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Eine eigentliche Hochzeitsreise, so hatte der Herr Regierungsassessor Percival Nöhring mit seiner jungen Frau Therese, geborenen Wallnow, ausgemacht, wollte man nicht unternehmen.
Er war ja den ganzen Frühling und Sommer von Hause fort gewesen, in Berlin, wo er jetzt im Oktober sein Examen gemacht hatte. Nicht gerade ein glänzendes, aber immerhin ein befriedigendes, so daß er sogleich, mit Anwartschaft auf Beförderung, eine besoldete Hilfsarbeiterstelle an der Regierung in der Heimatstadt erhalten hatte. Und die Heimatstadt war gerade jetzt so schön! Die Büsche in den Anlagen, die Alleen und Waldungen in der Nähe und in der Ferne, alles noch im reichsten Blätterschmuck, leise vergoldet, aber noch nicht vergilbt vom Anhauche des Herbstes, der zögernd, als bedauerte er den armen Sommer, den er verdrängen mußte, in die Welt geschritten kam.
»Eigentlich die schönste Zeit vom ganzen Jahr«, hatte der Regierungsrat Nöhring gemeint, der soeben, kurz vor der Hochzeit seines Sohnes, nach Hause gekommen war und sogleich mit seinem alten Freunde, dem Herrn Major a. D. Bennecke, einen herzhaften Spaziergang gemacht hatte.
Er war zufrieden, der Regierungsrat Nöhring, sehr zufrieden. Die alten bekannten Wege – es war ja, als wenn einem der Boden unter den Füßen wippte und federte, indem man darauf entlang ging! Und die Bäume! Sahen sie einen nicht an, als wollten sie sagen: »Na? wieder da? Wo bist du denn solange gewesen?« Und weil der Regierungsrat Nöhring sich freute, war auch der Major a. D. Bennecke innerlichst vergnügt, und die Zufriedenheit des Herrn Majors Bennecke wirkte wieder ansteckend auf die alte braunseidene Diana, die schweifwedelnd vor ihnen hertrottete, jeden Baum beschnüffelte und mit jedem Prellstein die Bekanntschaft erneute, dabei immerfort zu den beiden Alten zurückblickend, als wollte sie sich vergewissern, daß keiner davon verlorengegangen sei.
Und nicht die alte braune Diana allein, sondern alles, was sonst noch an den beiden alten Menschenkindern hing, Familie Nöhring und Familie Bennecke, samt Freunden und Bekannten brummelte und brodelte in lauter stiller Freude, Zufriedenheit und Beglücktheit.
Im Frühling, als man auseinander ging, war es eigentlich so ungemütlich gewesen, und jetzt war die alte Gemütlichkeit zurückgekehrt, wie eine Luft, an die man gewöhnt ist; etwas dick vielleicht, aber so behaglich, warm und mollig, mollig! Tante Löckchen zog durch die Straßen mit großen, runden, stillglänzenden Augen. Die Lockentrauben an ihren Schläfen klingelten nicht nur, sie läuteten wie ferne Kirchenglocken.
Energischer in ihrer Freudenbezeigung war Fräulein Nanettchen, die wie eine fidele Kugel durch die Straßen rollte, wie eine Kegelkugel, die da weiß, daß sie »alle Neune« umwerfen wird. Eigentlich hatte sie schon »alle Neune« geschoben, denn sie hatte sich Verdienste um das junge Paar erworben, große Verdienste, indem sie, im Verein mit Herrn Rechtsanwalt Feßler, eine Wohnung für dasselbe gesucht und gefunden hatte, eine »huschliche, muschliche«, allerliebste Wohnung, mit einem Blick ins Grüne. Ihren Dank hatte sie denn auch schon empfangen, in reichlichem Maße, bei Gelegenheit der Rede, die Herr Regierungsassessor Percival Nöhring bei der Hochzeitstafel gehalten hatte. Es ist ja sonst nicht üblich, daß junge Ehemänner beim Hochzeitsmahl sprechen; junge Eheleute haben zu schweigen und stillschweigend über sich ergehen zu lassen, was der Redestrom der andern über sie dahinführt, Erbauliches und Vertrauliches, Ernstes und Scherzhaftes. Sie haben zu lauschen und bescheiden zu erröten, wenn eine Breitseite von Anerkennung auf sie abgefeuert wird, mit ernster Miene auf den Teller zu blicken, wenn freundlich-sanfte Vermahnungen an sie ergehen, und bescheiden zu lächeln, wenn der »Humorist« der Gesellschaft zum Wort greift. Laut lachen ist eigentlich auch schon zuviel für sie.
Herr Assessor Percival Nöhring aber, der sich ja in so manchem von den herkömmlichen Regeln der Gesellschaft emanzipierte, hatte auch bei dieser Gelegenheit seinen Freiheitsdrang bekundet und das Rednertalent, das er doch nun einmal besaß, »nicht halten« können. Zu einer fulminanten Rede hatte er sich erhoben, um für sich und seine Therese für all die Liebe zu danken, die ihnen in so überreichem Maße zuteil geworden sei und die sie »in aufrichtig gerührten, treubewahrenden Herzen hegen, pflegen und weitertragen würden.«
Als das stürmische Bravo, das diesen Worten gefolgt war, sich gelegt, hatte er sich noch in unmittelbarer Anrede an Fräulein Nanettchen gewandt und ihr, indem er ihr für ihre treu geleisteten Dienste dankte, einen Strom gerührter Tränen entlockt. Erst seine Schlußwendung, in welcher er Nanettchen aufforderte, nun auch fürderhin als Stütze, gewissermaßen als »Karyatide« des jungen Haushalts fortzudienen, zu welcher Tätigkeit sie ja von der Natur vermöge ihrer robusten Körperlänge wie prädestiniert erscheine, hatte das ernsthafte Schweigen der Gesellschaft in Heiterkeit und Nanettchens Schluchzen in ein lautes Quietschen verwandelt.
Aber er durfte sich solche Scherze erlauben; man war ja unter sich, oder wenigstens so gut wie unter sich.
Zwar bedeutete die Vermählung Percival Nöhrings ein Ereignis, woran die ganze Stadt, namentlich der weibliche Teil der Einwohnerschaft, innigsten Anteil nahm. Das hatte sich bei der Trauung in der Kirche kundgegeben, wo das große Kirchenschiff in einer Weise gefüllt gewesen war, wie es der alte Geistliche, der das Paar einsegnete, bei seinen Predigten niemals erlebte. Percival Nöhring »zog« unbedingt mehr als der Herr Prediger, daran war nicht zu zweifeln.
Und als er, seine Therese am Arm, die wie ein weißes Federwölkchen neben ihm herschwebte, im Bräutigamsstaat die Kirche betrat, war es, wie wenn ein Windstoß über ein Blumenfeld dahingeht; all die Köpfe und Köpfchen von Frauen und Mädchen, von enganschließenden oder breitrandigen Hüten bedeckt, beugten sich plötzlich zueinander, und es war, als wenn ein leise verhallendes allgemeines »Ah« durch den weiten Raum ginge.
Ein Ausdruck der Bewunderung und ein Seufzer des Kummers zu gleicher Zeit – denn wieviel stillgehegte Hoffnungen flogen mit diesem »Ah« in die Luft, um in dem weiten Nichts zu zergehen wie platzende Seifenblasen, die einst in allen Farben geschillert haben und nun nicht mehr sind.
Einst hatte er keiner gehört und darum allen – jetzt gehörte er der einen und darum keiner andern mehr. Die Glückliche! Ob sie denn seiner auch wert war? Ob er schon Gedichte auf sie gemacht hatte? Ach sicherlich. Mehrfach wurden heute, nachdem die Trauung vollzogen war, aus der elterlichen Bibliothek, soweit eine solche vorhanden war, Chamissos Werke hervorgeholt und darin der Liederzyklus »Frauenliebe und Leben« aufgeschlagen. Manches holde Wangenpaar erglühte, manche junge Brust hob sich in sehnsuchtsvollem Seufzer, und in manchem Hause ging heute nachmittag das Töchterchen des Hauses in sanfter Melancholie umher.
So sah es in der Stadt aus. Beim Hochzeitsschmaus aber, wie gesagt, war man unter sich; nur Familie, engste Freundschaft und einige ganz besondere Ehrengäste; unter diesen aber Spitzen der Gesellschaft. Der Herr Regierungspräsident selbst und die Frau Präsidentin verherrlichten durch ihre Anwesenheit das Fest.
Das war etwas! Und um sein ganz besonderes Wohlwollen für die Familie zu bekunden, führte der Präsident die Tochter des Hauses, Fräulein Freda Nöhring, zu Tisch.
Seit der Heimkehr war Freda noch wenig sichtbar geworden; sie hatte zuviel mit der Wiedereinrichtung des Hauses zu tun gehabt. Heut zum erstenmal erschien sie wieder öffentlich, und natürlich bildete sie nächst dem jungen Ehepaar den Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit. Das Urteil war rasch festgestellt, sie hatte gewonnen; ganz entschieden, sie hatte während ihrer Abwesenheit gewonnen.
Ob es der Aufenthalt in südlicherem Klima oder nur der längere Aufenthalt in freier Luft überhaupt war – ihre bleiche Hautfarbe hatte eine dunklere Tönung bekommen, und das stand ihr vortrefflich.
Aber nicht ihr Aussehen nur, auch ihr Wesen hatte eine Änderung erfahren, ja geradezu eine Wandlung, wie es schien.
Mutter Wallnow konnte sich gar nicht genug tun mit lauter Verkündigung, wie liebenswürdig und nett sie ihr und ihrer Tochter beim Wiedersehen entgegengekommen sei. Und sie hatten sich vor diesem Wiedersehen recht gehörig gefürchtet. Nanettchen hatte die gleiche Erfahrung gemacht, und nun Tante Löckchen erst!
»Freda, mein Schatz,« hatte Tante Löckchen gesagt, indem sie sie zärtlich, nachdem die Trauung vorüber war, in die Arme schloß, »wenn ich dir sagen könnte, wenn du wüßtest, wie dieses Lächeln dir steht, dieses sanfte – wie du hübsch bist, wenn du freundlich bist –«
Und es war so, wie Tante Löckchen gesagt hatte, etwas Weiches war in ihr, was man früher nicht an ihr gekannt hatte, in ihren Bewegungen und in ihrem Sprechen. Etwas Hingebendes. Wenn sie heute jemandem die Hand reichte, so drückte sie die Hand des andern, während sie sich früher damit begnügt hatte, sich die Hand drücken zu lassen. Und dieses alles war nicht die Herablassung des Stolzes, der einmal den andern Audienz erteilt, sondern Teilnahme an Freude und Leid der Mitmenschen, stille, bescheidene Teilnahme. Nicht nur schön, beinahe lieblich sah sie aus in ihrem blonden, mit einer purpurroten Ranke wilden Weins durchflochtenen Haar, in ihrem ausgeschnittenen weißen Seidenkleid, in dem altmodisch geformten schweren Halsgeschmeide, das sie von der Mutter geerbt und heut zu dem Ehrentage des Bruders angelegt hatte. Aus breiten, mit Perlenschnüren verbundenen Goldplatten war das Halsband zusammengesetzt. Jahrelang hatte es im Kasten gelegen; der herbe Sinn der Besitzerin, die nichts geben und nichts haben wollte, hatte es verschmäht, sich den Menschen zuliebe damit zu schmücken. Heute, da es endlich seinem Beruf einmal wiedergeschenkt war, sah es aus, als wäre es sich dessen bewußt; es war, als küßte es den Hals, der es trug, und die schweren Goldplatten drückten sich wie mit kosender Zärtlichkeit in die weiche, warme Haut des herrlichen Nackens.
So saß sie während der Mahlzeit zur Seite des Präsidenten, anscheinend ganz der Unterhaltung mit ihm hingegeben; nur von Zeit zu Zeit erhoben sich ihre Blicke und wandelten langsamen Ganges nach einer Stelle des Tisches, einige Plätze zur Linken, ihr schräg gegenüber. Die, welche sich in ihrer Nähe befanden und diesen Blick gewahrten, bemerkten, daß er stets die nämliche Richtung nahm, und bemerkten, wie ihre Augen sich alsdann heiß, groß und geheimnisvoll auftaten, so daß es den Anschein gewann, als wäre ihr Gespräch mit dem Präsidenten nur etwas nebensächlich Äußeres und dieser stumme Augenaufschlag der eigentliche Ausdruck ihres Innern.
Der Regierungsrat Nöhring war es, der an jener Stelle saß und an den sich die Blicke der Tochter richteten. Schweigend erwiderte er ihre Blicke, so daß die beiden Menschen eine von der übrigen Unterhaltung ganz abgesonderte Unterredung miteinander führten, unvernehmbar für die andern, über Dinge, von denen die andern nichts wußten.
Auch wenn Freda ihn nicht ansah, suchte der Vater sie mit den Augen; dieser heutige erste öffentliche Tag war ja wie ein Prüfstein, und immer, wenn er sie ansah, freute er sich an ihrer sanften, klaren Freundlichkeit, an dem Lächeln ihres Gesichts, das ihn an ein Lächeln erinnerte, das er vor Monaten in diesem Gesicht gesehen hatte, damals, als sie das Wort gesprochen hatte: »Übermorgen, Papa, wieder in Deutschland«.
Ein einziges Mal war diese ihre Ruhe ins Schwanken gekommen; Papa Nöhring hatte gesehen, wie sie bei einem Wort, das der Präsident an sie richtete, bis über die Stirn errötet und wie die Glut nachher in einer fahlen Blässe erloschen war.
Der Präsident, der sich mit ihr über Bordighera unterhielt, hatte sie halb scherzend gefragt, ob sie denn auch einmal nach Monako und Monte Carlo gekommen wäre? Das läge ja doch nicht weit davon?
Ihr Erröten war die stumme Antwort auf diese Frage gewesen; ihr Nachbar aber hatte es nicht bemerkt. Er hatte sich lebhaft darüber ereifert, daß solche Unsitte, wie das Spiel in Monte Carlo, im zivilisierten Europa immer noch geduldet würde. Heute morgen erst war der Regierung durch das Ministerium in Berlin das Signalement eines Mannes zugegangen, der sich vor vierzehn Tagen in Monte Carlo erschossen hatte. Man hatte keinerlei Papiere bei ihm vorgefunden und nicht feststellen können, was für ein Landsmann er gewesen war. Aber man glaubte, daß es ein Deutscher gewesen sei, und nun wurde im Deutschen Reich herumgefragt, ob dort eine Persönlichkeit dieser Art bekannt gewesen sei und vermißt würde.
»Zu vermissen wird wohl nicht viel dran gewesen sein,« hatte der Präsident lachend seine Erzählung geschlossen, »wahrscheinlich irgend so ein Verzapfer eigener und fremder Kassen; die Sorte kennt man ja.«
Das war der Augenblick gewesen, als der Regierungsrat Nöhring seine Tochter hatte erbleichen sehen.
Ein Brausen war plötzlich in ihren Ohren gewesen, ein Gefühl, als schwängen sich düstere Flügel um ihr Haupt.
Die Vergangenheit rauschte empor; mitten in der vergnügten Gesellschaft stand sie da wie ein Gespenst, das immer nur einer sieht – und die eine, die es sah, war sie.
Ob sie sich erkundigen sollte nach der Beschreibung dieses Menschen? Ob sie fragen sollte, wie er ausgesehen hatte? Ob er einen spitzgeschnittenen Bart und Ringe an den Fingern und ein Armband – und – nein, nein! Ein schaudernder Frost ging ihr am Rücken hinunter, bei dem Gedanken, daß sie das alles hören würde. Es würde ihr zumute gewesen sein, als sähe sie sich selbst mit geschändeten, zerschmetterten Gliedern da drunten an den heißen, erbarmungslosen Felsen von Monako liegen. Nacht über den Menschen und über den schrecklichen Tag! Mochte er bei den Lebenden oder den Toten sein – nur die Verbindung nicht wieder aufnehmen, die einstmals eine grauenvolle Lebensstunde lang zwischen ihm und ihr gewesen war, nur die Verbindung nicht wieder anknüpfen, durch keine Frage, keine Erinnerung! Entzwei damit, entzwei! Und indem sie sich das vornahm und versprach, war es ihr, als schwebte dort vor ihr in der Luft etwas Unbestimmtes, Weißliches, Gräßliches, beinahe anzusehen wie ein blutloses menschliches Gesicht; als regte es die Lippen und als flüsterten diese Lippen: »Vergessen wirst du nicht«. Besorgten Blicks sah der Regierungsrat Nöhring zu seiner Tochter hinüber. Jetzt gewahrte sie seinen Blick; von den andern unbemerkt, nickte er ihr leise zu.
Sie wollte ihm in gleicher Weise erwidern, aber die nickende Bewegung wurde zu einer schweren, demutvollen Neigung des Hauptes, und die Augen, mit denen sie ihn ansah, hatten den Ausdruck wie in der Nacht, als sie in Bordighera an seinem Bette gekniet und das Haupt an seiner Brust verborgen hatte. –
Nach Aufhebung der Tafel hatte Tante Löckchen ihre Rechte geltend gemacht; daß Nöhrings den Abend des heutigen Tages bei ihr beschließen müßten, verstand sich für sie von selbst; für Nöhrings nicht minder.
Gleich aber konnte man doch nicht aufbrechen. Ihre Zigarren mußten die Herren wenigstens zu Ende rauchen dürfen.
Während man also damit beschäftigt und in den verschiedenen Räumen der Restauration, in welcher das Diner stattgefunden hatte, verteilt war, kam das Gespräch, das sich bisher ausschließlich um das neugebackene Ehepaar gedreht hatte, auch auf andre Gegenstände.
Papa Nöhring saß mit seiner Tochter und der Familie Bennecke in einem gemütlichen Sofaeckchen – plötzlich lauschte er auf. Hatte da nicht jemand von – Schottenbauer gesprochen?
Der Oberregierungsrat, der die Fürsorge für das Amts- und Kreisblatt auf den Schultern trug, der sich unter den Geladenen befand und jetzt plaudernd, rauchend und Kaffee schlürfend unter einer Gruppe dort drüben stand, war es gewesen. Papa Nöhring trat heran.
»Sprachen Sie nicht eben von – Schottenbauer?«
»Ja – haben Sie die Zeitung nicht gelesen?«
Nein, in der Tat – weder Nöhrings noch Benneckes hatten diese Tage über eine Zeitung vor Augen bekommen. Die Heimkehr, die Vorbereitungen zur Hochzeit und dann die Hochzeit selbst – man hatte über der Welt da drinnen nicht Zeit noch Gedanken für die Außenwelt gehabt. »Na – sein Stück ist ja in Berlin aufgeführt worden«, fuhr der Berichterstatter fort, »und hat einen durchschlagenden Erfolg gehabt.«
Papa Nöhring starrte dem Sprecher auf die Lippen.
»Einen – durchschlagenden – ?«
»Aber kolossal, wie es scheint. Nach dem, was in den Zeitungen steht, ist es eine ganz enorme Geschichte gewesen.«
Papa Nöhring kam zu seinen Damen zurück.
»Habt ihr's gehört?« – seine Stimme klang heiser – »Schottenbauers Stück hat in Berlin einen kolossalen Erfolg gehabt.«
Er setzte sich schwerfällig auf den Stuhl nieder, strich sich über die Stirn und senkte die Augen zu Boden.
Nach einiger Zeit erhob Freda sich von dem Sofa, auf dem sie saß, trat hinter den Vater und beugte sich über seine Schulter.
»Papachen –«
»Hm?«
Sie legte den Mund an sein Ohr. »Ich gratuliere dir. Papachen; es freut mich.«
Er richtete das Haupt zu ihr empor. Ihre Augen waren über seinem Gesicht; er hatte das Gefühl, daß diese Augen da eigentlich doch die einzigen waren, die ganz zu begreifen imstande waren, um was es sich handelte. Sie hatte die Arme um seinen Oberleib geschlungen; ihre verschränkten Hände ruhten auf seiner Brust. Mit einer plötzlichen Bewegung senkte er den Mund und drückte die Lippen auf die schlanken, weißen Hände.
Im nächsten Augenblick war er wieder aufgesprungen.
»Wann ist denn das alles gewesen?«
Der Oberregierungsrat konnte es so genau nicht sagen.
»Etwa acht Tage wird's her sein.«
»Acht Tage – mein Gott – und da sitzt man und hat von so etwas keine Ahnung!«
Herr Major Bennecke beruhigte ihn. Sie hätten ja die Zeitungen bei sich zu Hause aufgehoben; da könnte er nachher alles nachlesen. Ja, ja – alles nachlesen, das wollte er! Und nun hatte er keine Ruhe mehr; es duldete ihn hier nicht länger.
Mochten die andern zusammenbleiben, solange sie wollten; Nöhrings und Benneckes machten sich auf den Weg.
Tante Löckchen zog mit Freda voran; Papa Nöhring folgte mit Herrn Major a. D. Bennecke; das junge Ehepaar wollte nachher auch nachkommen.
Als man die Brücke überschritten hatte und am Wasser entlang ging, blieb Papa Nöhring plötzlich stehen.
»Da ist ja Licht?«
Er sah über den Strom hinüber auf die bekannten Fenster. Alle blieben stehen.
Ja – da drüben war Licht, und es sah geradeso aus wie früher.
»Wohnt jemand anders jetzt da drüben?«
»Jedenfalls doch,« meinte Herr Major Bennecke, »die möblierten Wohnungen von diesen Referendarien – einer gibt sie ja, wenn er geht, dem andern immer in die Hand.«
Papa Nöhring stand und konnte sich nicht losreißen. Unter all den leuchtenden Sternen da unten über dem Meere – immer war dieses Licht wie ein Stern vor seiner Seele gewesen. Und nun leuchtete es einem andern.
Der neue Bewohner schien aber dieselben Gewohnheiten zu haben wie der frühere; die Balkontür war weit geöffnet, so daß man zu spüren meinte, wie die warme Oktoberluft sich in weichem Schwalle zu dem einsamen Zimmer hinein und um das Licht der Lampe her wälzte. Dann trat ein Schatten vor die Lampe, und eine Gestalt erschien auf dem Balkon. Deutlich erkennen ließ sich nichts – die Entfernung war zu groß, und weil das Licht hinter der Gestalt stand, blieb diese für die Beschauer im Dunkel.
Aber es sah aus, als lehnte sie sich über das Balkongeländer und stände regungslos und blickte herüber zu Tante Löckchens Haus.
»Nun kommt aber«, mahnte Tante Löckchen, und ihre Worte unterbrachen ein Stillschweigen, das sich unwillkürlich über alle gelagert hatte. Man hätte doch wirklich denken können –
Im nächsten Augenblick ertönte aus der geöffneten Haustür das freudige Begrüßungsgebell der alten Diana, und in der warmen Benneckeschen Behaglichkeit zerrann das nächtliche Spukbild da draußen – denn wie ein Spukbild war es ja beinahe gewesen. Das erste, was geschah, war, daß Herr Major Bennecke den Stoß von Zeitungen, der sich inzwischen angesammelt hatte, hervorholte und auf den Tisch warf. Mit wahrer Gier stürzte sich Papa Nöhring darüber her.
Politische Leitartikel – telegraphische Depeschen – fort, fort, fort damit! Was ging ihn das alles an? Kein Schauspieler, kein Dichter, kein Künstler, der zum erstenmal seine Zeitungsschicksale sucht, hatte je mit fieberhafterem Eifer die Rubrik »Kunst und Literatur« durchstöbert, als es jetzt der alte Regierungsrat Nöhring tat. Endlich hatte er gefunden, und mit einem kurzen »Freda!« herrschte er die Tochter zu sich heran.
Da stand es.
Vor acht Tagen war das Stück aufgeführt worden und hatte das Publikum zur Begeisterung hingerissen. Ein ungeheurer Erfolg stand verzeichnet und gebucht.
Ganz erschöpft sank er in den Stuhl zurück. Der Schweiß perlte auf seiner Stirn. Freda holte ihr Tuch hervor und trocknete ihm das Gesicht.
Während sie noch dabei war, erschallten laute, fröhliche Stimmen im Flur; Percival brach wie ein junger Sturmwind herein, seine Therese an dem einen, die »Karyaride« am andern Arm. Hinter ihnen erschienen noch Mutter Wallnow und Herr Rechtsanwalt Feßler.
Ein Hallo aus Tante Löckchens Munde begrüßte die Ankömmlinge.
»Kinder Gottes,« begann Percival, nachdem er Tante Löckchen halb erdrückt aus den Armen gelassen und sich auf einen Stuhl geworfen hatte, »habt ihr's denn schon gehört?« Er wollte sich ausschütten vor Lachen; alles wartete, bis er zu Worte kommen würde.
»Der Schottenbauer ist ja da!«
Papa Nöhring riß die Augen weit auf.
»Aber du hast uns doch geschrieben–«
»Ja natürlich, und es war auch ganz richtig. Offiziellerweise ist er fort, futsch und heidi! Aber inkognito steckt er noch immer hier – in loco, wie wir Juristen sagen – hält sich am Wasser da drüben versteckt – latitiert – wie wir Juristen sagen.«
»Dann ist er das selbst gewesen,« fuhr Papa Nöhring heraus, »der vorhin da auf dem Balkon drüben stand.«
»Hat jemand auf dem Balkon gestanden?« fragte Percival.
»Ja, vorhin, als wir kamen.«
»Natürlich,« erklärte Percival, »dann ist's kein andrer gewesen als er; wahrscheinlich hat er auf das Treibeis heruntergesehen, das war ja immer sein Hauptvergnügen. Er setzt sich der Gefahr aus, an zwei Orten Steuer bezahlen zu müssen; der verdrehte Kerl hat nämlich jetzt zwei Domizile, eins in Berlin, und sein altes hier – Herr Rechtsanwalt Feßler wird euch die Sache spezifizieren.«
Herr Rechtsanwalt Feßler war derjenige, durch welchen die Sache ruchbar geworden war. Er hatte für einen ihm empfohlenen jungen Rechtskandidaten, der sich am Gericht hier die Sporen holen wollte, eine Wohnung gesucht, und dabei war er an Schottenbauers Behausung gelangt, die ja frei war, wie er annahm. Aber sie war nicht frei.
»Schon wieder vermietet?« hatte er die Wirtin gefragt.
»Vermietet, allerdings« – hatte sie erklärt, »aber – schon wieder« – dabei hatte sie ein komisches, nicht gerade geistreiches Lächeln gezeigt, wie jemand, der ein Geheimnis zu bewahren hat und darauf brennt, daß es ihm abgefragt wird.
»Na also, wer wohnt denn hier?«
»Gott – wissen Sie – Herr Justizrat – es ist ja immer so ein sonderbarer Mann gewesen –« »Ja, von wem sprechen Sie denn?«
»Aber Sie dürfen's nicht weitersagen, Herr Justizrat; er will ja partout nicht, daß man davon erfährt.«
»So kommen Sie doch 'raus damit.«
»Gott, Herr Justizrat, der Herr Schottenbauer hat ja die Wohnung behalten.«
»Ist er denn hier?«
»Augenblicklich nicht, aber er kann jeden Augenblick kommen. Er ist ja wohl jetzt in Berlin für gewöhnlich, aber alle Augenblick kommt er plötzlich an, bald des Abends ganz spät, bald des Morgens ganz früh. Und da muß dann alles so sein, wie es früher immer gewesen ist; kein Stück Papier darf angerührt sein auf seinem Tisch, kaum daß ich abstauben darf. Und wenn er findet, daß alles so ist, wie er's immer gehabt hat, dann wird er vergnügt und gibt mir die Hand, und was ihn besonders freut, wissen Sie, das sind die Winden, die ich auf dem Balkon in Kasten gezogen habe, die machen ihm jedesmal so viel Spaß, wenn er sieht, daß sie ein Stück größer geworden sind. Und dann wird an den Tisch gesetzt und losgearbeitet – Herr Justizrat –! Früher, wie er noch am Gericht hier war, ist's ja auch schon toll genug gewesen, aber jetzt – von morgens, bis daß es Abend wird, geht das hintereinander weg. Und wenn's schummerig wird, dann wird der Hut aufgesetzt, und dann geht's raus. Und nach einer Stunde – zwei, ist er schon wieder zurück, und dann geht die Geschichte weiter, immer bis spät in die Nacht.
Und dann am Morgen ganz früh klopft's bei mir an: »Kaffee, Kaffee, Madame, ich muß gleich fort!« und hast du nicht gesehen – weg ist er wieder nach Berlin. Und sehen Sie, Herr Justizrat, so geht das nun den ganzen Sommer lang; aber pünktlich jeden Ersten wird mit der Miete angerückt, ganz pünktlich, das muß wahr sein. Und darum, sehen Sie, Herr Justizrat, es wäre mir ja eine große Ehre, wenn ich Ihnen die Wohnung – aber Sie müssen's doch selbst einsehen, Herr Justizrat, daß ich's partout nicht kann,« Während der Erzähler sprach, hatte Percival mit zwinkernden Augen den Vater beobachtet, der dem Berichte lautlos gefolgt war. Jetzt sprang er auf.
»Therese,« rief er, indem er den Arm um sie schlang, »jetzt gehen wir! Ich seh' es Papa an, daß er im nächsten Augenblick von mir verlangen wird, daß ich vom Fleck hier zu dem Schottenbauer hinüberlaufe und ihn so, wie er ist, herhole. Dazu aber haben wir jetzt keine Zeit; nicht wahr?«
Er drückte ein paar schallende Küsse auf das Gesicht seiner jungen Frau, dabei blieb er in beständigem Lachen, und alle übrigen, bis auf Papa Nöhring und Freda, lachten mit. Freda begriff nicht recht, warum er eigentlich fortwährend lachte. Das, was sie da eben gehört hatte, erschien ihr wohl sonderbar, aber durchaus nicht komisch. Nein – gar nicht komisch.
»Nanettchen,« erklärte Percival, »jetzt gehen wir in die ›huschliche, muschliche‹ Wohnung! Morgen darfst du kommen und nachsehen, ob das Haus noch steht und ob der Blick ins Grüne noch vorhanden ist, und so weiter und so weiter!«
Er nannte alle Welt »du«, er hob Therese in den Armen empor und drückte sie an sich, daß sie um Hilfe rief, dann ging er herum, umarmte einen nach dem andern, zuletzt auch Freda.
»Kannst morgen auch mitkommen, Herr Oberlehrer, und zusehen, wie es steht.«
Sie spürte den Weindunst, der von ihm ausging, und es wurde ihr klar, woher seine übertriebene Heiterkeit stammte.
»Habe allerseits die Ehre –«
An der Tür aber blieb er noch einmal stehn.
»Papa – eine Idee: du weißt, ich habe ein paar Wochen Bummelurlaub; seht zu, wann dem Schottenbauer sein Stück in Berlin wieder gespielt wird; wir fahren hinüber, alle wie wir sind – in corpore, wie wir Juristen sagen – und sehen's uns an. Nachher große Kneiperei im ›Kaiserhof‹ oder sonst einem Ort der Metropole, wo man was zu essen und zu trinken kriegt! Einverstanden? Natürlich! Kann riesig fidel werden! Riesig!«
Damit war er hinaus, und im Flur draußen verhallte sein Lachen und Schwatzen wie Regengeplätscher, wenn das Gewitter vorüber ist.
Während die übrigen dem jungen Paar das Geleit bis an die Haustür gaben, blieb Freda still für sich sitzen.
Das war nun die Trennung von dem Bruder. Heut abend würde er nicht mehr ins elterliche Haus zurückkehren. Und so war er gegangen.
Nicht eine äußere Trennung nur – es kam ihr vor, als wäre er auch einen Schritt weiter aus ihrem Innern fortgegangen. Woher kam das? Ernster als er war sie ja immer gewesen, und doch hatte sie lachen können, wenn er gelacht hatte – warum jetzt nicht mehr? Hatte sie inzwischen etwas erfahren, was er nicht erfahren, etwas gesehen, was er nicht gesehen hatte? Vielleicht.
Als sie später, der Begleiter entledigt, mit dem Vater einsam nach Hause ging, wanderten sie schweigend nebeneinander her. Keines verriet dem andern seine Gedanken, aber sie mochten ahnen, daß ihre Gedanken sich zusammenfanden bei demselben Menschen, bei derselben Frage.
Warum war er zurückgekommen? Warum war er hier? Nur weil er hier ungestörter arbeiten konnte als in Berlin? Oder weil ihm in der alten, vertrauten Umgebung die Gestalten reicher zuströmten als in neuen, ungewohnten Räumen?
Die Phantasie der Dichter arbeitet ja verschieden; der eine muß von Ort zu Ort fliegen, um aus immer neuen Anschauungen neue Gestaltungskraft zu saugen – der andre kann nur schaffen, wenn er immer an derselben Stelle sitzend immer in dieselbe Ecke starren kann, aus der ihm, wie aus unerschöpflichem Born, die Gebilde hervorquellen.
Vielleicht gehörte Schottenbauer zu dieser letzteren Art, wahrscheinlich sogar; hatte nicht Percival einmal erzählt, daß er nicht einmal von seinem alten, zerfetzten Schlafrock lassen konnte, nur weil er ihn schon solange getragen hatte? Aber es gab vielleicht auch noch einen andern Grund.
Wie war doch die Sage von jenem Könige, dem seine sterbende Buhle einen Ring hinterließ, der ihn mit unlöslicher Gewalt an ihr Andenken fesselte und band? Um des Bannes ledig zu werden, schleuderte er den Ring in einen Sumpf, und von dem Tage an zog es ihn zu dem Sumpf, daß er nichts anderes zu tun vermochte, als dort zu sitzen, tage-, monde- und jahrelang, bis daß er über dem Sumpf eine Stadt erbaute, mit ragenden Türmen und Kuppeln, die noch heute steht und die man Aachen nennt.
War es das vielleicht? War es darum, daß er die Wohnung am Wasser behalten hatte und immer wieder dahin zurückkehrte, weil er von dort aus die Brücke sehen konnte, wo er ihr zum erstenmal begegnet war? Weil er von dort das Haus sehen konnte, wo er mit ihr zusammengetroffen und zusammengewesen war zum letztenmal?
Wie hatte die Wirtin gesagt? Vom Morgen sitzt er bis an den Abend und dann wieder bis tief in die Nacht und arbeitet – arbeitet –
Wunderbar eigentlich, wie die Bilder zusammenpaßten: Wie der alte König über dem Grabe seiner Liebe die ragende Stadt erbaute, einen steinernen Sarg, darin er seine Liebe versenkte – so saß der Mann dort oben in seinem Gemach, und über dem Andenken an das verlorene Weib türmte er Werk auf Werk, Gebilde auf Gebilde, eins immer anders als das andre, alle aber durchtönt von dem Schrei der Sehnsucht nach ihr.
Wie aus nachtwandelndem Traume kam Freda zu sich, als sie mit dem Vater an der Haustür anlangte; mechanisch war sie dahingeschritten, denn ihre Seele war es gewesen, durch welche der seltsame Traum soeben gegangen war.
Eine tiefe, feierliche Stille war in ihr; ein Gefühl, als müßte sie der Dinge warten, die da kommen würden.
Warten – und dann – sich beugen?
Sie wußte es noch nicht – aber ihr jungfräulicher Leib erschauerte, als das heimatliche Bett sie wieder umfing und als sie mit diesem Gedanken die Augen schloß. Und als sie die Augen geschlossen, stand wieder wie einstmals die hohe, dunkle Frau zu Füßen ihres Lagers, die Nacht, und kopfschüttelnd wie einstmals blickte sie auf sie nieder:
»Törin, die du nicht erkennen willst, warum seine Seele die Arme nach dir ausstreckt – weil sein ahnendes Gefühl ihm sagt, daß auch in dir eine Dichterseele wohnt.«