Ernst von Wildenbruch
Schwester-Seele
Ernst von Wildenbruch

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Siebentes Kapitel

Alle diese nächtlichen Beängstigungen wurden aber, wie Nebeldünste, von der Sonne aufgesogen, die strahlend am nächsten Morgen aufging. – Einige Tage später begab man sich auf die Reise nach Monako.

Als sie am Bahnhof erschienen, hatte Freda wieder einmal Gelegenheit, sich wegen ihrer nordischen Gespensterseherei auszuschelten; sie waren nicht die einzigen Reisenden. Das ganze Hotel, so schien es, flog nach Monako aus. Scharen von schwatzenden Herren und Damen standen auf dem Bahnsteig und warteten des Zugs, der von San Remo kam.

Im Augenblick, als Freda sich nach dem Führer umsehen wollte, war er schon an ihrer Seite; aus einer der lachenden Gruppen trat er hervor, und mit der gewohnten, beinahe demonstrativen Höflichkeit begrüßte er Herrn und Fräulein Nöhring.

»Fahren diese Herrschaften alle nach Monako?« wandte sich Freda an ihn.

Ein unmerkliches Zwinkern war in seinen Augen.

»Zum größten Teil wohl nach Monte Carlo.«

»In die Spielsäle?« fragte Papa Nöhring.

Der Fremde lächelte.

»Es geht gegen das Ende der Saison.«

Der Regierungsrat mochte sich aus dieser unbestimmten Antwort herauslesen, was ihm beliebte.

In diesem Augenblick kam der Zug herangebraust, und nun drängte alles in die Kupeés.

Die Abteilung, in welche Nöhrings einstiegen, war sogleich überfüllt; die Gewandtheit des Begleiters aber wußte es einzurichten, daß sie beide Eckplätze nach der See hinaus erhielten, so daß sie in die ganze aufgetane Herrlichkeit hinausblicken konnten.

Als er schräg gegenüber von Freda Platz nahm, sah er sie mit einem fragenden Blick an.

»Merkst du, daß es gut ist, wenn man sich meiner Führung anvertraut?« Konnte sie anders, als schweigend bestätigen, daß es so war?

Sie kam aber bald zu der Erkenntnis, daß der Reisemarschall ihnen heute nicht ausschließlich angehörte; die übrige im Kupeé anwesende Gesellschaft, namentlich der weibliche Teil, nahm ihn beständig mit Fragen in Anspruch, auf die er Auskunft erteilen mußte. Nur zum geringsten Teil verstand sie, um was es sich handelte, weil das Gespräch hauptsächlich auf italienisch geführt wurde – jedenfalls aber schien es höchst aufregende Gegenstände zu betreffen, denn die Stimmen der Damen wurden immer lauter, beinahe kreischend, eine nervöse Röte färbte ihre Wangen, und das Sprechen wurde allmählich zum Geschnatter.

Mißmutig wandte der Regierungsrat das Gesicht ab, zum Fenster auf die See hinaus, an deren Erhabenheit jene dort vorüberfuhren, als wäre sie gar nicht vorhanden.

Freda tat ihm gleich und genoß das wunderbare Landschaftsbild.

Auf dem Felsen droben, der hinter ihnen zurückblieb, sah sie das alte Städtchen Vordighera, mit seinen steinernen Häusern in sich zusammengekrochen, die aussahen wie ein Schwarm von Vögeln, die sich vor dem Sperber ducken. Sie hatte gelesen, daß die Ortschaften an diesen Küsten alle in der Art gebaut waren, vom Ufer rückwärts in die Felsen hinein, damit die Bewohner einigermaßen vor der Überrumpelung durch Seeräuber geschützt wären. Unwillkürlich, indem sie die Wellen in unermeßlicher, unablässiger weißer Schaumlinie an die Küste anrollen sah, vergegenwärtigte sie sich, wie das in alten Zeiten gewesen sein mochte, wenn plötzlich die spitz geschnäbelten Piratenboote über die Flut herangeschossen kamen.

Wie die Fischer, die am Strande mit ihren Netzen beschäftigt waren, dann kehrtgemacht haben und mit gellendem Geschrei zur Stadt hinauf geflüchtet sein mochten! Wie man dort oben Türen und Tore geschlossen und verbarrikadiert haben mochte! Und wenn das da unten nun angelangt war und ans Ufer sprang – wie sie ausgesehen haben mochten, diese Piraten –

Furchtbare Gestalten, sehnig und sonnenverbrannt, mit glühenden Augen im Kopf und spitzen Bärten und schlachtenden Messern im Gurt.

Wie den Frauen dort oben zumute gewesen sein mochte, wenn die Räuber heraufgeklettert kamen, mit Geheul, die gezückten Messer in der Faust, so daß die nackten Klingen in der Sonne auflechzten wie Zungen, die nach Blut dürsten. Wenn dann das Krachen der Beilhiebe gegen die Tore begann, wenn die Männer, die sich zur Wehr setzten, niedersanken, einer nach dem andern, blutend, röchelnd – und wenn dann endlich der letzte gräßliche Augenblick kam – wenn man gepackt wurde von zwei nackten, haarigen, blutbesprengten, furchtbaren Armen, gepackt und fortgerissen ohne Rücksicht auf Jammer, Tränen, Klagen und Geschrei –!

Sie schauderte unwillkürlich unter ihrer Phantasie und schüttelte das Haupt, als wollte sie die schrecklichen Bilder hinauswerfen. Dabei fiel ihr Blick auf den fremden Mann, der schräg gegenüber von ihr saß.

Er war in eifrigem Gespräch mit den andern Damen. Ohne daß er es bemerkte, konnte sie ihn von der Seite betrachten.

Eine der Damen hatte eine mit Ziffern bedeckte Papptafel hervorgeholt, die sie ihm hinhielt und über die sie sich lebhaft mit ihm unterhielt.

Freda konnte sich den Zweck dieser Tafel nicht erklären, aber sie sah, wie er mit dem Zeigefinger darüber hin und her fuhr, wie er der Dame Erklärungen dazu machte, Anweisungen gab – sie sah, wie ihm die Augen dabei im Kopfe glühten – wie der spitze Bart, indem sein Kinn beim Sprechen auf und nieder ging, in die Luft stach – der lange spitze Nagel an dem Zeigefinger und dieser Zeigefinger selbst, der nervös über die Tafel fuhr, bald hier auf eine Ziffer tupfend, bald dort – sah er nicht wie eine Kralle aus, wie eine Raubvogelkralle?

Und plötzlich kam ihr ein ganz abenteuerlicher Gedanke: hätte man nicht wirklich meinen können, es säße dort drüben solch einer, wie die waren, von denen sie eben geträumt hatte – ein Pirat? Freilich nicht mit aufgestreiften Ärmeln, nicht mit dem Messer im Gurt, sondern in der geschniegelten, gebügelten, parfümierten Toilette des neunzehnten Jahrhunderts – aber dennoch –

Es wurde ihr ganz kalt im Rücken.

Im nächsten Moment wandte er sich zu ihr herum – und wieder hatte sie Gelegenheit, sich über ihre aufgeregten Nerven zu schelten, die ihr jetzt wirklich einen Streich nach dem andern spielten.

Dieses gleichmäßige, ruhige Gesicht, dieser höfliche, aufmerksame, verbindlich lächelnde Mann – der und ein Pirat – mein Gott, mein Gott – die heiße Luft der Riviera war ihrem Gehirn, wie es schien, wirklich unzuträglich!

»Das ist Mentone«, erklärte er, zum Fenster hinausdeutend und auf die schmucken Häuser zeigend, an denen sie soeben vorbeifuhren. Seine Stimme, die vorhin, während er mit den andern Damen sprach, aufgeregt und beinahe heiser geflüstert hatte, war klar und glatt wie gewöhnlich; er schien so beflissen, die Gegend, durch welche sie dahinfuhren, zu erklären, als hätte er die ganze Zeit über an nichts andres gedacht.

Freda blickte stumm zum Fenster auf die Stadt hinaus, die in reizenden Terrassen zum Meere hinabstieg. Sie war so verlegen, daß sie kein Wort hervorzubringen vermochte. Wie so gar nicht sie sich doch an die große Welt zu gewöhnen lernte!

Eine kurze Strecke rollte der Zug noch weiter, dann hielt er vor einer Treppe an, die in breiten marmornen Stufen zu einem Gebäude emporführte, dessen prachtvollen Giebel man über der Treppe aufragen sah.

Die Kupeetür wurde aufgerissen. »Monte Carlo!« Die Damen und Herren, die im Wagen saßen, sprangen auf und drängten zum Ausgang.

»Wir sind am Ziel«, wandte sich der Reisemarschall lächelnd an die beiden Nöhrings, die ruhig auf ihren Plätzen verharrten.

»Ich denke aber doch, wir wollen nach Monako?« brummte der Regierungsrat. »Das hier, höre ich, ist Monte Carlo?«

»Der Bahnhof von Monte Carlo«, erwiderte er, immer mit dem gleichen verbindlichen Lächeln, »ist zugleich der von Monako; wir gehen von hier nachher hinüber oder fahren mit einer Droschke, wenn die Herrschaften es vorziehen.«

»Soso –«, es half also nichts; man mußte aussteigen, und dann mußte man auch die Treppe hinauf, auf die Terrasse, auf welcher das Spielsaalgebäude steht.

»Die reine Mausefalle,« murrte Papa Nöhring, »wundert mich nur, daß sie nicht auch noch Fußangeln gelegt haben, damit niemand an dem Mordloch vorbei kann, ohne hineinzufallen.«

Freda hörte ihm mit schweigendem Lächeln zu; der Reisemarschall, der elastischen Schrittes die Stufen voraussprang, schien ihn gar nicht vernommen zu haben. Jetzt waren sie oben angelangt, und nun sahen sie sich gegenüber den mächtigen Felsen von Monako, durch eine kreisrunde Meeresbucht von ihrem Standpunkt getrennt. Auf dem Felsen droben, wie eine Zinnenkrone, erhoben sich die Häuser und Dächer des Städtchens, um seine Kanten lief ein dichter Gürtel von Bäumen und grüner Vegetation, so daß er wie mit einer Girlande geschmückt erschien – rechts, so weit das Auge reichte, hoch aufragende, graue, kahle Felsenmassen, und über diesen die Schneefelder der Seealpen – das alles flimmernd im goldenen Sonnenlicht.

»Finden Sie es schön?« fragte der Begleiter mit siegesgewissem Lächeln.

Freda atmete statt aller Antwort aus tiefster Brust auf. Der Regierungsrat stand versunken in den herrlichen Anblick. Solcher Gewalt der Schönheit konnte sich niemand entziehen.

Sie wandten sich und schritten um das Gebäude herum. Die Terrasse war rechts und links mit Restaurationspavillons besetzt, mit Blumenanlagen geschmückt; wenn man umhersah, glaubte man einen Ausschnitt aus Paris zu erblicken.

»Möchten die Herrschaften sich die Geschichte nicht einmal in der Nähe ansehen?« fragte jetzt der Begleiter.

Man war am Eingange des Spielsaales angelangt, der sich auf der Hinterseite des Gebäudes befand. Menschengruppen standen vor der Tür, fluteten hinein und heraus, plaudernd, lachend.

»Das also ist das berühmte und berüchtigte Monte Carlo«, sagte Freda, indem sie zu dem Hause emporsah.

»Sie sehen,« versetzte der Führer, »es ist nicht so gefährlich, wie es in den Zeitungen geschildert wird.«

Er lachte laut, beinahe ein wenig verächtlich, und er hatte recht; man konnte sich kaum etwas denken, was einen stärkeren Eindruck von leichtlebig fröhlichem Daseinsgenuß gemacht hätte.

Sein Vorschlag war in gleichgültigstem Ton gemacht worden – »wenn ihr nicht wollt – mir liegt gewiß nichts daran« – in gleicher Weise fuhr er jetzt fort: »Ich schlug es den Herrschaften nur vor, weil ich meinte, daß es doch schließlich interessant ist, eine Sache, von der man tagtäglich in den Zeitungen liest, einmal mit eigenen Augen gesehen zu haben.«

Dann kniffen sich seine Lippen zu einem Lächeln zusammen.

»Ein Zwang zum Spiel besteht ja keineswegs. Man zeigt einfach seine Visitenkarte vor, dann wird man hineingelassen und hat vollkommene Freiheit, zu tun und zu lassen, was man will. Wenn man will, geht man einfach durch die Säle hindurch, sieht sich das Spiel an und geht wieder hinaus – falls man sich nicht im Lesezimmer hinsetzen und eine Zeitung lesen will.« Er wandte sich an den Regierungsrat.

»Ein Lesezimmer wie hier finden Sie nirgends – alle Zeitungen der Welt!«

Seine Berechnung hatte ihn nicht getäuscht; der Hinweis auf das Lesezimmer stimmte den Regierungsrat, der bis dahin immer noch störrisch ablehnend gestanden hatte, offenbar günstiger. Freda sah man an, daß ihr vor Ungeduld schon längst der Boden unter den Füßen brannte.

»Aber nur, um gerade einmal hindurchzugehen«, meinte Papa Nöhring.

Im nächsten Augenblick hatte der Reisemarschall ihre Visitenkarten in der Hand, die er im Bureau vorwies. Dann kam er zurück, und alles war abgemacht. Papa Nöhring sah hinter ihm drein.

»Der Kerl ist ja hier wie Kind im Hause?«

Unter seiner Führung begab man sich in die Spielsäle. An der Tür war ein Gedränge; er bot Freda den Arm.

»Jetzt sind Sie in der Hölle«, flüsterte er ihr zu, indem sie eintraten; in seiner Stimme war der verhaltene Hohn, den sie schon einmal gehört hatte.

»Glauben Sie, daß der Himmel schöner möbliert ist?«

Freda sah sich um. Wenn es die Hölle war, so war der Teufel jedenfalls ein reicher Mann, und es fehlte ihm nicht an Geschmack. Der weitläufige Saal strotzte von schwerem Prunk.

An den Längswänden standen die Roulettetische, und um diese drängten sich die Besucher, Männer und Frauen; andere gingen im Saal auf und nieder, teils für sich, den Kopf zur Erde, die Hände in den Hosentaschen, teils zu zweien, gestikulierend, fragend, antwortend. Alles aber sprach halblaut, so daß in dem großen, weiten Raum ein dumpfes Summen und Surren war, aus welchem das harte Klappern der rollenden Kugeln und die blechernen Stimmen der Croupiers grell hervortönten.

Ehe Freda es bemerkte, hatte ihr Führer sie an einen der Tische herangezogen, so daß sie dicht vor einem der Roulettes, mitten unter den Spielern stand. Nun sah sie Männer, die gleichgültig bequem an den Tisch gelehnt standen, in die Tasche griffen, goldene Zwanzigfrankstücke aufsetzten und, wenn diese verloren waren, wieder in die Tasche griffen und einen neuen Haufen Goldstücke hervorholten; sie sah Frauen, die sich zwischen den Männern herandrängten und mit nervös zuckenden Händen ihren Einsatz machten, häufig noch einmal zugreifend, den Einsatz von dieser Ziffer auf jene schiebend und wieder zurück, bis daß das blecherne »rien ne va plus« des Croupiers ihrem Schwanken ein Ende machte; sie sah den Croupier, der hinter seinem Haufen von Gold- und Silbermünzen auf erhöhtem Stuhle thronte und mit Augen, kalt und gleichgültig wie die eines gesättigten Geiers, jede Handbewegung der Spielenden und jeden Einsatz beobachtete; endlich gewahrte sie dicht neben sich einen alten, kahlköpfigen Mann, der am Tisch saß und das Spiel mit heißen, stieren Augen verfolgte.

Er beteiligte sich nicht selbst daran; er hielt eine Ziffertafel, wie sie sie heute im Kupee gesehen hatte, in Händen, und sobald die Kugel gefallen und ein Gang beendet war, punktierte er mit einer Stecknadel auf der Tafel herum.

»Der berechnet Chancen,« hörte Freda die höhnisch flüsternde Stimme ihres Begleiters neben sich, »alle halbe Stunde einmal macht er einen Einsatz, und sitzt vom Morgen bis zum Abend.«

Sie hätte kaum sagen können warum – aber dieser alte Mann erweckte ihr einen unsäglich widerwärtigen Eindruck.

Indem sie neben und über ihm stand, konnte sie seinen kahlen, von einigen spärlichen silbernen Locken umrahmten Schädel sehen – und unter diesem ehrwürdigen Dach lugte ein Gesicht hervor, so gierig, so mit dem abscheulichen Stempel der Habsucht gezeichnet, so –

Mit einem unwillkürlichen Schauder wandte sie sich ab.

»Hätten Sie nicht Lust, einmal auch Ihr Glück zu probieren?« vernahm sie jetzt die heisere, drängende Stimme des Begleiters.

Sie gab ihm keine Antwort – sie konnte nicht. Es war ihr, als ob die ungesunde Glut, die auf all diesen Gesichtern lag, sich plötzlich wie eine dicke, schwere, atemberaubende Last auf ihre Brust legte.

»Wir – wollten ja nur hindurchgehen«, stammelte sie hervor. Sie sah sich um und sah den Vater inmitten des Saales stehen, und sah, wie er mit verwunderten, verblüfften Augen umherschaute und das fremdartige Schauspiel in sich aufnahm.

Wie anders sein Gesicht aussah als die Gesichter dieser Menschen ringsumher! Wie edel, kindlich und rein! Wie das Gesicht eines Menschen, der hier nicht hergehörte, den ein böser Zufall, ein Irrtum hierher verschlagen hatte!

Mit einem Schritt war sie bei ihm und hing an seinem Arm.

»Komm, Papachen.«

Im nämlichen Augenblick stand der Begleiter an ihrer Seite.

»Wollen Sie nicht den Trente-et-Quarantesaal ansehen? Er ist wirklich sehenswert.«

Freda strich sich über die Stirn; ihr Blick glitt über ihn hin; ganz nahe stand er vor ihr, äußerlich unverändert, korrekt und glatt wie immer, trotzdem fühlte sie, daß etwas in ihm vorging, etwas Dunkles, schwer zu Beschreibendes. Als wenn die schwüle Atmosphäre des Spielraumes ihn angesteckt hätte, in ihn eingedrungen wäre und nun mit lodernden, züngelnden Flammenspitzen aus seinen Augen, seiner Stimme, seiner ganzen Persönlichkeit hervorleckte – so kam es ihr vor.

»Der Saal ist von Pariser Malern mit Fresken ausgemalt«, fing er noch einmal an. »Kunstwerke ersten Ranges!«

Er wollte sie festhalten, sie fühlte es; zugleich aber war ein dumpfes Bewußtsein in ihr, daß, wenn sie jetzt nachgäbe, sie fürderhin nie mehr zu widerstehen imstande sein würde. –

»Ich glaube – es ist zu heiß hier für meinen Vater,« stotterte sie, »es ist besser – wir gehen jetzt an die Luft und nach Monako hinüber.«

»Ja, natürlich«, erklärte der Regierungsrat.

Wie mit einem Zauberschlag verwandelte sich das Gesicht des Fremden; alle Erregung verschwand und machte einem liebenswürdigen Lächeln Platz.

»Gehen wir also nach Monako, die Herrschaften haben vollkommen recht; nachher würde es zu heiß dazu werden.« Der Mund stand ihm kaum einen Augenblick still, während er mit ihnen von der Terrasse von Monte Carlo zum Strande hinunter und dann durch den zwischen Monte Carlo und Monako gelegenen Stadtteil Condamine hindurch zum Felsen hinüberschritt. Er war der heiterste, plauderhafteste Cicerone, den man sich vorstellen konnte.

Auf Zickzackwegen stieg man am Felsen empor, und oben angelangt, schlug man einen Pfad ein, der um die Brüstung des Felsens rund um die Stadt herum führte.

Es war ein zauberhaft schöner Weg.

In schwindelnder Höhe ging man über dem Meere dahin, das tiefblau, beinahe ultramarinfarbig von drunten heraufleuchtete und mit leichten Schaumkämmen an die senkrechten Felsen anspülte; wild wachsendes Geranium umwucherte wie eine grüne Wildnis Wege und Stege, senkte sich in langen, schwebenden Ranken an den Felswänden hinab und erfüllte die Luft mit einem Gewölk von Duft; auf den Wellen drunten wiegten sich Möwen und badeten ihr weißes Gefieder in der dunkelblauen Flut.

Mit geöffneten Lippen trank Freda die reine, köstliche Luft ein. Nie hatte sie die Heiligkeit der Natur so tief empfunden wie jetzt, da sie eben von da drüben herkam, wo der Mensch inmitten dieses Paradieses dem scheusäligen Gotte Mammon seinen Tempel errichtet hatte. Es war ihr, als wäre sie schmutzig geworden, als hätte sie in einem Hause voll ansteckender Krankheit verkehrt und als müßte sie sich rein baden von dem allem.

Der Rundgang dauerte lange, denn alle fünf Schritt blieb Papa Nöhring stehen, um den immer wechselnden, stets aber bezaubernden Ausblick zu genießen. Endlich war man bis zu der Terrasse gelangt, wo sich das Residenzschloß der Fürsten von Monako erhebt, und wo einige Kanonen ältesten Kalibers und einige ebenso altmodische Haufen von eisernen Kanonenkugeln dem Ganzen einen kriegerisch gewichtigen Anstrich verleihen sollten.

Der Führer konnte sich gar nicht genug tun in schnöden Witzen über diese Kanonen, diese Kugelhaufen und über die Soldateska Monakos, von der man ein Mitglied als Schildwache vor dem Palast schildern sah, in einer so schreiend überladenen Uniform, daß es aussah, als wenn ein Feldmarschall auf Posten stände.

Ob sie wollten oder nicht – Nöhrings mußten zu seinen boshaften Bemerkungen lachen, und ihre Heiterkeit wurde eine ganz rückhaltslose, als jetzt mit gravitätischen Schritten ein alter gezähmter Rabe herangehumpelt kam, dem man die Flügel gestutzt hatte und der hier auf der Terrasse, wie es schien, in Pension lebte.

»Huckebein! Das ist ja Hans Huckebein!« jubelte Freda. Es war seit langer Zeit der erste Ausdruck unbefangener Fröhlichkeit, der sich von ihren Lippen rang.

Der Reisemarschall trieb allerhand Possen mit dem Raben, mit dem er gut bekannt schien; endlich bekam auch Freda Lust dazu. Sie wollte ihn mit ihrem Sonnenschirm necken, aber der Führer warnte:

»Nehmen Sie sich in acht; der Kerl schnappt zu und ist imstande, Ihnen ein Loch in den Schirm zu reißen.«

Nun streckte sie ihm die Fußspitze entgegen, und klapp – ehe sie sich's versehen, war der schwarze Bursche darauf losgefahren und hatte die Spitze ihres gelben Lederschuhes mit seinem Schnabel gefangen.

Mit einem kichernden Aufschrei fuhr sie zurück, aber der Rabe ließ nicht los. Anrufen und Drohen half nichts – es blieb nichts übrig – der Reisemarschall mußte niederknien, um sie gewaltsam von dem Vogel zu befreien.

Während er mit der rechten Hand nach dessen Schnabel griff, um ihn zu öffnen, umfaßte seine Linke ihren Fuß. Eine Glutwelle schoß in Fredas Wangen auf – sie fühlte, wie seine Hand sich mit heißem Druck um die Wölbung ihres Spanns preßte. Als er sich nach vollbrachtem Werk erhob, war sein Gesicht dunkel gerötet – vielleicht war ihm das Blut zu Kopfe gestiegen, während er kniete.

Glücklicherweise schnitt jetzt der Rabe, der davonhumpelte und fortwährend entrüstete Blicke zurückwarf, ein so komisches Gesicht, daß alle drei in lautes Lachen ausbrachen.

So kam man über den peinlichen Moment hinweg, und in dieser angeregten Stimmung wurde beschlossen, frühstücken zu gehen.

»Wo denn aber?«

»Ja freilich – hier oben in Monako gab es keine Gelegenheit dazu. Am besten wäre man natürlich in Monte Carlo drüben aufgehoben gewesen – aber wenn das den Herrschaften nicht paßte – in Condamine unten gäbe es auch ein paar passable Restaurationen.«

Also zog man nach Condamine hinunter, und bald darauf saß man bei einem guten Frühstück, zu dem man moussierenden Asti-Wein trank, ein süßes, aromatisches Getränk, das Freda außerordentlich zusagte.

Verdurstet wie sie war, trank sie hastig ihr Glas aus und, als dasselbe wie durch Zauberschlag neu gefüllt wieder vor ihr stand, auch noch ein zweites. Der Begleiter zeigte sich so beeifert, ihr wieder und immer wieder einzuschenken, daß sie lächelnd abwehren mußte. Er beruhigte sie aber, »es wäre ein ganz unschuldiger Wein«.

Nachdem man in Gemächlichkeit gegessen und getrunken hatte, wurde Rechnung gemacht. Freda zog das Portemonnaie aus der Tasche.

»Also wirklich,« meinte der Reisemarschall, »es war mir doch neulich schon in Dolceacqua so vorgekommen – Sie führen die Reisekasse?«

Freda lachte. Ja, in der Tat, sie führte die Kasse.

Sie hielt das geöffnete Portemonnaie in der Hand und blickte auf die Rechnung nieder; dabei entging es ihr, wie der Mann an ihrer Seite einen raschen lauernden Blick in ihre Geldtasche warf, gleich als wenn er ihre Barschaft überzählte.

Was aber nun? Der nächste Eisenbahnzug nach Bordighera war erst in zwei Stunden fällig – was sollte man bis dahin beginnen?

»Wie wäre es, wenn man sich bis dahin in das Lesezimmer drüben setzte?« ,

Natürlich. – Der Gedanke leuchtete ein. Also zog man nach Monte Carlo in das böse Haus zurück.


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