Christoph Martin Wieland
Peregrinus Proteus
Christoph Martin Wieland

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Christoph Martin Wieland

Peregrinus Proteus.

Eine »Unterredung zwischen zwey Geistern von nicht gemeinem Schlage«, aufgeschrieben »zu dem unschuldigen Zweck, Menschenkunde und Menschenliebe zu befördern«.


Vorrede
zur ersten Ausgabe von 1791.

Ich habe mich schon, bey einer andern Gelegenheit, etwas von einer kleinen Naturgabe verlauten lassen, die ich (ohne Ruhm zu melden) mit dem berühmten Geisterseher Swedenborg gemein habe, und vermöge deren mein Geist zu gewissen Zeiten sich in die Gesellschaft verstorbener Menschen versetzen, und, nach Belieben, ihre Unterredungen mit einander ungesehen behorchen, oder auch wohl, wenn sie dazu geneigt sind, sich selbst in Gespräche mit ihnen einlassen kann.

Ich gestehe, daß mir diese Gabe zuweilen eine sehr angenehme Unterhaltung verschafft: und da ich sie weder zu Stiftung einer neuen Religion, noch zu Beschleunigung des tausendjährigen Reichs, noch zu irgend einem andern, dem geistlichen oder weltlichen Arme verdächtigen Gebrauch, sondern bloß zur Gemüthsergetzung meiner Freunde, und höchstens zu dem unschuldigen Zweck, Menschenkunde und Menschenliebe zu befördern, anwende; so hoffe ich, für diesen kleinen Vorzug (wenn es einer ist) Verzeihung zu erhalten, und mit dem Titel eines Geistersehers, der in unsern Tagen viel von seiner ehemahligen Würde verloren hat, gütigst verschont zu werden.

Es ist noch nicht lange, daß ich das Vergnügen hatte, eine solche Unterredung zwischen zwey Geistern von nicht gemeinem Schlage aufzuhaschen, die meine Aufmerksamkeit um so mehr erregte, da diese Geister in ihrem ehemahligen Leben nicht zum besten mit einander standen, und der eine von ihnen mein sehr guter Freund ist.

Der letztere (um die Leser nicht unnöthig rathen zu lassen) war ein gewisser Lucian – keiner von den zwey oder drey Heiligen Lucianen, die mit einem goldnen Zirkel um den Kopf in den Martyrologien figurieren; auch nicht Lucian der Mönch; noch Lucian der Pfarrer zu Kafar-Gamala, der im Jahre des Heils 415 so glücklich war, von St. Gamaliel im Traume benachrichtiget zu werden, wo die Gebeine des heiligen Stefanus zu finden seyen; noch Lucian der Marcionit; noch Lucian von Samosata, der Arianer, von dem eine eigene Nebenlinie dieser unglücklichen Familie den Nahmen der Lucianischen führt – sondern Lucian der Dialogenmacher, der sich ehemahls mit seinen Freunden Momus und Menippus über die Thorheiten der Götter und der Menschen lustig machte, übrigens aber (diesen einzigen Fehler ausgenommen) eine so ehrliche und genialische Seele war und noch diese Stunde ist, als jemahls eine sich von einem Weibe gebären ließ.

Der andere war eine nicht weniger merkwürdige Person, wiewohl er in seinem Erdeleben in allem den ausgemachtesten Antipoden meines Freundes Lucian vorstellte, und eine so zweydeutige Rolle spielte, daß er bey den einen mit dem Ruf eines Halbgottes aus der Welt ging, während die andern nicht einig werden konnten, ob der Narr oder der Bösewicht, der Betrüger oder der Schwärmer in seinem Karakter die Oberhand gehabt habe. Alles in dem Leben dieses Mannes war excentrisch und außerordentlich: sein Tod war es noch mehr; denn er starb freywillig und feierlich auf einem Scheiterhaufen, den er vor den Augen einer großen Menge von Zuschauern aus allen Enden der Welt, in der Gegend von Olympia, mit eigner Hand angezündet hatte.

Lucian, der ein Augenzeuge dieses beynahe unglaublichen Schauspiels gewesen war, wurde auch der Geschichtschreiber desselben, und glaubte, als ein erklärter Gegner aller Arten von filosofischen oder religiösen Gauklern, einen besonderen Beruf zu haben, die schädlichen Eindrücke auszulöschen, welche Peregrin (so hieß dieser Wundermann, wiewohl er sich damahls lieber Proteus nennen ließ) durch einen so außerordentlichen Heldentod auf die Gemüther seiner Zeitgenossen gemacht hatte: und wie hätte er diesen Zweck besser erreichen können, als indem er sie zu überzeugen suchte, daß der Mann, den sie, nach einer so übermenschlichen That, für den größten aller Weisen, für ein Muster der höchsten menschlichen Vollkommenheit, ja beynahe für einen Gott zu halten sich genöthigt glaubten, weder mehr noch weniger als der größte aller Narren, sein ganzes Leben das Leben eines von Sinnlichkeit und ausschweifender Einbildungskraft beherrschten halb wahnsinnigen Scharlatans, und sein Tod nichts mehr als der schicklichste Beschluß und die Krone eines solchen Lebens gewesen sey.

Ich habe an einem andern OrteLucians sämmtliche Werke, 3. Theil, S. 95 f. die Gründe ausgeführt, welche mich überredeten, zu glauben, daß Lucian nicht nur in allem, was er als Augenzeuge von diesem Peregrin berichtet, sondern auch in Erzählung derjenigen Umstände, die er von bloßem Hörensagen hatte, ehrlich zu Werke gegangen, und von dem Gedanken, seine Leser zu belügen und dem armen Fantasten wissentlich Unrecht zu thun, weit entfernt gewesen sey. Aber wie zuverlässig auch Lucians Aufrichtigkeit in dieser Sache immer seyn mag, so bleibt nicht nur die Glaubwürdigkeit der Gerüchte und Anekdoten, die auf Peregrins Unkosten in Syrien und anderer Orten herum gingen und jenem erzählt worden waren, zweifelhaft, sondern auch die Fragen: »ob Lucian in seinem Urtheile von ihm so unparteyisch, als man es von einem echten Kosmopoliten fordern kann, verfahre? und: ob Peregrin wirklich ein so verächtlicher Gaukler und Betrüger und doch (was sich mit diesem Karakter nicht recht vertragen will) zu gleicher Zeit ein so heißer Schwärmer und ausgemachter Fantast gewesen sey, als er ihn ausschreyt? – diese Fragen, sage ich, bleiben für Leser, welche einem Angeklagten, der sich selbst nicht mehr vertheidigen kann, eine desto schärfere Gerechtigkeit im Urtheilen über ihn schuldig zu seyn glauben, unauflösliche Probleme.

Man kann sich also vorstellen, wie groß mein Vergnügen war, als ich durch einen glücklichen Zufall Gelegenheit bekam, die erste Unterredung, die zwischen Lucian und Peregrin im Lande der Seelen vorfiel, zu belauschen, und aus dem eigenen Munde des letztern Aufschlüsse und Berichtigungen zu erhalten, wodurch das Mangelhafte in den Lucianischen Nachrichten ergänzt, das Dunkle und Unerklärbare ins Licht gesetzt, und das ganze moralische Räthsel des Lebens und Todes dieses sonderbaren Mannes, auf eine ziemlich befriedigende Art aufgelöset wird.

Wenn man sich erinnert, daß seit dem Tode beider redenden Personen beynahe sechzehn hundert Jahre verstrichen sind, so wird man vielleicht unglaublich finden, daß sie in einem so langen Zeitraum nicht eher Gelegenheit gehabt haben sollten, sich anzutreffen und gegen einander zu erklären. Allein fürs erste sind sechzehn Jahrhunderte, nach dem Maßstabe woran die Geister die Zeit zu messen pflegen, kaum so viel als nach unserm Zeitmaße eben so viel Jahrzehende: und dann traten bey Lucian und Peregrinen noch besondere Umstände ein, von denen (wiewohl sie zu den Geheimnissen des Geisterreichs gehören) uns vielleicht künftig etwas zu verrathen erlaubt seyn wird, die aber hier nicht an ihrem rechten Orte stehen würden.

Nach diesem kleinen Vorberichte würde mich nun nichts weiter hindern, die Unterredung zwischen den besagten beiden Geistern sogleich mitzutheilen, wenn ich voraussetzen könnte, daß der Inhalt der oben angezogenen Lucianischen Schrift (ohne welche diese ganze Unterredung unverständlich und ihre Mittheilung zwecklos seyn würde) entweder aus dem Original oder aus irgend einer Übersetzung allen Lesern bekannt und gegenwärtig wäre. Da es aber billig ist, auf diejenigen, die sich nicht in diesem Falle befinden, Rücksicht zu nehmen: so hoffe ich diesen letztern durch folgenden Auszug aus Lucians Bericht von Peregrins Lebensende einen kleinen Dienst zu erweisen.


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