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Daß er glücklicher Vater eines hübschen Sohnes war, das hatte Herr Regierungsrat Nöhring im Laufe der Jahre ja wohl sattsam erfahren. Daß aber auch sein Töchterchen, wenn es darauf ankam, dem Bruder an Schönheit nichts nachgab, dessen wurde er sich eigentlich heute zum erstenmal bewußt, als er am Morgen des großen Tages, an dessen Abend die Aufführung im Hause Bennecke stattfinden sollte, mit seinen Kindern zusammenkam.
Wie merkwürdig sah Freda heute aus!
Eine fremdartige Erregung war in ihr, die ihre Wangen mit Glut überhauchte und aus ihrer ganzen, für gewöhnlich so herb geschlossenen Persönlichkeit heraus atmete.
Der strenge Körper war weich geworden; sie war wirklich schön.
Seit frühestem Morgen schleppte sie sich mit einer Toilette von meergrünem Krepp, an der sie bastelte und nähte, und die sie nur während des Frühstücks beiseitelegte.
»Das wird ja aber ganz was Prachtvolles, wie es scheint«, sagte Papa Nöhring, indem er lächelnd auf das Kleid blickte, das auf einem Stuhle neben ihm lag.
Freda griff wieder zur Arbeit.
»Heute ist dem Jungen sein Ehrentag«, erwiderte sie. »Heute abend wird Staat gemacht!« Mit zärtlichen, beinahe verliebten Augen sah sie zu Percival hinüber. Dieser lächelte vor sich hin. Sie war doch wieder einmal »urkomisch«, die Freda. Sein Ehrentag – sie wußte doch, wie es mit dem Prolog bestellt war. Erst gestern abend – und jetzt – wollte sie sich denn selbst etwas weismachen?
Er hatte es so ziemlich getroffen. Es war ein geradezu krampfhaftes Bestreben in ihr, sich vorzunehmen, daß das Gedicht, das Percival heute abend sprechen würde, von ihm selber verfaßt sei. Die Menschen würden es glauben; ihr Entschluß war gefaßt: sie wollte es die Menschen glauben lassen.
Percival schwankte noch; das merkte sie, das wußte sie. Darum eben hatte sie gehandelt, wie sie getan, hatte ihn auf den Weg gestoßen, den er gehen sollte, denn sie wollte es nun einmal. Wollte ihn gefeiert und bewundert sehen heute abend, wollte sich einmal im Leben wenigstens an dem Triumphe berauschen, der ihm bereitet wurde. Würde sich ein zweites Mal Gelegenheit dazu bieten? Da er doch nun einmal da war, der andre!
Das, was sie vorhatte, hieß ja täuschen und lügen – freilich – aber gleichgültig – sie konnte nicht anders, sie mußte!
Es war wie ein Fieber in ihr, das ihr die Glut in die Wangen und den Rausch ins Gehirn trieb.
Sie war die Stärkere von beiden, darum konnte sie dem Bruder vorangehen, darum ging sie ihm voran. Daß er ihr nachfolgen würde, wenn er sie auf dem Wege vor sich erblickte, das wußte sie.
Ob die Liebe zu ihm allein imstande gewesen wäre, das Wahrheitsgefühl in ihr so zu unterdrücken, wer weiß – aber der Haß gegen den andern kam hinzu, und nun war sie unzugänglich für die Vernunft, gefeit aber auch gegen Schwäche. War's denn auch eine Schuld, daß sie ihn bewahren wollte, ihren Percy, vor diesem andern, diesem – diesem – der sich natürlich jetzt schon höhnisch über Percival erhob? Und wenn's denn also Schuld war – gut denn und wohlan! So war sie es, die den Bruder dazu getrieben hatte, seine Schuld fiel auf sie; für ihn wurde sie schuldig, für ihn duldete sie und litt; war's denn nicht ein wonnevolles Gefühl, das zu wissen? Was hätte sie denn nicht alles für ihn getan, für den Percy, den Heißsporn, den Geliebten! Wenn man glühende Kohlen auf den Weg gestreut hätte, den sie beide gehen mußten, würde sie ihn nicht zurückgestoßen haben und voraufgeeilt sein, damit die Glut erloschen wäre, wenn er herankam? Und wenn man von ihr verlangt hätte, daß sie mit nackten Füßen die feurigen Kohlen zerträte, würde sie sich besonnen haben? Sie würde lachend Schuh' und Strümpfe abgestreift und lachend den sengenden Schmerz ertragen haben, weil sie wußte, daß er nun ihn nicht mehr verletzen würde, der hinter ihr drein kam. Darum, weil sie wollte, daß er heute abend alle Augen gefangennehmen und alle Köpfe verdrehen sollte, mußte sie ihm Kraft und Mut und Selbstvertrauen einflößen; darum mußte sie heiter sein und fröhlich den Tag hindurch, darum wollte sie sich putzen und schön sein heute abend, damit sie neben ihm stände wie der strahlende Widerschein seiner eigenen Persönlichkeit, wie der Genius des Siegs, als die würdige Schwester eines solchen Bruders!
In solcher Erregung verging ihr der Tag, und diese Erregung mochte die Ursache sein, daß ein Vorgang, der sich im Laufe des Nachmittags abspielte, ein an sich ganz harmloser Vorgang, ihr einen so merkwürdig fatalen Eindruck machte: als sie nämlich am Nachmittag, noch immer mit ihrem Kleide beschäftigt, am Fenster ihres zu ebener Erde nach der Straße gelegenen Zimmers saß und zufällig hinausblickte, sah sie unter den Bäumen, die auf der gegenüberliegenden Seite der Straße den Fußweg einfaßten, einen eilig schreitenden Mann daherkommen, bei dessen Anblick sie zusammenzuckte. Es war der, welchem sie gestern auf der Brücke begegnet war. Wie er nur gerade heute hier vorüberkam? Hatte sie ihn doch früher nie auf diesem Wege erblickt!
Hastig senkte sie das Gesicht auf ihre Arbeit; die Hände aber ruhten, und die Augen spähten aus dem Winkel nach ihm aus.
Wie gestern, so ging er auch heute, die Hände auf dem Rücken, den Kopf an der Erde. Aber jetzt – was war das? Indem er näher kam, verlangsamte sich sein Schritt, sein Kopf hob sich empor, und seine Augen musterten, als wenn sie etwas suchten, die gegenüberliegenden Häuser.
Indem er ihr Haus und die Hausnummer über der Tür ins Auge faßte, sah er aus, als hätte er gefunden, was er suchte, als wollte er stillstehen und sich dieses Haus genauer betrachten. – War das alles nur eine Täuschung? Aber nein – sie sah ja doch ganz deutlich, wie er langsam, langsam und immer langsamer ging, als würde es ihm schwer, an dem Hause vorüberzugehen, als könnte er sich gar nicht entschließen, weiterzukommen. Und jetzt – indem eine plötzliche Glut, wie eine Stichflamme, über ihr Gesicht zuckte – sprang Freda vom Stuhle auf und vom Fenster hinweg in die Stube hinein – jetzt hatte er sie ja dort am Fenster sitzen sehen und offenbar erkannt, und ein Blick war zu ihr hinübergeschossen – wie hatte Percival gestern gesagt? »Tiefe Augen hat der Kerl und wunderbare Gedanken in seinem Kopfe.«
Mitten im Zimmer stand sie da, so weit vom Fenster entfernt, daß sie sicher war, hier von ihm nicht mehr gesehen zu werden, während sie wahrnehmen konnte, wie er langsam, und indem der Kopf wieder niedersank, seinen Weg fortsetzte. Sie wußte nicht, was sie sagen, was sie denken sollte, kaum, was sie fühlte.
Eine Täuschung war ja gar nicht möglich. Er hatte zu ihr hinübergesehen! Offenbar hatte er erfahren, daß dieses das Nöhringsche Haus sei, und an den Fenstern dieses Hauses hatte er jemand gesucht, und dieser Jemand – das war sie? Freda schüttelte sich am ganzen Leibe; ihr war zumute, als hätte sie eine tödliche Beleidigung erfahren. Sie war ganz außer sich, ganz kochend von Entrüstung.
Dieser Wurzelmann – dieser Käfer – dieser Molch – und das machte Fensterparade vor ihrem Hause! – Das fahndete mit den Augen und warf Blicke – und was für Blicke! Also war er wohl etwa gar – sie reckte sich lang auf, dann brach sie in ein lautes häßliches Lachen aus.
Sie trat an das Fenster, stützte beide Hände auf das Fensterbrett und schaute hinaus in der Richtung, in der er gegangen war. Er war nicht mehr zu sehen. Schade! Ihre Lippen zuckten. Wenn er jetzt noch da drüben gestanden hätte, wahrhaftig, sie wäre imstande gewesen, zu ihm hinüberzublicken und ihm ein Gesicht zu schneiden oder etwas Ähnliches, wie böse, ungezogene Mädchen tun, die jemand zeigen wollen, daß sie ihn verachten, verabscheuen und hassen.
Sie setzte sich auf den Stuhl zurück und nahm ihre Arbeit wieder vor. Immer wieder aber unterbrach sie sich, um hinauszuschauen, immerfort zuckten und bebten ihr die Lippen, ohne daß Worte hervorkamen, und immer wieder lachte sie dazwischen auf, mit dem harten, bösen Lachen von vorhin.
Das Blut in ihr siedete und wallte wie das brodelnde Wasser im Kessel, unter dem eine Flamme brennt.
Endlich war sie mit ihrer Arbeit fertig geworden, und nun war es auch Zeit, sich anzuziehen; es dunkelte bereits. Sie raffte das seidene Kleid auf und schwang es empor. »Jetzt wird Staat gemacht«, sagte die Bewegung.
Sie wußte ja nun, daß es der Mühe wert war, wenn sie sich putzte, hatte ja erfahren, was für Eroberungen zu machen sie imstande war!
Eine schöne Eroberung das! Eine famose Geschichte! Wahrhaftig! In ihrem Schlafzimmer, das im oberen Stock nach dem Garten hinaus lag, brannten schon die Lampen; die Sachen lagen bereit; sie brauchte nur hineinzuschlüpfen. Dort standen die Schuhe von meergrüner Seide, dem Kleide entsprechend, das sie anzuziehen gedachte. Daneben lagen die schwarzseidenen Strümpfe.
Ganz benommen von Gedanken, begann sie sich umzuziehen. Vor ihrem Bett lag ein Bärenfell, das ihr der Vater vor zwei Jahren geschenkt hatte, ein braunes, zottiges Fell, an dem der dicke, ungeschlachte Kopf des Bären angebracht war. Sie wechselte die Strümpfe, und indem sie es tat, setzte sie den entblößten Fuß in das Fell, so daß er beinahe unter den Zotten verschwand.
Es war ein wunderschöner Fuß, mit stolz gewölbtem Spann, mit langen, regelmäßig gelagerten Zehen, ohne Tadel und ohne Fehl, der sich schneeweiß von dem dunklen Untergrunde abhob.
Sie beugte den Nacken und sah herab. Wie ein selbständiges Wesen begann der nackte Fuß in dem Bärenfell umherzuspielen, mit lüsternem Behagen sich einwühlend in den warmen, dichten Pelz. Er schlich weiter und weiter, zum Kopfe des Bären hin, und plötzlich, mit einem Ruck, setzte sie die Fußsohle mitten auf den breiten Schädel des Tieres auf.
Der Kopf stand etwas in die Höhe; sie drückte ihn mit dem Fuße nieder, und indem der Kopf herauf und hinab schnellte, war es, als würde er lebendig, als täte sich der Rachen des Ungeheuers gierig begehrlich auf. Das verursachte ihr ein tolles, kindisches, grausames Vergnügen. Sie kicherte und lachte, mit geschlossenen Zähnen, beinahe knirschend.
»Herunter, Petz! Herunter, Petz!«
Gedanken, wie sie sie nie gedacht, Gefühle, wie sie sie nie empfunden, tauchten in ihr auf. Immer wieder sah sie den Blick, der vorhin über die Straße zu ihr hinübergeflogen war und ihr gesagt hatte, daß einer da war, der nach ihr ausschaute, nach ihr verlangte, zu ihren Füßen lag.
Und dieser eine war der, den sie haßte, weil sie ihn fürchtete!
Zwischen den geschlossenen Zähnen brach wieder das knirschende Lachen hervor. Die Geschichte war ja wirklich zu toll, ganz über alle Maßen toll!
Sie stieß und trat auf dem Bärenkopfe umher, aber der Bär war nicht der Bär mehr; ein andrer war es, der da vor ihr, unter ihren Füßen lag, und diesem andern gab sie Fußtritte, ja, Fußtritte! »Stärker als Percival bist du, nicht wahr? Und darauf bildest du dir Wunder was ein, nicht wahr? Aber Freda Nöhring ist stärker als du! stärker als du!« Und sie stieß mit Sohle und Hacken und trat den Kopf, daß er flach an den Boden gedrückt wurde.
Simson war ja auch stärker als alle Männer, aber Delila dennoch stärker als er – und plötzlich taten sich ihre Augen weit auf, und mit offenen Augen versank sie wie träumend in Gedanken, die jählings wie ein neues Bewußtsein über sie herfielen.
Törin, die sie war! Wo hatte sie die Männer denn bisher gesucht? Da oben, in der reinen Höhe des Gedankens und des Geistes, während sie da unten zu finden waren, in der dunstigen Tiefe des Verlangens und Begehrens.
Und da wunderte sie sich, daß sie sie nicht gefunden hatte! Ihnen zur Seite hatte sie gehen wollen, als Teilnehmerin an ihrem Werke, als Mitarbeiterin an ihrer Arbeit – und da wunderte sie sich, daß die Männer sie hatten beiseite stehenlassen!
Was brauchten die Männer denn ihre Mitarbeiterschaft? Was fragten sie danach? Was kümmerte sie die Seele des Weibes, da sie nur eins von ihm verlangten, etwas ganz andres, seinen Leib!
Sie war von ihrem Sitz aufgesprungen; ein verachtender Hohn schnellte ihr die Lippen auseinander, daß die weißen Zähne sichtbar wurden – das also seid ihr? So also seid ihr? Wie recht ihr Instinkt sie beraten hatte, als Leib und Seele sich ihr in eisiger Kälte gegen dieses Geschlecht verschlossen.
Jetzt wußte sie, worauf es ankam diesen Männern gegenüber, was man zu tun hatte, um sie dahin zu bringen, wohin sie gehörten, an die Erde, in den Staub, daß man mit Füßen auf sie treten konnte wie auf den plumpen Schädel des Bären: Begehren mußte man erwecken, Sinnenglut und betäubenden Rausch.
Sie stand vor dem Spiegel, sie reckte die Arme, die nackten weißen Arme, sie verschränkte sie hinter dem Haupte, so daß die volle Brust sich hervordrängte, und, indem sie lächelnd, mit höhnischen Lippen, sich im Spiegel beschaute, war es, als begänne sie ein Zwiegespräch mit ihrem Gegenüber dort.
»Bin ich ausgerüstet, wie man gerüstet sein muß, wenn man auf die Bärenjagd geht?«
Und das Spiegelbild nickte »Ja«.
»Habe ich die Waffen in Händen, mit denen man es erlegt, dieses Männergeschlecht, dieses starke Geschlecht? Mit denen man es zu seinen Füßen wirft, in den Staub wirft und zum Sklaven macht?«
Und das Spiegelbild nickte »Ja, ja, ja«.
»Ja, ja, ja!« Mit einem triumphierenden Lachen warf sie die Arme empor und wandte sich ab, um sich fertig anzukleiden. Es war ihr, als wäre sie größer geworden, mächtiger geworden, als sie bisher gewesen war, als könnte sie ungeahnte Dinge vollbringen, um denen zu helfen, denen sie helfen, und um die zu vernichten, die sie vernichten wollte.
Wie glücklich doch Natur und Instinkt sie geleitet hatten, indem sie es ihr unmöglich machten, jemand anders zu lieben als einzig allein den Bruder! Das war Reinheit, das war Schönheit, und alles andre häßlich, schmutzig, pfui! Als wenn sie sich an einem Trunk eiskalten Wassers berauscht hätte, so war ihr zumute; aber diese Kälte war ja ihre Wonne.
Da war kein Zittern eines Neros, kein leisestes Glimmen des verborgensten Funkens von Sinnlichkeit, alles nur Ruhe, Besonnenheit und Kraft, ihr ganzes Innere wie kühler, fester Stahl, der die Funken sprühen läßt, an denen andere sich verbrennen, selbst aber unverletzlich bleibt gegen das Feuer.
So vollendete sie ihren Anzug, und nachdem sie fertig angekleidet war, stieg sie rauschenden Gewandes, schön und schrecklich wie eine Walküre, die Treppe hinunter, um den Wagen zu erwarten, der sie mit dem Bruder zu Tante Löckchen tragen sollte.