Lächeln an.
»Aber Kind – was würde dein Bräutigam dazu sagen? Nein, nein, du gehörst in den Salon.«
Damit war sie hinaus und warf die Tür hinter sich zu. Therese ging in den Salon, und es war ihr, als ginge sie in die Verbannung.
Freda klapperte draußen mit Tellern und Schüsseln, machte sich krampfhaft zu schaffen und kam fürs erste nicht wieder nach vorn.
Nachher, beim Abendessen, saß sie schweigsam und wie geistesverloren unter diesen fröhlichen, plaudernden Leuten. Von Zeit zu Zeit sah sie sich mit einem träumenden Blick um – es war ihr, als säße sie an einem fremden Ort unter lauter fremden Menschen.
Kaum daß man abgespeist hatte, sprang Fräulein Nanettchen vom Stuhle.
»Kinder, ich kann mich nicht mehr halten, ich muß ein Klavier unter die Finger bekommen und Musik machen!«
Das war ein Gedanke!
»Musik! Musik!« Alles ging in den Salon; gleich darauf erdröhnten die Tasten unter Nanettchens Händen.
»Percival,« wandte sie sich an diesen, nachdem sie ein stürmisches Präludium heruntergerast hatte, »nun mal ran hier! Zeig', daß du als Bräutigam das Singen nicht verlernt hast!«
Percival räkelte sich.
»Aber Tantchen – nach dem Abendbrot singen?«
Sogleich aber erhob sich die allgemeine Stimme.
»Ah was! Nur zu!«
Er trat an das Klavier und blätterte unter den Noten.
»Was soll ich denn singen?« Er schien wirklich nicht recht bei Stimmung.
»Freda – gib mir doch mal deinen Rat!« Freda saß an der Tür, dem Klavier gegenüber, und gab keine Antwort.
Nun wählte er irgendein gleichgültiges Lied aus, das er mit seiner hübschen Baritonstimme ziemlich gleichgültig heruntersang. Während des Gesangs aber schien er Feuer zu fangen; sobald er geendigt, griff er nach einem andern Notenheft und stellte es auf das Pult.
»Aha, etwas Zweistimmiges«, sagte Nanettchen, indem sie einen vieldeutigen Blick zum Sofa hinüberwarf, wo Therese Wallnow saß. Percival lachte und wurde etwas rot; dann, den Blick in der nämlichen Richtung entsendend wie Nanettchen, setzte er mit kräftigem Ton ein:
»O säh' ich auf der Heide dort Im Sturme dich, im Sturme dich, Mit meinem Mantel vor dem Sturm Beschützt' ich dich, beschützt' ich dich.«
Im Augenblick, als er begann, wurde Freda leichenblaß; lautlos stand sie auf und ging hinaus. Dies Lied war ihr Lieblingslied gewesen. Das Herz im Leibe schlug ihr, sooft er es sang, obschon eine keusche Scham sie abhielt, ihn darum zu bitten. Immer war sie es gewesen, die mit ihm über die Heide ging, um die er seinen Mantel warf. So süß war der Traum gewesen, so beseligend das Bild – Bruder und Schwester Arm in Arm, Herz an Herz.
»O wär' mit seinen Stürmen dir Das Unglück nah, das Unglück nah,
setzte jetzt Nanettchen ein –
Dann wär' dies Herz dein Zufluchtsort, Gern teilt' ich ja, gern teilt' ich ja!«
Das war sie ja selbst, die da sprach; ihre Seele, die aus den Worten des Dichters widerklang! Ob ihr Herz sein Zufluchtsort hatte sein sollen! ob sie hatte teilen wollen mit ihm! Und nun – mit ansehen zu müssen, wie er sich bei den Worten von ihr hinweg zu der andern wandte, die da im Sofa drüben saß mit ihrem runden, kleinen, vergnügten Gesicht und es sich eben gefallen ließ, daß ihr das, was eines Menschen Lebensinhalt gewesen war, wie ein Kotillonbukett vor die Füße gelegt wurde! Nun zu wissen, daß sie nie wieder mit ihm über die Heide gehen, nie seinen Arm um sich geschlungen fühlen, nicht bei ihm sein würde, wenn der Sturm des Lebens erbrauste – daß er dahin war und zu Ende, der ganze, große, selige Lebenstraum – dahin für immer, immerdar –
In den Winkel hinter dem Ofen, in den dunkelsten Winkel hatte sie sich gedrückt. Die Töne des Liedes wurden ihr zu einer furchtbaren Qual; wie das letzte Aufleuchten der Sonne über der Heimat, von der man für immer Abschied nimmt; – das Herz schwoll ihr im Leibe, die Tränen brachen aus ihren Augen – sie riß das Taschentuch hervor, ballte es zu einem Klumpen und stopfte es sich in den Mund, damit nur die da nebenan ihr Weinen nicht hörten! Denn das kam ja zu allem noch hinzu, all den Jammer verbergen und verstecken zu müssen wie ein Verbrechen, wie eine heimliche Schande, wie den Wahnsinn, von dem die andern nichts merken dürfen.
Endlich hielt sie es nicht länger aus; sie ging hinaus auf den Flur, die Treppe hinauf; auf dem Flur droben wanderte sie auf und ab, und endlich, endlich, endlich kam sie zu ihren Gästen zurück.
Niemand hatte ihre Entfernung bemerkt, und wenn man sie bemerkt, so hatte man sie mit ihren Hausfrauenpflichten erklärt.
Ein Weilchen saß man noch, dann brach alles auf. Percival begleitete Wallnows nach Hause. Papa Nöhring war so guter Laune, daß er sich auch noch anschloß.
»Kommst du nicht auch noch mit, Freda?«
Nein – sie hatte noch im Hause zu tun.
»Immer die sorglich waltende Hausfrau«, erklärte Herr Major a. D. Bennecke.
Tante Löckchen umarmte sie.
»Kindchen, du siehst mir ein bißchen blaßschnäbelig aus. Nimm's Leben nicht gar zu ernst! Setz dich in den Wagen und laß dem Herrgott die Zügel! Das ist der beste Kutscher.«
Setz' dich in den Wagen und laß ihn laufen – ja, ja – so viel hatte sie in den letzten Tagen auch nun erfahren, daß die Schicksalsrosse, die unsern Lebenswagen ziehen, stärker sind als die Hand des Menschen, der sie leiten möchte.
Alles ging, und sie blieb allein. In den Räumen, wo eben lustig schwatzender Lärm geherrscht hatte, trat Schweigen ein, und nun erst wurde sie sich ganz bewußt, was für ein öder Tag, was für ein leerer Abend es gewesen war.
Hastig löschte sie alle Lichter aus. Sie wollte den Vater und den Bruder nicht mehr erwarten; sie konnte mit niemand mehr sprechen, auch mit den beiden nicht, mit ihnen beinahe noch weniger als mit den andern. Sie ging in ihr Schlafzimmer, um mit sich allein zu sein.
Bevor sie sich indessen zur Ruhe begab, sank sie vor ihrem Bett in die Knie, drückte Arme und Gesicht in die Kissen und lag so lange Zeit.
Sollte das nun so weitergehen? Alle Tage so wie dieser? Schauderhafter Gedanke!
Worüber hatte man sich den ganzen Abend unterhalten? Über die Aussichten in der Beamtenlaufbahn, über Wohnungsverhältnisse, Lebensmittelpreise, lauter Dinge, die ihr gleichgültig und zuwider waren. Merkwürdig, daß man nicht auch über Kinderwindeln und Ammen gesprochen hatte!
Als wenn eine stillschweigende Vereinbarung unter allen diesen Menschen bestände, daß es nun Zeit sei, von Torheiten zurückzukommen und vernünftig zu werden, Zeit, daß der »Dichter« Percival aufhörte und ein regelrechter Mann würde, ein Beamter, ein Ehemann, ein ordentliches Mitglied der ordentlichen Gesellschaft.
Und so bereitwillig ging er ja darauf ein! »Laß mich in Ruh' mit deinen sogenannten großen Zielen! Der Alltag ist die Wirklichkeit, und die Wirklichkeit hat recht!« Also gab es auch für sie von nun an nichts weiter als den Alltag und den Kleinkram des Lebens! Denn Percivals Leben war ja doch das Leben des Hauses Nöhring. Aber das konnte sie ja nicht aushalten, darin erstickte sie ja! Und plötzlich war's als wenn ein Glockenton durch das Zimmer hallte:
»Das Stück schlägt seine Augen auf.«
Sie fuhr mit dem Kopf in die Höhe; es war, als wenn jemand das Wort laut ausgesprochen hätte.
Ja – das war's. Da, wo das Wort herkam, da tat sich die Welt auf.
Ob sie wollte oder nicht – es half ihr nichts; ihre Gedanken schwangen sich herum, dahin, wo jener zur Stunde weilte, nach dem Ort, wo jetzt auch ein Schicksal geschmiedet ward, aber anders als hier, nicht mit Ammenweisheit und Kleinkindergeschrei, zu dem Menschen, der in die Nacht hinausgestürmt war, der Ungewißheit entgegen wie ein Komet, der seine Bahn noch nicht kennt, der aber seinen Weg finden wird, weil eigenes Licht ihm leuchtet.
Ob es die Wirkung in die Ferne war? Ober er jetzt im fernen Meiningen an sie dachte? Ob er auf seiner Stube saß und schrieb? Ob seine Phantasie die Arme nach ihr ausstreckte und sie zu sich zwang und an sich riß?
Etwas Derartiges mochte es sein.
Es war ihr, als stände etwas hinter ihr wie ein großer Schatten, als dürfte sie sich nicht umwenden, weil dann der Schatten Fleisch und Blut gewinnen, die Arme um sie schlingen und sie an sich pressen würde in verzehrendem Kuß. Ein Angstgefühl hielt sie an die Stelle gefesselt, wo sie kniend lag; ihre Glieder zitterten.
Es half also nichts; das Unabwendbare kam, kam dennoch. Der Wagen rollte, in dem sie saß, und die Schicksalsrosse gingen ihren Lauf.
Dazu war es ihr, als hörte sie das stammelnde Flüstern von seinen Lippen: »Siehst du, daß du nun doch hast kommen müssen?« Als sähe sie in seinem Gesicht das Lächeln, das übermütige, sieghafte, verhaßte, verhaßte Lächeln. –
Mit einer verzweifelten Anstrengung riß sie sich empor und sprang auf – niemand war da.
Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn; ihre Lippen flogen. »Noch hast du mich nicht! Noch hast du mich nicht!«
Als sie sich aber zu entkleiden begann, zauderte sie unwillkürlich. Niemand bedrohte ihre jungfräuliche Einsamkeit. Dennoch zögerte sie, als fürchtete sie sich, als fühlte sie, daß sie alsdann ganz schutz- und hilflos dem dunklen Etwas gegenüber sein würde, das Schritt für Schritt herangezogen kam.
Wer bewahrte, wer rettete sie davor, wenn sie sich nicht selbst zur Wehr setzte? Niemand.
Also mußte sie, wie die Walküre, sich in den Panzer hüllen und sich selbst verteidigen.
Endlich hörte sie die Pforte unten gehn – Percival und der Vater waren nach Haus gekommen.
Hastig warf sie die Kleider ab und flüchtete ins Bett.
Dann löschte sie das Licht, und indem sie die Augen schloß und an nichts mehr zu denken sich vornahm, kam ihr die Erinnerung an seine Depesche zurück, und daß er versprochen hatte zu schreiben, und ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen war, was er wohl schreiben würde.