Ernst Wichert
Heinrich von Plauen
Ernst Wichert

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25. DES KÖNIGS LEIBARZT

Maria glaubte gewiß schon lange nicht mehr daran, daß Heinz noch unter den Lebenden sei. War er begraben in ihrem Herzen? Vielleicht gerade deshalb, weil er ihr nicht mehr lebte, minderte sich ihre Macht über ihn. Heinz meinte, es müsse eine solche Wechselwirkung bestehen zwischen denen, die einmal ihr Schicksal verkettet hätten. Nun dachte er darauf, wie er sie's wissen lassen könne, daß er in Polen gefangen sei und an seinen Wunden krank liege.

Er hatte mit dem Pater verabredet, daß er mit einem Stock auf den Boden klopfen wolle, wenn er in der Nacht etwas bedürfe. Der Ton war bis in seine Zelle neben der Kapelle zu hören, und der Kaplan hatte einen leisen Schlaf. Selten genug hatte der Junker von dieser Erlaubnis, ihn zu wecken, Gebrauch gemacht. In einer Nacht aber, als ihn wieder jene Gedanken quälten, entschloß er sich und klopfte an.

Bald erschien der gute Mann mit einem Lämpchen, das vor dem Heiligenbilde in der Kapelle brannte und von ihm besorglich mitgenommen war, und fragte nach seinem Begehr. Er glaubte nicht anders, als daß des Junkers letztes Stündlein gekommen sei und er von ihm geistlichen Trost begehren werde.

Darin irrte er freilich. Es waren weltliche Gedanken, die Heinz beschäftigten. Ich sehe wohl, daß es traurig um mich bestellt ist, sagte er, und wenig Hoffnung, daß ich genese. Was ich an irdischem Gut besitze, ist gar gering und mag durch Eure Hand den Armen zufallen, ohne daß es einer Schrift bedarf. Es beschwert mich aber, daß ich von dieser Welt scheiden soll, ohne von den Freunden Abschied zu nehmen, die mir im Leben Gutes erwiesen haben. Da wollte ich Euch nun herzlich bitten, hochwürdiger Herr, mir einen Brief zu schreiben, der ihnen Nachricht gibt von meinem Schicksal. Vielleicht findet sich eine Gelegenheit, ihn sicher nach Preußenland zu befördern.

Der Kaplan machte ein bedenkliches Gesicht. Lieber Junker, antwortete er, Ihr merkt wohl, daß ich des Deutschen wenig mächtig bin, und ob ich's gleich verstehe und zur Not sprechen kann, so weiß ich's doch nicht zu schreiben.

Schreibet denn Latein, bat der Kranke, es gibt in den Konventen überall gelehrte Priesterbrüder, die in dieser Sprache bewandert sind.

Pater Stanislaus zupfte verlegen an dem Stricke seiner Kutte. Daß ich's Euch nur gestehe, Junker, sagte er nach einer Weile, mit meinem Latein sind auch nicht weite Sprünge zu machen. Ich weiß die Gebete auswendig und lese ein wenig in den heiligen Büchern, habe auch vor Jahren einiges zu meinem Gebrauche abgeschrieben. Aber ob es mir mit diesem geringen Vorrat gelingen kann, über weltliche Dinge einen Brief abzufassen –

Versucht es immerhin, schnitt Heinz seine Bedenken ab. Ihr würdet mich sehr beruhigen.

Und an wen sollte ich nach Eurer Meinung schreiben? fragte der Kaplan zögernd.

Der Junker überlegte. Ich könnte mich wohl an Herrn Heinrich von Plauen wenden, der jetzt Hochmeister des Deutschen Ordens sein soll und mir ein sehr gnädiger Herr war. Aber der hat sicher jetzt viele Sorgen, und ich fürchte, der Brief kommt im besten Falle nur in seines Schreibers Hand … Auch hatte ich in der Marienburg viel Verkehr mit einem Ordensbruder, der hieß Wigand von Marburg und schrieb eine Chronik des Landes. Doch war der schon ein sehr alter Mann, und ich weiß nicht, ob er die schweren Zeiten der Belagerung überlebt hat. Am besten ist's daher wohl, ich wende mich an den Komtur von Danzig, zumal es mir besonders daran gelegen ist, nach dieser Stadt von mir Nachricht zu geben, in der man mich bei meiner Ankunft in Preußen gar freundlich aufgenommen hat. Am leichtesten mag es auch gelingen, den Brief dorthin gelangen zu lassen.

Was aber soll ich in Eurem Namen schreiben, lieber Junker? Sagt mir's wörtlich vor; ich will es dann versuchen zu behalten und ins Latein umzustellen, so schwer es mir auch werden wird.

Ich danke Euch von Herzen, sagte Heinz sehr erleichtert. Schreibt denn etwa also: »Gnädiger Herr Komtur! Der diesen Brief an Euch richtet, heißt mit Namen Heinrich von Waldstein und ist von Herrn Heinrich von Plauen, damals Komtur von Schwetz, seinem Verwandten, ins Land berufen worden. Lieber Herr Komtur! Ich bitte Euch gar sehr, daß Ihr ihm gelegentlich melden wollet, wie ich bei Tannenberg schwer verwundet und in polnische Gefangenschaft geraten bin und auf dem Schlosse Sczanowo an meinen Wunden krank liege und dem Tode nahe bin. Sollte mich aber der gnädige Gott wider Vermuten nochmals zu Kräften kommen lassen, daß der Herr Hochmeister meiner nicht vergesse und mich mit den andern Gefangenen aus der Gefangenschaft löse; damit ich ihm wieder zu Diensten sei. Auch weiß Herr Heinrich von Plauen, daß ich eine Schwester habe, Waltrudis mit Namen, der wolle er einen Gruß bestellen. Zudem, so bitte ich Ew. Gnaden inständigst, daß Ihr in der Rechten Stadt Danzig dem Ratsherrn Huxer Nachricht geben wolltet von allem, was ich Euch geschrieben habe, ihm und seiner Tochter Maria, wie ich verwundet und gefangen bin und meiner Leiden nicht erlöst werde. Wolle die Jungfrau mir noch ein Liebes erweisen, so möge sie zu ihrer Namensheiligen beten, daß sie mir Gnade zuwende, sei es in diesem, sei es im ewigen Leben. Den Ring aber kann ich ihr nicht zurückgeben, weil er mir genommen ward, da ich für tot lag. Das mag den Buben schlechten Lohn eintragen.« Und dann füget einen Schluß bei, wie es schicklich ist.

Der Kaplan ließ sich's nochmals und zum drittenmal hersagen, bis er meinte, jedes Wort gut gefaßt zu haben. Sagt niemand, bat der Junker, daß Ihr den Brief für mich schreibt, und gebt ihn mir, wenn er fertig ist, zur Aufbewahrung, bis er einen Boten findet. Sollte ich aber sterben, bevor er befördert wäre, so versprecht mir, ehrwürdiger Herr, daß Ihr die Worte zufügen wollet: »er ist gestorben an dem und dem Tage«, und ihn sodann absenden werdet, so schleunig es sein kann. Denn besser ist's, sie weiß, daß ich nicht mehr unter den Lebenden bin, als daß sie nutzlos um mich sorgt.

Das letzte sprach er ganz leise vor sich hin, aber der Pater hatte die Worte doch verstanden. Er versicherte dem Junker, daß er alles wohl ausrichten werde und eine Todesnachricht ohne Mühe zu schreiben wisse. Als er dann aber, das Lämpchen in der Hand, langsam die Steintreppe hinabstieg, blieb er öfters stehen und wiegte den Kopf. Es war nicht, weil er bedachte, wie er die lateinischen Worte stellen sollte, daß sie alles ausdrücken möchten, was der Junker ihm aufgetragen zu schreiben. Er war aber so weit ein weltkluger Mann, daß er sich's zu reimen wußte, wie es um des Junkers Herz stand. Das bekümmerte ihn Natalias wegen. Unten in seiner Zelle überkam ihn der sündige Gedanke, es sei am Ende das kleinste Leid, wenn der Junker seiner Krankheit erliege. Dann aber bekreuzte er sich und betete zu Gott, daß er's nach seiner Weisheit einrichte.

Den Brief malte er in den nächsten Tagen mühsam auf ein Blatt Papier, das er aus einem von ihm abgeschriebenen Psalter ausschnitt, der die Lage nicht ganz gefüllt hatte. Er faltete ihn zusammen, legte einen Kreuzfaden herum und siegelte mit Wachs. Die Aufschrift lautete: »An den Herrn Komtur zu Danzig«, ohne Namen. Heinz verwahrte das Schreiben unter seiner Decke.

Bald darauf war's, als Herr Michael von Kroczinski mit der ganzen Vetterschaft nach Raciaz zum König reiste. Heinz erfuhr davon durch Natalia, fürchtete aber Verdacht zu erregen, wenn er durch die Polen einen Brief an einen Ordensgebietiger übergeben ließ, und hielt ihn lieber noch zurück.

Natalia aber trug einem der Vettern dringend auf, in Raciaz nach des Königs Leibarzt zu fragen, ihm den Krankheitsfall vorzutragen und ein Heilmittel zu erbitten.

Der Vetter führte diesen Auftrag auch aus, brachte aber, als er mit dem größten Teil des Gefolges zurückkehrte, die Antwort mit, der Arzt müsse den Kranken selbst sehen und befragen. Der Vetter erzählte übrigens, daß der Arzt des Königs ein Jude sei, Leib Israel heiße und in dem Rufe stehe, schon die wunderbarsten Heilungen ausgeführt zu haben. Der König vertraue ihm mehr als den christlichen Doktoren, die in seiner Dienerschaft feien. Man sage, daß Leib Israel sich lange in Spanien bei den Mauren aufgehalten und dort die geheimsten Heilkünste gelernt habe.

Nun hatte das Fräulein nur noch den einen Gedanken, wie sich's bewerkstelligen ließe, daß der berühmte Arzt nach Sczanowo käme und ihren Kranken untersuchte. Die Sache hatte ihre erheblichen Schwierigkeiten, da es sich um eine Reise im Winter handelte. Sie besaß eine goldene Kette von Wert, die der Vater ihr zu ihrem sechzehnten Geburtstag geschenkt hatte; die wollte sie gern opfern und auch den ungarischen Goldgulden zulegen, der ein Patengeschenk war, wenn nur der Arzt durch diesen Lohn zu gewinnen sei. Aber wie zu ihm gelangen? Wie ihn nach Sczanowo herüberschaffen? Sie eröffnete sich ihrer Mutter und bat sie unter Tränen, ihr beizustehen. Frau Cornelia zuckte die Achseln und meinte, es sei närrisch, daß sie sich um den deutschen Junker so viel Sorge mache. Natalia ließ sich nicht entmutigen. Sie führte nun selbst ihre Sache bei den Vettern und schmeichelte so lange, bis zwei derselben ihr zusagten, einen Schlitten auszurüsten und zu begleiten, so hoffnungslos auch das Unternehmen sei, denn schwerlich werde der Arzt ihren Bitten nachgeben. Ich selbst komme mit euch, sagte sie, und hole ihn ab. – Eines Morgens früh erschien sie ganz in Pelze gehüllt im Turmstübchen. Sie sagte Heinz, was im Werke sei, und nahm für einige Tage Abschied von ihm. Haltet tapfer solange aus, mahnte sie, und sucht Euch ohne mich zu behelfen. Pater Stanislaus wird Euch treu zur Seite stehen. Ungern wahrlich verlasse ich Euch, aber ich hoffe, es ist zu Eurem Wohl.

Heinz drückte dankbar ihre Hand. Es ist mir nicht zu helfen, sagte er, aber in seinen Augen leuchtete doch ein Funke Lebenslust auf: noch gab man ihn nicht verloren. Und sie war's, seine treue Krankenpflegerin, die sich für ihn aller Unbill einer Winterreise aussetzte! Wie sie das Gesichtchen in der steifen Pelzkapotte nicht von ihm abwandte bis zur Tür hin – und er täuschte sich sicher nicht: eine Träne hing in ihren Wimpern.

Als er mit sich allein war, fiel es ihm wieder aufs Gewissen, daß er ihr so viel Güte und Treue nicht würde vergelten können. Es war ihm nun fast ein Trost, sich vorzustellen, daß doch all ihr Mühen, ihn am Leben zu erhalten, vergeblich sein werde. Seine Stimmung wurde wieder sehr schwermütig. Der Kaplan, als er ihn besuchte, fand ihn geneigt, über die Dinge im Jenseits zu sprechen.

Am andern Tage bemerkte der geistliche Herr von seiner Zelle aus, daß ein Schlitten mit vier kleinen Pferden in einer Reihe auf den Hof fuhr und einer der Holzjuden, reisefertig gekleidet, ins Haus trat, um mit den Herren zu sprechen. Er erkundigte sich, wohin das Fuhrwerk bestimmt sei, und erfuhr, daß der Jude auf der Weichsel nach Thorn wolle, um dort Geld zu besorgen, vielleicht auch bis Danzig hinaufgehe, wegen der Hölzer abzuschließen für den Fall, daß der Friede wieder freie Schiffahrt gestatte. Er ging sogleich zu dem Kranken hinauf und sagte es ihm. Da sei nun eine günstige Gelegenheit, den Brief mitzuschicken, meinte er.

Den Junker überraschte diese Nachricht sichtlich. Es war ihm Bedürfnis gewesen, den Brief schreiben zu lassen. Nun er geschrieben war, drängte es ihn nicht mehr so sehr, ihn auch befördert zu sehen. Er hatte sich schon darauf gefaßt gemacht, daß er unter seiner Decke liegenbleiben werde, bis man ihn selbst hinaustragen würde zu seiner letzten Ruhestätte. » ortuusest « – würde der Pater darunter schreiben und drei Kreuze beifügen. Im entscheidenden Augenblick ängstigte ihn jetzt die Frage: Warum sollen sie auch wissen, daß ich noch lebe? Was können sie für mich tun, wenn ich nicht gesunde? Und vielleicht, wenn ich gesunde … Ich bin ihr Gefangener. Er schämte sich der Heimlichkeit gegen das gute Mädchen.

Aber es war ihm eine kurze Bedenkzeit zugemessen. Der Kaplan stand und wartete mit ausgestreckter Hand. Endlich meinte Heinz, halb und halb dem Zufall die Entscheidung überlassen zu können. Gut, sagte er, nehmt den Brief – aber tragt dem Juden auf, ihn zurückzubringen, wenn er nur bis Thorn reisen sollte. Mag ihn dann später ein anderer zuverlässig in Danzig abgeben.

Bald hörte er draußen die Schellen klingen. Der Schlitten fuhr dem Flußufer zu. Nun wünschte er wieder, der Brief möchte in des Komturs Hand kommen.

Im Laufe des Tages fühlte er sich sehr matt und unwohl. Der nächste brachte mehrmals tiefe Ohnmachten. Er vermißte seine gütige Pflegerin sehr. Sie wird ihn nicht mehr lebend finden, sagte der Kaplan bei sich voraus.

Natalia war indessen glücklich in Raciaz angelangt. Ein Rudel Wölfe, das sich von dem bewaldeten Ufer auf den Fluß wagte, hatten ihre Begleiter verscheucht. Als eine der Bestien, von einem Bolzen ins Auge getroffen, gefallen war, blieben die andern zurück, die Beute zu verzehren. Die Pferde durften nicht durch die Peitsche zu rascherem Laufe angespornt werden.

In Raciaz kostete es Mühe, ein Unterkommen für die Nacht zu finden. Die sämtlichen Quartiere waren von den königlichen Hofbeamten und von den Kommissarien mit ihrer Dienerschaft besetzt, Herrn Michael von Kroczinski kam der Besuch seiner Nichte somit gar nicht erwünscht; doch räumte er ihr galant sein eigenes Gemach und behalf sich mit einer Kammer. Noch weniger gefiel es ihm, daß er ihre Bitte des Königs Arzt vortragen sollte, den er einen unverschämten Juden nannte. Allerdings sei seine Wissenschaft groß, und er verstehe auch in den Sternen zu lesen. Dem König habe er richtig aus den Sternen vorausgesagt, daß er in einer großen Schlacht siegreich sein werde; deshalb sei er nun sehr in dessen Gunst und behandle selbst die Mächtigsten vom Adel übermütig. Zudem nenne man ihn geldgierig, und es sei daher ganz unwahrscheinlich, daß er sich zu dem Krankenbesuche bestimmen lassen werde für den geringen Lohn, den man bieten könne.

Leib Israel schlug wirklich die Bitte rund ab; er dürfe den König keine Stunde verlassen, entschuldigte er sich. Natalia beruhigte sich dabei nicht; sie bat nun selbst um Gehör, den Fall vorzutragen und wenigstens seinen Rat zu erbitten.

Natalia fand einen Mann mit mächtiger Krummnase und schwarzen Stirnlocken in einem langen seidenen Kaftan, der um die Hüften durch einen mit arabischen Schriftzeichen gezierten Schal zusammengehalten wurde. Seine Finger, selbst der Daumen, waren mit kostbaren Ringen besteckt, wahrscheinlich den Beweisen der Erkenntlichkeit hoher Patienten. Er las in einem großen Buche mit silbernen Beschlägen. In einem offenen Kasten auf dem Fußboden neben ihm waren allerhand Gläser, Büchsen und blanke Instrumente sichtbar. Ein ganz eigener Duft von scharfen Essenzen oder Räucherwerk durchzog das ganze mit bunten Teppichen umhängte Gemach.

Natalia fühlte sich sehr beklommen dem gelehrten Doktor gegenüber. Sie dachte aber mit aller Innigkeit an ihren armen Kranken und faßte sich Mut. Dann sprach sie mit so viel Wärme und zugleich so verständig über den sonderbaren Fall, daß der Arzt seine Teilnahme nicht versagen konnte. Hatte er anfangs ein vornehmes Schweigen beobachtet, so fing er nun an Fragen zu stellen, und die klaren, bestimmten Antworten schienen ihm zu gefallen. Liebes Kind, äußerte er sich endlich, ich kann Euch wenig Trost geben. Den Grund des Leidens glaube ich wohl zu erkennen, aber ich zweifle, daß jetzt noch geholfen werden kann.

Dem schönen Mädchen stürzten die hellen Tränen aus den Augen.

O mein Gott, rief sie, die Hände faltend, so hätte ich zu lange gezögert? Aber nein, Eure Kunst ist gewiß nicht machtlos! Ihr zweifelt … Also ist Rettung doch noch möglich. Oh, ich flehe Euch an.

Sie wollte auf die Knie sinken, aber der Doktor hinderte es, indem er ihre Hand faßte und sie aufrecht hielt. Ich kann, da ich den Kranken nicht untersucht habe, nur Vermutungen aussprechen, sagte er. Die Wunde an der Schulter schließt sich deshalb nicht, weil der Tatarenpfeil, der sie schlug – vergiftet war.

Natalia wurde bleich wie das Leinentüchlein, mit dem sie ihre Augen getrocknet hatte. Vergiftet –?

Es kann nicht anders sein, liebes Kind. Das Gift hat sich dem Blut mitgeteilt, und alle Säfte sind nun mit der Zeit so ungesund geworden, daß der ganze Körper siecht. Er muß ganz ungewöhnlich kräftig gewesen sein, da er diesem Verderben solange Widerstand entgegenzusetzen vermocht hat. Dagegen konnte freilich Euer Pater sowenig mit seinen Kräutern als mit seinen Gebeten etwas ausrichten.

Der breite Mund mit den schmalen Lippen verzog sich dabei zu einem spöttischen Lächeln, das vielleicht nicht beabsichtigt war. Natalia wollte es nicht bemerken. Ihr aber wißt das Mittel, weiser Mann! rief sie. Oh, enthaltet es mir nicht vor!

Nun kniff er die Augen zusammen und ließ einen zischenden Ton durch die Zähne. Es gibt freilich für Gifte Gegengifte, antwortete er, und ich bin hinter das Geheimnis gekommen, mit welchem Saft die Tataren ihre Pfeilspitzen zu tränken pflegen. Was nützt das? Wir haben es nicht mehr mit einer Wunde zu tun: der ganze Leib ist verpestet. Kann ich ihm frisches, gesundes Blut in die Adern flößen?

Sie senkte den Kopf und weinte. Könnt Ihr das nicht?

Diese vertrauensvolle Frage schmeichelte dem gelehrten Manne. Er steckte die Hand mit den langen Fingern in den Gürtel und ließ einen wohlgefälligen Blick auf der gebeugten Gestalt ruhen. Nein, sagte er, das kann ich freilich nicht. Aber die Natur hilft sich mitunter selbst, wenn man dem Krankheitsstoff die Wege versperrt, weiteres Unheil anzurichten. Nur ist es spät – sehr spät …

Ach, gewiß nicht zu spät, flüsterte sie, nun mit ihren braunen Augen voll inniger Bitte zu ihm aufsehend. Gebt mir das Mittel und sagt mir, wie es angewandt werden soll; ich will es gewiß an Aufmerksamkeit nicht fehlen lassen.

Er schüttelte den Kopf. Ich sage Euch, daß die Wege versperrt werden müßten. Dazu gehört zunächst eine besondere Behandlung der Wunde selbst, die ich niemand lehren kann. Ihr würdet den Giftkeim nicht zerstören. Und bliebe er darin und die Wunde schlösse sich, so würde er in Tollwut enden.

Natalia zog das Kästchen mit ihrem Schmuck vor, öffnete mit zitternder Hand halb den Deckel und sagte leise: Nehmt das. Es ist alles, was ich habe … Begleitet mich nach Sczanowo.

Er nahm ihr lächelnd das Kästchen ab, hob die Kette heraus und breitete sie zwischen den Fingern aus. Ein gar feiner Schmuck, sagte er. Erlaubt, daß ich sehe, wie er Euch kleidet. Er trat nahe an sie heran und legte die Kette um ihren Hals; dabei berührte er ihre Schulter, aber sie zuckte nicht. Ich will Euch nicht berauben – das Ding da paßt besser für Euch als für mich.

Es hat Goldwert, versicherte sie, und ich kann Euch sonst nichts bieten.

Der Dienst, den Ihr von des Königs Leibarzt verlangt, ist auch unbezahlbar.

Oh, so wollt Ihr um Gottes Barmherzigkeit – Sie sah zu ihm auf, senkte aber gleich wieder den Blick, da er sie mit so eigenen Augen betrachtete.

Dafür tut's Euer Pater. Nein, ein Liebesdienst ist des andern wert – ist der eine unbezahlbar, muß es der andere auch sein. Wohl denn – lohnt mir den meinen – durch einen Kuß.

Natalia trat erschreckt zurück; auf ihren Wangen flammte plötzlich Zornröte. Ihr wagt es –

Die Schönheit zu besteuern. Was büßt sie dabei ein? Ich bin bescheiden – einen flüchtigen Kuß. Man nennt mich habsüchtig, begierig nach Schätzen … Ihr sollt erfahren, daß der häßliche Jude schönen Damen um andern Lohn gefällig ist. Dünkt er Euch zu hoch für den Mann, den Ihr retten wollt?

Natalia preßte die Lippen zusammen und schauderte in sich hinein. Plötzlich erhellte sich ihr Gesicht, die Augen lachten, die Muskeln um den Mund zuckten. Rettet ihn! rief sie leidenschaftlich, drückte seine Hände zurück und küßte ihn rasch.

Dann brach sie in heftiges Weinen aus und verließ das Gemach.

Ihrem Oheim sagte sie, daß der Jude eingewilligt habe, mit ihr nach Sczanowo zu fahren; er möge gütigst dafür sorgen, daß ein zweiter Schlitten in der Frühe bereit sei. Am Abend erfuhr Herr Michael von Kroczinski, daß der König seinen Leibarzt beurlaubt habe. Nun erst glaubte er daran, daß sein Versprechen Ernst sei.

Jagello hatte Nachricht erhalten, daß Großfürst Witowd in der Nähe von Thorn angelangt sei und beschlossen, mit ihm in Slotorie zusammenzutreffen. Er beauftragte daher seinen Arzt, nicht zurückzukehren, sondern gleich weiterzureisen und ihm dort Quartier zu bestellen.

Man langte gegen Abend in Sczanowo an. Der Schlitten stand noch nicht, als Natalia schon hinaussprang, die Pelze abwarf und dem Turm zueilte. Pater Stanislaus kam ihr entgegen. Lebt er? rief sie.

Er lebt, antwortete er. Aber seit Mittag hat ein tiefer Schlaf –

Sie wies mit der Hand zurück. Des Königs Leibarzt –! Empfangt ihn – ruft die Dienerschaft – sorgt für ein wohnliches Schlafgemach –! Hastig jagten sich die Worte. Sie eilte die dunkle Steintreppe hinauf, trat in das Gemach ein, an das Bett des Kranken. Der Mond schien hell und streifte sein bleiches Gesicht. Er atmete so leise, daß sie sich tief über ihn beugen mußte, um den schwachen Ton zu vernehmen.

Dieses Leben gehört mir, wenn ich es ihm rette! jauchzte es in ihr. Überwältigt von diesem Gefühl der Freude, daß es ihr gelingen könnte, dem geliebten Manne Hilfe zu bringen, und leidenschaftlich erregt durch seinen tagelang vermißten Anblick, senkte sie das Gesicht noch tiefer und wollte einen Kuß auf seine Lippen drücken. In demselben Augenblick aber machte er im Schlaf eine Wendung mit dem Kopf zur Seite, so daß er sich ihr entzog.

Sie stutzte. Daß er schlief, war kein Zweifel; aber auch so hatte ihr diese Bewegung Bedeutung. Ach, ich darf nicht – murmelte sie vor sich hin, noch nicht … mein Mund ist entweiht. Aber für dich – für dich geschah es ja! Du sollst es wissen, wenn du gerettet bist. Und dann … nein, dann wirst du so grausam nicht sein, mich deshalb zu verwerfen!

Heinz bewegte im Schlaf die Lippen, sein Gesicht verklärte sich. Er träumt, dachte sie und merkte gespannt auf, zu ihm niedergebückt. Da hörte sie leise, aber ganz deutlich, ein warmes: Maria – ach! Maria!

Es war, als ob eine Schlange sie stach, so schnellte der ganze Oberkörper zurück. Maria! Sie griff mit der geballten Hand nach dem Herzen. Maria! Heiße Tränen rollten über ihre Wangen herab, immer rascher einander folgend, wie glühende Bleitropfen die Haut sengend. Maria! Sie wandte das Gesicht ab, taumelte in die Fensternische, drückte die Stirn gegen das eiskalte Steinkreuz. So stand sie wohl eine Viertelstunde. Sie atmete keuchend, wie jemand, der in wildem Lauf ein Ziel erjagt hat und nun erschöpft am Boden liegt.

Auf der Treppe wurden Stimmen laut, Schritte vernehmbar. Sie rührte sich nicht von der Stelle, wischte aber mit eiliger Hand die Tränen fort. Der Vorhang hob sich. Pater Stanislaus leuchtete mit dem Lämpchen voran. Es folgte der Arzt, und nach ihm kamen einige Diener mit Fackeln; sie blieben auf seinen Wink draußen stehen.

Der Pater hielt die Lampe über den Kranken hin, nachdem er den Docht noch weiter über die Rinne vorgezogen hatte, damit die Flamme sich vergrößere. Leib Israel schlug die Decke von der Brust zurück und besichtigte aufmerksam die Wunde. Als er sie mit dem Finger berührte, erwachte der Kranke und sah mit verwirrtem Blick zu dem fremden Gesicht auf. Des Königs Arzt, sagte der Pater, um ihn zu verständigen.

Nun beantwortete er die Fragen, die der Doktor ihm vorlegte, erst mit matter und schläfriger Stimme, dann sicherer und fester. Als derselbe im Examen eine Pause machte, wandte er sich an den Kaplan und erkundigte sich, ob auch das Fräulein wohlbehalten zurückgekehrt sei. Natalia hörte es, verließ aber ihren Platz in der Nische nicht. Das Herz schlug ihr wieder heftiger, aber nicht freudiger.

Ich muß Euch Schmerz bereiten, sagte nun der Arzt. Wahrscheinlich ist meine Vermutung richtig, daß der Pfeil vergiftet war, aber ich brauche Gewißheit, daß ich mich in der Art des Giftes nicht täusche. Beißt die Zähne zusammen. Junker – die Qual soll nicht lange dauern, und ich schaffe Euch dann schnell Linderung.

Er führte nun mit geschickter Hand ein feines Metallstäbchen in die Wunde ein und beobachtete mit gespanntem Blick den vorragenden Teil, indem er die Lampe dicht daran hielt. Es veränderte sogleich seine Farbe. Nach einer Weile zog er es wieder sanft heraus. Heinz stöhnte leise und atmete kurz, schrie aber nicht.

Ihr habt Euch gehalten wie ein Kriegsmann, lobte der Arzt. Er zog aus dem Aufschlag seines Ärmels ein Kristallfläschchen vor, öffnete es vorsichtig und tröpfelte ein wenig von einer stark riechenden Flüssigkeit in die Wunde. Der Schmerz schien sofort nachzulassen. Nun besorgt Eis, befahl er dem Kaplan, tut es in einen Beutel und kühlt damit die Wunde. Das Eis muß die ganze Nacht durch erneuert werden, damit das Fleisch rundum völlig abstirbt. Für heute kann ich weiter nichts für den Kranken tun. Morgen aber, nach Sonnenaufgang, will ich versuchen das Gift zu bannen. Ihr werdet ruhig schlafen, Junker. Gute Nacht!

Leib Israel ließ sich von den Fackelträgern hinab und über den Hof nach der Halle leiten, wo ihn Herr Jakob von Kroczinski mit der ganzen Gevatterschaft empfing. Des Königs Arzt war eine Persönlichkeit, die er meinte, hoch in Ehren halten zu müssen, damit er bei Hofe nichts Übles von Sczanowo berichte. In der Küche flammten schon die Herdfeuer und drehten sich unter den Händen flinker Köche und Mägde die Spieße.

Der Kranke schlief rasch wieder ein. Als der Kaplan sich entfernen wollte, trat das Mädchen vor und sagte: Besorgt das Eis und den Beutel – ich selbst werde die Nacht durch bei ihm wachen. Er wollte Einspruch erheben, aber sie wies ihn zurück. Was ich angefangen habe, will ich zu Ende führen.

Erst gegen Morgen ließ sie sich durch den Pater ablösen. Sie war dann auch nicht zugegen, als der Arzt seinen zweiten Besuch machte. Er fand die Wirkung der Eisumschläge ganz nach Wunsch, die Entzündung gehoben, entfernte das wilde Fleisch von den Wundrändern, tränkte einen Pfropfen gezupfter Leinwand mit einer Essenz von leuchtender Farbe und füllte damit die Vertiefung aus. Darüber legte er ein kleines Tuch und begoß dasselbe mit der Flüssigkeit, die er schon gestern angewandt hatte und die sofort einen säuerlichen Geruch durch das ganze Gemach verbreitete. Dem Kaplan sagte er, wie lange die Wunde nun unberührt bleiben solle und wann der Pfropf noch zweimal zu erneuern sei. Er ließ ihm dazu das Fläschchen mit dem Elixier zurück. Auch lehrte er ihn aus besonderen Kräutern einen Trank bereiten und gab ihm ein weißes Pulver, das er dazuschütten sollte. Zweistündlich habe der Kranke davon einen Löffel voll einzunehmen.

Es ist doch nichts dabei, fragte der geistliche Herr etwas ängstlich, was ein christlicher Priester sich hüten muß, selbst unwissentlich zu gebrauchen?

Der Jude zuckte verächtlich die Schultern. Ihr möget mit ruhigem Gewissen schlafen, Hochwürdigster; bis jetzt hat der Teufel mir noch nicht die Ehre getan, einen Bund anzubieten. Was soll er mit dem Juden anfangen, der ja doch verflucht ist? Lächelnd fuhr er fort: Aber es kann doch sein, daß er ein wenig die Hand im Spiel gehabt hat. Er lockt uns arme Sterbliche durch schöne Weiber. Wenn nicht das hübsche Kind für den Junker gebeten hätte, wer weiß … Aber seid ruhig! Und wollt Ihr ganz sicher gehen, so räuchert das Zimmer hinter mir aus, damit kein böser Stank zurückbleibe. Vale!

Damit entfernte er sich, ohne noch einen Blick auf den Kranken zu werfen. Der Kaplan nahm aber seinen Rat für alle Fälle ernst, holte aus der Kapelle das Räucherfaß und schwang es treppauf, durch das Turmzimmer und wieder treppab, Gebete murmelnd.

Der Arzt mußte noch ein Frühstück einnehmen, bei dem der Ungarwein nicht gespart wurde. Seine Begleiter wurden beim Haushofmeister gespeist und konnten nur mühsam zu Pferde steigen, so waren sie des Trunkes voll.

Natalia hatte sich am Abend und Morgen nicht sehen lassen. Erst als Leib Israel in den Schlitten gestiegen war und mit Pelzdecken umstopft wurde, trat sie aus der Vorhalle zu ihm heran und sagte: Gebt Ihr Hoffnung?

Die beste, antwortete er; so Gott will, ist er gerettet. Dann warf er ihr einen Seitenblick aus den halbgeschlossenen Augen zu. Euer Lohn darf Euch nicht gereuen, Fräulein.

Sie richtete sich stolz auf. Wißt Ihr das? antwortete sie. Wenn er heute gefordert würde – vielleicht zahlte ich ihn nicht mehr, gälte es auch sein Leben. Aber es ist geschehen, und wir sind einander nichts schuldig.

Die Pferde zogen an. Bald verklang das Schellengeläute hinter der Uferhöhe.


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