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Fräulein Therese Wallnow, die dicht neben Benneckes auf derselben Seite des Wassers wohnte, wurde vor ihrer Haustür abgesetzt; die übrigen wandten sich, um über die große Brücke den Weg zur Stadt zu gewinnen.
Papa Nöhring führte Fräulein Nanettchen, Herr Rechtsanwalt Feßler ging neben beiden; Freda hatte sich in Percivals Arm gehängt, und sie schritt so langsam, daß zwischen ihnen und den Vorauswandelnden ein Zwischenraum entstand.
Der Wind hatte sich erhoben und fegte in schweren Stößen, wie der beklommene Atem des Winters, den Strom entlang.
Das Wasser ging mit Eis. Wenn man stromaufwärts blickte, wo ein fahler weißlicher Schimmer den nächtlichen Himmel erhellte, so sah man, wie die Schollen in endlosem Zuge einhertrieben. Wie ein Volk von wandernden Tieren, beinahe wie Wölfe in grauen Pelzen sahen sie aus. Unter der Brücke schoben sie sich mit dumpfem Rauschen hindurch, an der Bohlenbekleidung der hölzernen Brückenjoche rieben sie sich, an den Pfosten, die vor den Brückenjochen standen, bäumten sie sich auf. Dann entstand eine Stauung, eine kurze Hemmung in dem treibenden Gange; klirrend brachen einzelne Schollen in Stücke, andre wälzten sich darüber und tauchten sie unter die Oberfläche des Wassers, daß es aussah, als kämpften sie miteinander wie lebendige Geschöpfe. Ein Gurgeln, Seufzen und Ächzen tönte von drunten herauf wie die sinnlose Stimme ohnmächtiger Wut, und unter der Brücke sah man sie dann wieder hervorkommen und weitertreiben, den Fluß hinunter, in endloser Masse, in rastlosem Gange, weiter und weiter. Freda war an das Brückengeländer getreten und stehengeblieben; dabei hatte sie den Bruder mit sich gezogen.
»Sieh das«, sagte sie, indem sie in die Tiefe hinunterblickte.
»Was soll ich sehen?« fragte Percival.
»Nun – das; es ist doch ein großartiger Anblick.«
»Ja, ja,« entgegnete er, »wenn's noch ein paar Tage so weitergeht, wird das Eis sich gesetzt haben.«
Dann schlug er den Mantelkragen höher, weil ihm der eisige Wind um die Ohren pfiff.
»Nun komm aber,« mahnte er, indem er Freda vom Brückengeländer fort und an sich zog, »hier in der Kälte stehenbleiben – da holt man sich mit unfehlbarer Sicherheit Husten und Schnupfen, und du weißt, ich brauche mein Organ.«
Sie setzten ihren Weg fort; Freda huschte sich eng an seine Seite; dabei lachte sie leise.
»Dein Organ,« meinte sie, »na ja – aber solch einen Anblick kannst du doch erst recht gebrauchen.«
»Zu was denn?«
Sie drückte seinen Arm mit ihrem Arme. »Aber Junge, zu was! Ein Dichter muß doch große Eindrücke in sich aufnehmen, wenn er große Gedanken aussprechen will? Und du willst doch ein großes Gedicht machen?«
»Ein – großes Gedicht?« Dann lachte er auf.
»Du denkst wohl gar an den Prolog?«
»Warum nicht?« entgegnete sie. »Tante Löckchen hat dir ja doch gesagt, daß er feierlich und erhaben werden soll.«
»Na ja, weil das Nanettchen, die Begeisterungstante, ihr die Idee eingegeben hat! Ihr habt mich schön hineingelegt mit dem verdammten Prolog!«
Freda drückte wieder seinen Arm.
»Du mußt dir nur Mühe geben,« sagte sie, »weißt du, ich bin furchtbar gespannt, was du schreiben wirst.«
Percival lachte. »Ich auch, das kann ich dir versichern.«
»Traust du dir's denn zu?« forschte sie, indem sie die Augen zu ihm erhob.
»Vorläufig will ich mir die Sache beschlafen«, versetzte er, dann schritten sie eine Zeitlang schweigend ihren Weg dahin.
»Manchmal aber«, fing Percival wieder an, »bist du doch wirklich urkomisch, Freda. Sag' mir in aller Welt, wie du darauf kommst, während du auf das Treibeis hinuntersiehst, an den dämlichen Prolog zu denken?«
»Aber Heißsporn,« entgegnete sie, »ich hab's dir ja doch erklärt?«
»Bloß des großen Eindrucks wegen?«
Sie nickte stumm vor sich hin.
»Ja, aber weißt du,« sagte er, »ich glaube eigentlich, daß ich mehr Talent zum Humoristen habe. Wie hat dir denn mein Toast heute abend gefallen?«
Freda schüttelte den Kopf.
»Ach, Junge, an so etwas muß man doch gar nicht mehr denken, wenn es vorbei ist.«
Die Dunkelheit verhinderte sie, zu sehen, wie er ärgerlich errötete.
»Na ja,« murrte er, »du bist auch immer die Kritische. Den andern hat er doch sehr gut gefallen; du hast doch gehört, was Onkel Bennecke gesagt hat?«
Sie drückte sich an ihn, so daß ihr Gesicht dicht neben dem seinigen war.
»Gott – Percy, Junge – du weißt doch, was ich darum gäbe, wenn man einmal von dir sagen könnte, du wärest ein Dichter von Gottes Gnaden. Aber das mußt du doch einsehen, daß man das noch nicht ist, weil man Braten auf Salaten reimt?«
Er lachte unwillkürlich auf. »Ist es denn nicht wahr?« fragte sie.
»Fahren Sie nur fort, Herr Oberlehrer,« erwiderte er, »ich halte still.«
»Nun ja,« redete sie eindringlich auf ihn ein, »und darum hab' ich heute abend zugestimmt, daß du den Prolog übernehmen solltest, weil ich wirklich möchte, daß du dich mal an etwas Ernsthaftes, Größeres machtest. Gott – solch ein Prolog – das weiß ich ja recht gut, ist auch noch nicht die Welt; aber es ist doch ein Anfang. Und siehst du, wenn du nun etwas zustande brächtest, etwas wirklich Großes und Schönes, daß die Menschen wirklich aufrichtigen Respekt vor dir bekommen müßten – Gott – Junge – Junge – Junge!«
Sie drückte seinen Arm und drückte ihn wieder, und an ihrer Bewegung fühlte er die leidenschaftliche Zärtlichkeit, mit der sie an ihm hing.
Er wußte kaum, was er sagen sollte, und blickte stumm vor sich hin. »Du bist doch wirklich anders als all die andern«, bemerkte er dann.
Freda war so mit ihren Gedanken beschäftigt, daß sie dies kaum zu hören schien.
»Und übrigens,« fuhr sie fort, »um noch einmal auf das Treibeis zurückzukommen – siehst du – da ließe sich doch gleich ein sehr guter Anfang zu deinem Prolog finden, sollt' ich meinen –«
Percival wurde aufmerksam. »Wie denn?« fragte er.
»Nun – ich meine nur ungefähr – wenn man so den Gegensatz zeigte, wie da draußen kalte, finstere Nacht ist, und wie der Strom mit Eis geht, und wie es dagegen bei Tante Löckchen warm und schön gemütlich ist –«
»Donnerwetter,« unterbrach er sie, »das ist ja aber eine ganz famose Idee! Hör' du, Freda, weißt du was? Wir wollen den Prolog zusammen machen. Hast du Lust?« Sie neigte beinahe ernsthaft das Haupt.
»Gott, Percy, wenn ich Gedichte machen könnte, wollt' ich sie dir alle schenken, daß du deinen Namen draufsetzen und sagen könntest, du hättest sie gemacht – das kannst du mir glauben –«
»Aber?« fuhr er wieder dazwischen.
Sie seufzte und lachte zugleich.
»Ja – aber es geht eben nicht; ich kann absolut keine Gedichte machen.«
»Ach was, jemand, der solche Gedanken im Kopfe hat!« wandte er ein.
»Du kannst mir trotzdem glauben«, versicherte sie. »Nicht einen Vers bring' ich zustande. Ich hab's ja oft genug probiert; nicht einen Vers, nicht einen Reim. Es ist wirklich merkwürdig, aber es ist einmal so.«
»Also bloß Kritik?« fragte er.
Freda atmete aus tiefer Brust.
»Wie soll man's schließlich anders nennen – aber eigentlich ist's doch was andres; eine wahre Wonne, siehst du, wenn ich so ein recht schönes, bedeutendes Gedicht lese, und einen kolossalen Respekt fühl' ich vor einem, der so etwas kann. In der Beziehung, siehst du, bin ich wohl Papas Tochter, denn er hat ja auch solch ein Vergnügen daran, und doch hat er eigentlich niemals ein wirkliches Gedicht zustande gekriegt. Das Können, siehst du, das hast du mitbekommen.«
»Wollen's wenigstens hoffen«, entgegnete er lachend.
Freda schob sich die Pelzboa tiefer am Halse hinunter; in der Erregung war sie ganz warm geworden.
»Wollen mußt du's, Percy, wollen, wollen, wollen!«
Sie hatte sich aus seinem Arm gelöst und schlang den Arm um seine Hüften. Beschwichtigend nahm er ihre Hand und legte sie wieder in seinen Arm.
»Aber Freda, laß mir doch Zeit, sei doch vernünftig! Ich kann dir doch jetzt nicht versprechen, daß ich ein großer Dichter werden will; höchstens, daß ich mir Mühe geben will –«
»Mehr verlange ich ja nicht«, warf sie eifrig ein; »willst du dir denn Mühe geben? Ja?«
»Ja, ja,« versetzte er, halb lachend, halb ernsthaft, »Mühe will ich mir geben, und du sollst nachher zu lesen bekommen, was ich fertiggekriegt habe.«
Sie hüpfte vor Freude auf und riß ihn so heftig nach ihrer Seite, daß Percival beinahe ins Schwanken geriet.
»Aber nun hör' auf,« mahnte er, »gib Ruh!«
»Wenn ich dir nur helfen könnte,« flüsterte sie leidenschaftlich, »die ganze Nacht wollt' ich dazu aufbleiben!«
Ihr Arm zuckte in dem seinigen, ihre Augen hingen an seinem Gesicht.
»Siehst du, wenn ich einmal Respekt vor dir bekommen könnte, so einen großen, riesigen Respekt – daß ich klein vor dir würde, ganz winzig, und zu dir aufschauen müßte wie eine Maus zum Löwen – Gott – Junge – Percy, Heißsporn –«
In diesem Augenblick waren Papa Nöhring und Fräulein Nanettchen vor deren Haustür angelangt und stehengeblieben. Man wartete auf Percival und Freda, und als diese herangekommen waren, gab es von Nanettchens Seite noch einen Abschiedskuß für die eine und einen letzten Händedruck für den andern.
»Gute Nacht, Dichter meiner Seele«, sagte Nanettchen, und Percival nickte ihr gedankenvoll zu. Das Gespräch mit der Schwester hatte ihn so sonderbar gestimmt, daß er bei Nanettchens Worten, zu denen er sonst gelacht haben würde, ernsthaft blieb.
An der nächsten Straßenecke verabschiedete sich Herr Rechtsanwalt Feßler, und nun setzte die Familie Nöhring ihren Weg allein fort. Freda hatte den Bruder losgelassen und sich in den Arm des Vaters gehängt; Percival schritt vor ihnen her, indem er den Kopf bald zur Erde senkte, bald wieder, wie einem Gedanken nachjagend, emporwarf.
Papa Nöhring beugte sich zu seiner Tochter.
»Du,« flüsterte er, auf Percival deutend, »er dichtet wohl schon an seinem Prolog?«
Freda, den Finger auf den Mund gelegt, nickte dem Vater schweigend zu.
Geräuschlos, als fürchteten sie, ihn in seinem Schaffen zu stören, schritten sie hinter ihm drein, beide nur einen Gedanken im Kopfe und ein Gefühl in der Brust: den Stolz ihres Hauses, Percival Nöhring.