Christoph Martin Wieland
Peregrinus Proteus
Christoph Martin Wieland

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Peregrin. Daß du hier bist, beweiset viel für dich – aber AbschälungenWas er unter diesen Abschälungen versteht, ist in einem andern elysischen Dialog zwischen Lucian und Diokles deutlicher gemacht worden. mag es doch gekostet haben!

Lucian. Davon kann wohl niemand besser aus Erfahrung sprechen als Proteus.

Peregrin. Die Luft, die wir hier athmen, lieber Lucian, macht uns zu Freunden, wie verschieden wir auch noch immer in unsrer Vorstellungsweise seyn mögen. Aber gestehe nur aufrichtig, du wunderst dich, wie ein so verächtlicher und nichtswürdiger Mensch, als du den armen Peregrin geschildert hast, eine Thür ins Elysium offen finden konnte?

Lucian. Ich schilderte dich damahls wie ich dich sah oder zu sehen glaubte. Freylich muß indessen entweder mit meinen Augen, oder mit deinem inwendigen Menschen eine große Veränderung vorgegangen seyn.

Peregrin. Vermuthlich mit beiden. Aber doch bin ichs der Wahrheit schuldig, dir, wenn du Muße hast mich anzuhören, eine etwas bessere Meinung von dem, was ich in meinem Erdeleben war, beyzubringen, als du der Nachwelt davon hinterlassen hast.

Lucian. Ich bin zwar im Begriff eine kleine Reise in unser altes Mutterland zu machen; aber mein Geschäft ist nicht so dringend, daß es Eile erforderte. Überdieß können mir die Nachrichten, die ich über gewisse Stellen deiner Lebensgeschichte von dir selbst am zuverlässigsten erhalten könnte, vielleicht bey dem, was der hauptsächlichste Gegenstand meiner Absendung ist, nicht ohne Nutzen seyn.

Peregrin. Desto besser. Wenigstens gewinnest du immer so viel dabey, daß du nichts von mir hören wirst, als was ich selbst für Wahrheit halte.

Lucian. Wir sind zwar sogar im Elysium nicht gänzlich von den geheimen Einflüssen der Eigenliebe frey: aber da es unmöglich ist, daß wir vorsetzlich gegen unser Gefühl und Bewußtseyn reden sollten, so bin ich gewiß, daß ich über alles, was du selbst am besten wissen kannst, die reine Wahrheit von dir erfahren werde. Die Quellen, woraus ich ehemahls meine Nachrichten schöpfte, mögen wohl nicht immer die lautersten gewesen seyn, wiewohl ich allerdings den Willen hatte dir kein Unrecht zu thun.

Peregrin. Wer weiß besser als Du, wie wenig auf die Erzählungen und Urtheile der Sterblichen von einander zu bauen ist! Jene werden schon dadurch allein fast immer verfälscht, daß man diese, es sey nun unvermerkt oder mit Vorsatz, unter sie einmischt, und also den Sachen durch unsre Meinungen von ihnen fast immer eine falsche Farbe oder ein betrügliches Licht giebt. Selten ist der Erzähler ein Augenzeuge, noch seltner der Augenzeuge ganz unbefangen, ohne alle Parteylichkeit, vorgefaßte Meinung oder Nebenabsicht; fast immer vergrößert oder verkleinert, verschönert oder verunstaltet er was er gesehen hat. Du, zum Beyspiel, hattest den Willen mir kein Unrecht zu thun: aber ich war ein Christianer gewesen, und du hieltest alle Christianer für Schwärmer oder Schelme; ich war in den Orden des Diogenes übergegangen, und dein Haß gegen die Cyniker ist bekannt genug, da du keine Gelegenheit versäumtest ihm die möglichste Publicität zu geben. Wie hättest du also den armen Peregrin, mit allem guten Willen ihm kein Unrecht zu thun, in keinem ungünstigen Lichte sehen sollen? Ihn, auf den der ehemahlige Christianer und der nunmehrige Cyniker einen doppelten Schatten warf?

Lucian. Was die Cyniker betrifft, so muß ich dich um Erlaubniß bitten zu bemerken, daß ich, anstatt ein Feind, vielmehr ein Bewunderer ihres Ordens, seiner ersten Stifter und der wenigen echten Glieder, die ihm Ehre brachten, war. Mein Demonax und mein Dialog mit einem Cyniker sollten mich, dächte ich, über diesen Punkt hinlänglich gerechtfertiget haben. Vermuthlich würde ich auch mit den Christianern gelinder verfahren seyn, wenn ich jemahls so glücklich gewesen wäre, nur einen einzigen edeln und liebenswürdigen Menschen aus dieser Sekte kennen zu lernen.

Peregrin. Dieß wäre eben nicht unmöglich gewesen; wiewohl ich gestehen muß, daß ein echter Christianer zu unsrer Zeit beynah eben so selten war als ein echter Cyniker. – Aber dieß für jetzt bey Seite gesetzt, antworte mir, wenn ich bitten darf, nur auf eine einzige Frage.

Lucian. Sehr gern. Frage was du willst.

Peregrin. Der Unbekannte, der zu Elis, von der öffentlichen Redekanzel herab, so viel schändliche Dinge von mir erzählt haben soll, war er eine wirkliche Person? oder hast du ihn vielleicht nur aufgestellt um deine Komposizion einfacher zu machen, und einem Einzigen in den Mund gelegt, was du vielleicht von verschiedenen Personen zu verschiedenen Zeiten über mich gehört hattest?

Lucian. Gewisser Maßen beides.

Peregrin. Ich erinnere mich nun selbst wieder, daß mir Theagenes, so bald er nach Olympia kam, etwas von einem solchen Auftritt zu Elis erzählte, wo ihn sein übermäßiger und (wie ich glaube) nicht ganz lautrer Eifer für den Ruhm des cynischen Ordens antrieb, die Kanzel zu besteigen, um mir und meinem Vorhaben die Lobrede zu halten, die dir so anstößig war.

Lucian. Der Unbekannte war kein Geschöpf von meiner Erfindung. Er schien, der Aussprache nach, ein Bithynier oder Paflagonier von Geburt, ein Epikuräer von Profession, und übrigens ein Mann zu seyn, der viel gereist und kein Neuling in der Welt war. Die Heftigkeit, womit dieser Mann gegen dich deklamierte, hätte mir seine Erzählung vielleicht verdächtig machen sollen: aber mein natürlicher Haß gegen einen jeden der etwas außerordentliches seyn wollte, die nachtheilige Meinung, die ich bereits von dir hegte, und die Übereinstimmung des Karakters, den er von dir machte, mit meiner eigenen vorgefaßten Meinung, und mit den Nachrichten, die ich aus andern Quellen erhalten hatte, – alles dieß zusammen machte mich geneigt ihm zu glauben, und die Hitze, womit er gegen dich sprach, einer der meinigen ähnlichen Sinnesart zuzuschreiben. Hierzu kam noch, daß ich in dem Resultat seiner ganzen Erzählung den Schlüssel zu finden glaubte, der mir das Außerordentliche in deinem Leben, und besonders die seltsame Art wie du es zu endigen vorhattest, aufzuschließen schien. Indessen gestehe ich offenherzig, daß ich kein Bedenken trug, die Erzählung des Ungenannten mit verschiedenen Anekdoten, die ich zu verschiedenen Zeiten und Gelegenheiten aufgelesen hatte, vollständiger zu machen. Auch kann ich nicht läugnen, daß das Orakel des Bakis, welches ich ihn dem Spruch der Sibylle stehendes Fußes entgegen setzen ließ, eine Verschönerung von meiner eigenen Erfindung war.

Peregrin. Man kann, denke ich, immer darauf rechnen, daß Schriftsteller, denen es mehr um Beyfall als um strenge Wahrheit zu thun ist, sich eben kein Gewissen daraus machen werden, der Komposizion zu Liebe manchen Eingriff in die Rechte der letztern zu thun. Ein Bißchen Unwahrheit und Ungerechtigkeit mehr oder weniger, wenn es darauf ankommt einen witzigen Einfall anzubringen oder eine Periode zu ründen, ist eine sehr unbedeutende Kleinigkeit in ihren Augen. Wer das Unglück hat, der Gegenstand einer FilippikaBekannter Maßen werden die Deklamazionen des Demosthenes gegen den König Filipp von Macedonien so genannt. zu seyn, muß freylich unter diesem hergebrachten Vorrecht witziger Schriftsteller leiden: dafür aber befinden sich auch die Glücklichen, denen Lobreden zu Theil werden, desto besser dabey, und gewinnen oft, eben so unverdienter Weise, doppelt und dreyfach wieder, was jene verloren haben. Ich kann also, da du mein Bild von Theagenes vergolden, von dem Unbekannten hingegen mit Koth übertünchen ließest, immer eines gegen das andere aufgehen lassen: aber es bleibt mir noch eine andere kleine Beschwerde übrig, gegen welche es vielleicht schwerer seyn dürfte, deine Unparteylichkeit hinlänglich zu rechtfertigen.

Lucian. Vermuthlich, daß ich so leicht über die Rede wegging, die du selbst wenige Tage vor der Ceremonie an die Versammlung zu Olympia hieltest?

Peregrin. Und worin ich mich, wie du dich erinnern wirst, über alle zweydeutigen Stellen meiner Lebensgeschichte umständlich genug vernehmen ließ. Wie kam es, daß der große Freund der Wahrheit – der so gewissenhaft war, von allem was der Unbekannte zu meinem Nachtheil vorgebracht hatte, kein Wort auf die Erde fallen zu lassen von allem was ich selbst zu meiner Rechtfertigung sagte, und was als die letzte Erklärung eines Sterbenden doch immer einiger Aufmerksamkeit werth war, nicht ein einziges armes Wörtchen vom Boden aufzuheben würdigte? Denn daß die angeführte Entschuldigung, – »du wärest, der Menge und des Gedränges wegen, zu weit entfernt gewesen um etwas davon zu verstehen,« nicht eine bloße Ausrede gewesen sey, werden sich unbefangene Leser schwerlich überreden lassen.

Lucian. Aufrichtig zu reden, lieber Peregrin, ich zweifle sehr, ob du damahls, wenn du von mir hättest reden oder schreiben sollen, gerechter gegen mich gewesen wärest als ich gegen dich. Wir waren beide zu ganz das was wir waren, ich zu kalt, du zu warm, du zu sehr Enthusiast, ich ein zu überzeugter Anhänger Epikurs, um einander in dem vortheilhaftesten Lichte zu sehen. Ein inniges Gefühl von Verachtung war mit dem Begriff eines Schwärmers (unter welchem ich mir unmöglich etwas andres als entweder einen Narren oder einen Spitzbuben denken konnte) zu genau in mir verbunden, um nicht, selbst auf eine instinktmäßige Weise, bey solchen Gelegenheiten auf mich zu wirken. Ich hatte weder Achtung noch Neugier genug für das, was du dem Volke vortrugst, um mich, mit Gefahr halb erdrückt zu werden, durch die Menge von Menschen, welche Kopf an Kopf um die Redekanzel herum standen, näher hin zu drängen – oder mich früh genug eines Platzes neben ihr zu versichern. Es war also die reine Wahrheit, da ich sagte, ich hätte wenig oder nichts von deiner Rede verstandene und erst, als viele, die es in dem erstickenden Gedränge nicht mehr aushalten konnten, sich mit Händen und Füßen wieder heraus arbeiteten, fand ich Gelegenheit, nahe genug zu kommen um den Schluß derselben zu hören. Um so mehr wirst du mich demnach verbinden, guter Peregrin, wenn du mir durch die versprochnen Berichtigungen deiner Geschichte zu einer unverfälschten Kenntniß deines Karakters verhelfen willst. Wenn dirs gefällt, so setzen wir uns dazu unter diesen Platanus, der jenem Sokratischen am Ufer des Ilyssus so ähnlich sieht.

Peregrin. Sehr gern. Höre also, was ich dir von meiner Jugend, von meinen ersten Wanderungen, meiner Gemeinschaft mit den Christianern, meinem Übergang zu den Cynikern, meinem Aufenthalt in Alexandrien, Rom und Athen, und endlich von den Bewegursachen, warum ich meinem irdischen Leben ein so außerordentliches Ende machte, mit aller Aufrichtigkeit, die eine natürliche Folge unsers gegenwärtigen Zustandes ist, erzählen werde. Es kommt, wie du weißt, bey den Menschen nicht weniger als bey den Pflanzen, sehr viel, wo nicht alles, darauf an, in welchem Boden und unter welchen Einflüssen die zartesten Fasern ihrer aufkeimenden Natur entwickelt und genährt worden sind. Du wirst mir also erlauben, lieber Lucian, meine Geschichte, wie jener Dichter die Zerstörung des Trojanischen Reichs, vom Ey anzufangen.


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