Christoph Martin Wieland
Peregrinus Proteus
Christoph Martin Wieland

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Erster Abschnitt.

Peregrin. Parium, wo ich geboren wurde, war eine Römische Pflanzstadt in der Provinz Mysien auf der östlichen Küste des Hellesponts, die durch ihre Lage an einem kleinen Busen der Propontis, der ihr zum Hafen diente, und durch die Betriebsamkeit ihrer Einwohner zu einer der blühendsten Städte dieser Gegenden geworden war. Mein Vater war ein Kaufmann, den seine Geschäfte zu häufigen Reisen veranlaßten; und da er weder Zeit noch Lust hatte, sich meiner Erziehung selbst anzunehmen, willigte er desto lieber ein, mich, so bald ich die weiblichen Zimmer verließ, der Aufsicht und Pflege meines mütterlichen Großvaters Proteus zu überlassen, der sich gewöhnlich auf seinem nahe bey der Stadt gelegenen Landgut aufhielt.

Nach dem Tode meiner Mutter, die ich am Eintritt in meine Jünglingsjahre verlor, wurde ich von ihrem Vater, mit Bewilligung des meinigen, an Kindesstatt angenommen, und erhielt dadurch den Beynahmen Proteus; wiewohl ich mich in der Folge auf meinen Wanderungen, je nachdem es mir schicklicher war, bald des einen bald des andern Nahmens bediente. Du siehest, lieber Lucian, daß ich wenigstens ziemlich unschuldig zu dem Nahmen gekommen bin, der dir zu einer mir nicht sehr rühmlichen Vergleichung meiner Wenigkeit mit Homers Ägyptischem Meergotte geholfen hat.

Lucian. Desto besser, lieber Peregrinus Proteus, desto besser! Um so mehr habe ich Hoffnung, zu hören, daß du zu einigen andern noch weniger schmeichelhaften Beynahmen, womit der Ruf deine Jugend angeschmutzt hat, eben so unschuldig gekommen bist.

Peregrin. Du wirst – und kannst in der Lage, worin wir uns befinden – nichts als die reine Wahrheit von mir hören.

Lucian. Das versteht sich. Also nur weiter, wenn ich bitten darf.

Peregrin. Die Natur hatte mich zu einer glücklichen Gestalt und Gesichtsbildung mit einer sehr zarten Empfänglichkeit für sinnliche Eindrücke, und mit einer äußerst beweglichen, warmen und wirksamen Einbildungskraft beschenkt. Bey einer solchen Anlage konnte es wohl nicht anders seyn, als daß Homer, mit dessen Rhapsodien meine litterarische Erziehung, der Gewohnheit nach, angefangen wurde, unbeschreiblich auf meine Imaginazion wirkte; vornehmlich alles Wunderbare, die Götterscenen auf dem Olymp und auf der Erde, und die Feerey der Odyssee. Mein Pädagog, der nichts als Wörter, Redensarten und Dialekte, grammatische und rhetorische Figuren, Mythologie, alte Geschichte und Geografie – und auch dieß alles nur mit den Augen eines stumpfsinnigen Pedanten in dem Dichter sah, trug nichts dazu bey, die Art, wie dieser auf mich wirkte, zu begünstigen oder zu berichtigen, zu verstärken oder zu schwächen. Da er in meinem Gedächtniß alles fand, was seine stolzesten Erwartungen befriedigte, so pries er bey allen Gelegenheiten nur meine Gelehrigkeit an, und that sich nicht wenig darauf zu gut, daß ich eine Menge großer Stellen aus allen Gesängen, das ganze Verzeichniß der Schiffe, die Nekyomantie, den Tod der Freyer und dergleichen, trotz einem Rhapsodisten von Profession herdeklamieren konnte, und nicht nur alle Trojaner, die von Diomedens oder Achillens Hand gefallen waren, mit Nahmen zu nennen, sondern sogar die Wunden, die jeder empfangen, so genau anzugeben wußte, als ob ich Feldarzt im Griechischen Lager gewesen wäre. Um alles übrige, und wie oder wodurch Homer zu viel oder zu wenig, zu meinem Vortheil oder Nachtheil, auf mich wirken möchte, blieb er um so unbekümmerter, da er von einem Schaden, den ich dadurch leiden könnte, eben so wenig als von der Behandlung, die in dem einen und andern Falle nöthig war, die leiseste Ahndung hatte.

Mein Großvater trug allzu viel zu der ersten Bildung meiner Seele bey, als daß ich mich überheben könnte, dich etwas genauer mit ihm bekannt zu machen. Er war einer von den eben so unschädlichen als unnützlichen Sterblichen, die, weil sie selbst wenig von der Welt fordern, sich berechtigt halten, noch etwas weniger für sie zu thun als sie von ihr erwarten. Im Genuß eines mäßigen aber seinen Aufwand noch immer übersteigenden Erbgutes hatte er binnen mehr als siebzig Jahren, die er verlebte, oder, eigentlicher zu reden, verträumte, nie einen Finger gerührt es zu vergrößern, noch einen Augenblick dazu verwandt, eine Vergleichung zwischen ihm selbst und seinen reichern Nachbarn zum geringsten Nachtheil seiner Leibes- und Gemüthsruhe anzustellen. Er liebte zwar das Vergnügen, aber nur in so fern es seiner Trägheit nicht zu viel kostete: und weil man, außer den Stunden der Mahlzeit und des Bades, doch nicht immer auf seinem Ruhebettchen oder an einer rieselnden Quelle schlummern, oder dem Lauf der Wolken und dem Tanz der Mücken in der Abendsonne zusehen kann; so hatte er sich zum Zeitvertreib eine Art von Filosofie und Litteratur ausgewählt, die seiner Gemächlichkeit die zuträglichste war, und die Stelle dessen, was bey andern Menschen Beschäftigung des Geistes ist, bey ihm vertrat.

Der Zufall, der im menschlichen Leben so viel entscheidet, hatte ihn in seinen jüngern Jahren etlichemahl mit dem berühmten Apollonius von Tyana zusammen gebracht, und die Eindrücke, die dieser außerordentliche Mann auf sein Gemüth machte, waren stark genug gewesen, um sich bis ins hohe Alter beynahe in immer gleichem Grade der Lebhaftigkeit zu erhalten. Der einzige Mann, von dem ich ihn jemahls mit einer Art von Begeisterung sprechen hörte, war Apollonius. Apollonius war ihm das höchste Ideal menschlicher oder vielmehr übermenschlicher Vollkommenheit; denn es war aus dem Tone, worin er von ihm sprach, leicht zu merken, daß er ihn für irgend einen Mensch gewordnen Gott oder Genius hielt; und in der That hatte es dieser neue Pythagoras bey allen seinen Handlungen und Reden darauf angelegt, eine solche Meinung von sich zu erwecken und zu unterhalten.

Indessen fand doch mein Großvater keinen Beruf in sich, die Zahl der sieben Jünger zu vermehren, welche Apollonius vor seiner Reise nach Indien immer um sich zu haben pflegte. Alles was der vermeinte Gottmensch auf ihn wirkte, war, daß die Neugier für außerordentliche Dinge, die ein so wesentlicher Karakterzug aller trägen Menschen ist, eine bestimmtere Richtung bey ihm erhielt, und zu einer erklärten Liebhaberey für das wurde, was man in unsrer Zeit Pythagorische Filosofie nannte. Proteus, dessen Sache nicht war, in den Geist der Filosofie eines Pythagoras einzudringen, machte sich einen so weiten und willkührlichen Begriff von derselben, daß alles echte und unechte Platz darin hatte, was dem Ägyptischen Hermes, dem Baktrianischen Zoroaster, dem Indischen Buddas, dem Hyperborischen Abaris, dem Thrazischen Orfeus, und allen andern Wundermännern des Alterthums von der Sage zugeschrieben oder von verschmitzten Betrügern untergeschoben wurde. Er sammelte sich nach und nach einen ansehnlichen Schatz von großen und kleinen Büchern, theosofischen, astrologischen, traum- und zeichendeuterischen, magischen, mit Einem Worte, übernatürlichen Inhalts – auf Pergament, Ägyptischem und Serischem Papier, Palmblättern und Baumrinden geschrieben, – über Götter und Geister, – über die verschiednen Arten ihrer Erscheinungen und Einwirkungen, über ihre geheimen Nahmen und Signaturen, über die Mysterien, wodurch man sich die guten Geister gewogen und die bösen unterthänig machen könne, – über die Kunst Talismane und Zauberringe zu verfertigen, über den Stein der Weisen, die Sprache der Vögel, – kurz über alle Schimären, womit Griechische und barbarische Beutelschneider, so genannte Kaldäer, herum ziehende Bettelpriester der Isis oder der großen Göttermutter, und andere Schlauköpfe von diesem Schlage, die gern betrogene Leichtgläubigkeit müßiger Thoren zu unterhalten und zinsbar zu machen wußten. Je seltsamer, dunkler und räthselhafter diese Schriften klangen, desto höher stieg ihr Werth bey ihm; und waren sie vollends in lauter Hieroglyfen geschrieben, so glaubte er ein paar Blätter, zumahl wenn sie etwas mufficht rochen und ein Ansehn von moderndem Alterthum hatten, um hundert und mehr Drachmen noch sehr wohlfeil bezahlt zu haben.

Bey allem dem war es natürlich, daß die Indolenz des guten Proteus sich auch nach einer leichtern und verdaulichern Nahrung sehnte; und daher machten alle Arten von Wundergeschichten, Götter- und Heldenlegenden, Geistermährchen, Milesische Fabeln und dergleichen, keinen kleinen Theil seiner Bibliothek und seine gewöhnliche Erhohlung aus, wenn er sich an dem vergeblichen Versuch, in jenen geheimnisvollen Schriften klar zu sehen, ermüdet hatte. Glücklicher Weise für ihn waren die Eindrücke, die diese Lesereyen auf seine Einbildungskraft machten, flüchtig genug, daß er sie der Reihe nach zwanzigmahl durchlesen konnte, und jedesmahl wieder ungefähr eben so viel Reitz darin fand, als eine Seele wie die seinige nöthig hatte, um in diesen Mittelstand von Traum und Wachen versetzt zu werden, worin er seine einsamen Stunden am liebsten hinzubringen pflegte. Dieses Mittel, sich selbst auf eine angenehme Art um seine Zeit zu betrügen, reichte um so eher zu, da in der That, ungeachtet er fast alle Gemeinschaft mit den Parianern abgebrochen hatte, wenige Tage oder Wochen im Jahre vergingen, wo er sich ganz allein gesehen hätte. Denn seine bald genug bekannt gewordene Neigung zu den geheimen Wissenschaften und Künsten zog ihm eine Menge Besuche von Fremden zu, die das ihrige zu Befriedigung derselben beytragen wollten. Herum ziehende Kaldäer und Magier, reisende Pythagoräer, und Leute, die mit der Art von Handschriften, auf die er so erpicht war, handelten, gingen bey ihm immer ab und zu; selten fehlte es ihm an dem einen oder andern Tischgenossen dieser Art, und es würde einem, der ihre Tischreden aufgeschrieben hätte, ein leichtes gewesen seyn, in kurzer Zeit ganze Karren voll solcher Konversazionen zusammen zu bringen, wie du eine in deinem Lügenfreunde verewiget hast. In den letzten Jahren seines Lebens ließ er sich von einem Hermetischen Adepten überreden, eine geheime Werkstätte in seinem Hause anzulegen, worin Tag und Nacht an dem großen Werke, das man in spätern Zeiten den Stein der Weisen nannte, gearbeitet wurde. Zu gutem Glücke starb er noch zeitig genug, um den Plan des Adepten zu vereiteln, der sich wahrscheinlich mit guter Art zum Erben des alten Mannes zu machen hoffte.

Du siehest leicht, lieber Lucian, was die Erziehung in dem Hause eines solchen Großvaters bey einem jungen Menschen mit einer Anlage wie die meinige natürlicher Weise für Folgen haben mußte. Dazu kam noch, daß ich der Liebling des alten Proteus war, und daß er sich eine eigne Freude daraus machte, mich so gut er konnte und wußte in den Geheimnissen seiner Filosofie zu iniziieren. Sein Museum stand mir immer offen; ich mußte ihm oft, wenn er auf seinem Ruhebette lag, vorlesen, und er fand großes Behagen daran, aus meiner Neugier für diese Dinge, und aus der Leichtigkeit womit ich mich in alles zu finden wußte, zu augurieren, daß dereinst (wie er sich ausdrückte) ein großer Mann aus mir werden würde. Das einzige, was er nicht an mir bemerkte, war der Unterschied, der bey aller dieser anscheinenden Sympathie zwischen seiner und meiner Sinnesart vorwaltete. Ihm war das Wunderbare nichts als eine Puppe, womit seine immer kindisch bleibende Seele spielte; bey mir wurde es der Gegenstand der ganzen Energie meines Wesens. Was bey ihm Träumerey und Mährchen war, füllte mein Gemüth mit schwellenden Ahndungen und helldunkeln Gefühlen großer Realitäten, deren schwärmerische Verfolgung meine Gedanken Tag und Nacht beschäftigte. Er belustigte sich an filosofischen Bildern, Räthseln und Hieroglyfen, wie ein Kind an bunten Blumen oder Schmetterlingen Freude hat; Ich bestrebte mich in ihren tiefsten Sinn einzudringen: kurz, Er liebte das Außerordentliche, weil es den ewigen Schlummer seiner natürlichen Trägheit durch angenehme Träume unterbrach, und Ich brannte schon als ein Mittelding von Knabe und Jüngling vor Begierde, diese außerordentlichen Dinge selbst zu erfahren und zu verrichten.


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