Ernst Wichert
Heinrich von Plauen
Ernst Wichert

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9. BRUDER UND SCHWESTER

Hans von der Buche war der Verabredung gemäß in Graudenz abgestiegen; der Weichselkahn hatte dort keinen Aufenthalt. Da er sich nun aber nach dem Knecht mit den Pferden umsah, ergab es sich, daß sie noch nicht eingetroffen waren. Bei dem kräftigen Nordwest, der fast unausgesetzt die Segel zu brauchen erlaubte, war die Reise allerdings überraschend schnell vonstatten gegangen; man hatte ihn in Buchwalde so früh nicht erwartet, oder es war irgendwie eine Verzögerung eingetreten.

Er nahm zur Nacht Herberge, meinte aber am nächsten Morgen, seine freie Zeit besser nützen zu können als mit dem Ablauern der Pferde. Die beiden Freunde hatten's so besprochen, daß Hans, nachdem er im Elternhause die Seinen begrüßt, nach Schwetz zum Besuch kommen, Heinz ihn dann aber zurückbegleiten und einige Tage in Buchwalde verweilen solle. Nun dachte sich's Hans recht lustig aus, von diesem Plane abzugehen und Heinz ganz unvermutet zu überfallen. Man könne ja dann noch immer ausführen, was man sich vorgenommen habe, meinte er.

So ließ er sich denn mit der Fähre über den Strom setzen und ging auf der Krone des Weichseldammes entlang, der nur wenige Meilen entfernten Stadt Schwetz zu. Er hätte ebensogut zu Fuß nach seiner Heimat wandern können, bis zu der er's nicht viel weiter gehabt haben würde, aber das fiel ihm nicht ein. Bei Sartowitz, wo die eigentümlich geformten Uferberge bis dicht an den Fluß traten, stieg er zur Kapelle hinauf und erfreute sich an der prächtigen Aussicht über den breiten Strom und seine Niederung hin. Es war noch früh und die Ferne in Nebel gehüllt; um so schärfer hoben sich die näher gelegenen Orte, die bewaldeten Höhen und die Weidenkampen im Fluß unter der Beleuchtung der Morgensonne heraus. Von da hatte er nur noch eine kleine Stunde bis zum Brückenturm am Schwarzwasser. Gegenüber lag das Städtchen, im Viereck von Mauern mit erhöhten und vorspringenden Türmen umgeben. Genau in der Mitte überragte sie das Rathaus mit seinem hohen Spitzdach und rechts in der Ecke die Pfarrkirche. Das Brückentor in der Mauer links war offen, denn die Bürger hatten auf ihren Äckern zu tun und mußten viel aus und ein. Junker Hans kam also unbefragt in die Stadt und brauchte dort keinen Wegweiser nach dem Markt, da er nicht zum erstenmal dort war. Die kleinen, schmalen Häuschen von Holz oder Fachwerk kamen ihm jetzt freilich recht ärmlich vor, da er so viele stattliche Städte inzwischen gesehen und erst kürzlich von Danzig Abschied genommen.

Mit dem ältesten Sohne des Ratmannes Johannes Clocz, namens Lippolt, war er in der Kulmer Schule zusammen gewesen. Der Vater war ein wohlhabender Kaufmann und besaß das große Haus am Markt mit den Speichern nach dem Mauergang zu. Man nannte es das große Haus, weil es zwei Baustellen einnahm und ein oberes Geschoß hatte, während sich die Nachbarn mit einem Stock und dem hohen Dach darüber begnügten. So war denn auch das Holzwerk über Tür und Fenstern zierlich ausgeschnitzt und ein niedriger Podest mit Geländer und Sitzbänken auf die Straße vorgebaut. Zu beiden Seiten standen zwei alte Linden, denen aber die Kronen bekappt waren, damit sie nicht den kleinen Fenstern zuviel Licht entzögen.

Auf der einen der beiden Bänke, den Rücken in die Ecke des Geländers gestützt und den Arm mit der fleischigen Hand über den Wolm lang hingestreckt, saß der behäbige Alte beim Frühschoppen und vergnügte sich damit, den Sperlingen zuzuschauen, die sich um die verschütteten Getreidekörner zankten oder einen Strohhalm abjagten. Ei, seh ich recht, rief er, als der Gast auf das Haus zuging, ist das wirklich der Junker von Buchwalde? Wo habt Ihr Euer Pferd eingestellt? Oder kommt Ihr zu Schiff? Willkommen daheim, Junker!

Er stand auf, rückte den Gurt zurecht, schüttelte Hans über das Geländer hin die Hand und zog ihn sogleich sanft die drei Stufen seitwärts hinauf an seine Seite. Wie geht's Eurem Vater? fuhr er fort. Ich habe letzten Herbst mit ihm ein gutes Geschäft gemacht – ich meine, er hat's mit mir gemacht –, oder wenn Ihr's denn so wollt, wir haben's miteinander gemacht. Alle seine Wolle habe ich ihm abgekauft zu Danziger Preisen, und er hat sie doch nur bis an den Fluß schaffen dürfen. Hat er Euch nicht davon gesagt, Junker? Ja, so gut trifft sich's nicht in jedem Jahr, daß der Begehr nach inländischen Tuchen groß ist: das hat seinen Grund in den Kriegsrüstungen.

Ich bin erst auf dem Wege nach Hause, antwortete Hans, und sprach meinen Vater noch nicht. Mein Pferd frißt übrigens keinen Hafer – ich komme auf Schusters Rappen von Michelau gegenüber Graudenz, einen Freund auf dem Schlosse zu besuchen, von dem ich mich doch gestern erst trennte. Muß auch morgen schon wieder fort, oder spätestens übermorgen. Könnt oder wollt Ihr mich solange herbergen?

Der Alte schob sein Käppchen von der Stirn zurück und zog den Mundwinkel schief auf. Sonst schon von Herzen gern, Junker, sagte er in zögerndem Ton, hätt's mir sicher sogleich als eine Ehre erbeten – aber ich weiß nicht –

Es geht also nicht an, fiel der Junker ohne Empfindlichkeit ein. Ihr habt's nur zu sagen und braucht keine Entschuldigung; finde hoffentlich irgendwo ein Unterkommen, wenn auch nur beim Krüger. Was macht mein alter Schulkamerad Lippolt?

Wollen doch sehen, Junker, wollen doch sehen, grübelte der Ratmann noch über die Logierfrage, indem er die Falte unter dem feisten Kinn ausstrich. Nämlich … hm, hm! Ja, der Lippolt, ganz recht – der hat letztes Jahr schon geheiratet, denkt Euch, des Schultheißen Tochter von Neuenburg. Ich hab' ihm mein Speichergeschäft abgetreten – zur Hälfte wenigstens; will erst einmal sehen, wie er allein vorwärtskommt. Er schlug sich vor die Stirn, daß es klappte. Ja, da sind wir ja auch überm Berge – an den Lippolt hatte ich gar nicht gedacht. Er wohnt dort in meinem alten Hause unweit dem Schloßtor und hat im Giebel Raum genug für drei Gäste. Ei, wird der Lippolt sich freuen, den Junker wiederzusehen! Ich schicke gleich zu ihm. Marie-Anne! – Bärbe! rief er ins Haus. Das heißt, wandte er sich wieder zurück, Raum, Junker … daran fehlt mir's auch nicht. Aber Ihr müßt wissen –

So macht Euch doch keine Sorge, bat Hans. Ich bin bei Lippolt so gut aufgehoben wie bei Euch. Wenn Ihr erlaubt, gehe ich ihm gleich zur jungen Frau Glück wünschen.

Nein, das erlaube ich nicht, wandte der Alte eifrig ein, das erlaube ich nicht. Kann ich auch nicht einen jungen Herrn zur Nacht aufnehmen – hahaha – besonderer Umstände wegen, essen und trinken soll er doch bei mir und sich unter meinem Dache ausruhen. Zu Eurem Freunde braucht Ihr nicht aufs Schloß zu laufen; ich erwarte ihn diesen Vormittag bei mir. Ist doch der Junker von Waldstein – recht geraten? Ja, den erwarten wir, ich und … nun, Ihr müßt's ja doch erfahren: seine Schwester, die in meinem Hause ist.

Seine Schwester – bei Euch? rief Hans überrascht.

Ei freilich, bestätigte der Alte. Der Herr Komtur hat sie mir in Pflege gegeben, da sie eine Verwandte von ihm ist und ein Waisenkind und meine Töchter ungefähr in dem gleichen Alter stehen – ich meine die unverheirateten, denn die Elisabeth hat den Stadtschreiber in Thorn geheiratet, einen sehr ansehnlichen Mann, und die Hanne ist eines Freischulzen Frau geworden, eine Meile von hier in der Niederung. Gestern war Seine Gnaden der Herr Komtur hier und kündete den Junker an, und das junge Fräulein hat eine unruhige Nacht gehabt vor Erwartung, wie meine Töchter erzählen. Das Fräulein – seht, das ist ja auch eben der Grund, weshalb ich Euch nicht bei mir aufnehmen kann. Es würde gleich Gerede geben in der kleinen Stadt, und der Herr Komtur hat strenge Grundsätze. Aber kommt mit mir hinauf, Junker, meine Frau wird sich freuen, wie stattlich Ihr in der Fremde geworden seid, und die Mädel … Er hob den Krug an den Mund und leerte den Rest auf einen Zug – nun, Ihr werdet ja sehen.

Damit schob er ihn durch die Haustür der Treppe zu. Immer sprechend öffnete er oben und ließ ihn in die Herrenstube ein. Da habt ihr den Junker, sagte er.

Die Herrenstube war jetzt gegen den Sommer hin als die geräumigste im ganzen Hause von dem weiblichen Hauspersonal zur Arbeitsstube gewählt. Auf einem Tritt von weißem Holz in der einen Fensternische saß eine Matrone, deren rundes Kinn in einer Halskrause steckte, während eine turbanartige Haube nur wenig von dem über der Stirn aufgekämmten Haar sichtbar werden ließ. Sie hatte ein Nähzeug in der Hand. Neben ihr stand ein junges Mädchen in schlicht bürgerlichem Anzuge, damit beschäftigt, ihr gegen das Licht gewandt die Nähnadel neu einzufädeln. Mitten im Zimmer schnitt an einem großen Klapptisch ein wenig älteres und eben so hübsches Kind nach einem Modell Leinwand zu und sah nun überrascht auf. In der Nähe des zweiten Fensters aber, doch schon außerhalb der Nische, bot sich am Spinnrocken eine Erscheinung, die sofort die Augen auf sich ziehen mußte. Obgleich wie die andern mit einer häuslichen Arbeit beschäftigt und im einfachen dunklen Kleide, zeigte die junge Magd, die dort spann, sich doch auf den ersten Blick von so eigener Art, daß niemand sie der Familie hätte zuweisen können. Alles an dieser sitzenden Gestalt war zierlich und doch wohl ausgerundet, die Haut des Gesichts und der Hände von blendender Weiße; ein lichtes, blondes Haar, nicht lockig, aber von der Stirn auf bis zu den Spitzen gekräuselt, nicht lang, aber dicht, gab dem schönen, ungemein lieblichen Gesicht eine breite Goldeinfassung und floß wellig über die Schultern hinab, im Nacken nur lose von einem blauen Seidenbande zusammengehalten. Das volle Licht, das von halber Höhe herab durch das offene Fenster auf die Gestalt fiel, gab ihr etwas Sonniges, so daß gegen den schattigen Hintergrund das Haar zu leuchten schien. Hans blieb wie verzaubert in der Tür stehen. Das junge Fräulein aber ließ auf den Ruf des Alten: Da habt ihr den Junker! den Faden aus den feinen Fingerchen fallen, stand auf, ging rasch einige Schritte vor und rief: Mein Bruder!

Sie hätte den durch ihre Erscheinung ganz Verblüfften vielleicht in ihre Arme geschlossen, wenn nicht der Ratmann schnell Einspruch erhoben hätte. Hoho, wies er sie zurück, indem er die breite Hand vorstreckte, so war's nicht gemeint! Der Junker Heinz von Waldstein, den Ihr sehnlichst erwartet, ist's nicht, aber auch ein Junker und ein Freund von ihm. Frau – Mädels, erkennt ihr ihn nicht?

Der Junker von der Buche, sagte die Matrone, indem sie sich nun erhob und ihn begrüßte. Ihr seid hager geworden von dem vielen Studieren, aber das freundliche Gesicht ist noch das alte.

Das schöne Fräulein aber, jetzt ganz mit Purpur übergossen, trat mit gesenktem Kopfe zurück und stand nun neben dem Spinnrocken, unter den langen Wimpern her nach dem jungen Manne ausschauend, der ihr diese Täuschung bereitet hatte.

Das ist des Herrn Komturs Pflegekind, bemerkte der Ratmann, oder wenn Ihr wollt, unser Pflegekind, von dem ich Euch sprach, Waltrudis, des Junkers Heinz von Waldstein Schwester, aber wir nennen sie gemeiniglich Trudis, weil uns der Name zu fremd klingt. Nun, wenn Ihr des Bruders Freund seid, werdet Ihr hoffentlich der Schwester genehm kommen. Ist's nicht so? Ihr aber, Junker, steht da, wie der Prinz im Märchen, ganz verzaubert, und habt noch nicht einmal die Marie-Annel und das Bärbchen begrüßt, die doch schon ungeduldig sind, Euch die Hand zu reichen. Was ist das?

Verzeiht, sagte Hans und holte nun das Versäumte nach, es überraschte mich so … Seine Schwester – er näherte sich Waltrudis und blieb doch wieder in einigen Schritten Entfernung stehen. Es war ein gar freundlicher Willkommen, ob ich ihn schon nicht verdiente. Weiß Gott, erschleichen wollte ich ihn mir nicht, aber nun Ihr mich einmal mit einem so guten Wort angeredet habt, laßt es Euch nicht gereuen, denn ich bin Heinz von ganzem Herzen brüderlich gesinnt und hoffe mir auch Eure Freundschaft zu erwerben.

Waltrudis schlug die großen, unschuldigen Augen zu ihm auf und antwortete lächelnd: Wahrlich, Ihr tragt keine Schuld an diesem Vergehen. Seit ich aber gestern abend erfahren habe, daß ich heute meinen Bruder finden soll, hab' ich ihn immer in Gedanken. Nun ich Euch näher betrachte, sehe ich wohl, daß ich nicht hätte irren dürfen.

Ei, ein Unbekannter ist doch wie ein anderer, meinte Frau Clocz, und der Junker von der Buche kann's mit jedem aufnehmen.

Ich habe mir auch meinen Bruder anders vorgestellt, entgegnete das Fräulein, und daß ich mir ein Bild von ihm zu machen suchte, ist gewiß nicht befremdlich. Lacht mich nur aus, aber ich hätte darauf schwören mögen, daß er blondes Haar haben müsse wie ich, und blaue Augen.

Darin täuscht Ihr Euch nicht, bestätigte der Junker, und er ist auch sonst ein ganz anderer Mann als der fahrende Scholar, der vor Euch steht. Ihr werdet Eure Freude an dem munteren Gesellen haben, der gewiß mit seinem Kommen nicht deshalb zögert, weil er verschlafen hat. Sicher hat ihm der Komtur die Stunde aufgegeben. Man erzählte mir in Graudenz, daß er ein strenger Mann sei, der in allem pünktlich auf Ordnung halte.

Ach nein, ein strenger Mann ist er nicht, versicherte Waltrudis, gegen mich ist er immer milde und gütig, und ich glaube, man verkennt ihn sehr. Wenn er befiehlt, muß es freilich geschehen; er hat auch einen so zwingenden Blick, daß ich mir's gar nicht denken kann, wie ihm jemand zu widersprechen vermöchte.

Wenn er zornig ist, will ich ihm nicht in die Quere kommen, bemerkte der Alte. Ich bin einmal mit zwei andern vom Rat bei ihm auf dem Schlosse gewesen, ein Vorstellen anzubringen, weil die Bürgerschaft eine Beschwerde zu haben glaubte, da hat er uns ziemlich unsanft heimgeleuchtet – hahaha! Freilich ist's hinterher zu unserm eigenen Besten gewesen, daß er sein Stück durchsetzte.

Währenddem kam der Packknecht herauf, der nebenan im unteren Speicherraum Flachs und Hede in Ballen zusammengeschnürt hatte, und meldete einen fremden Herrn, den der Komtur schicke. Er habe nicht eintreten wollen, bis er den Ratmann gesprochen. Clocz entfernte sich sogleich. Das ist er sicher, sagte Marie-Annel und klopfte Waltrudis schalkhaft auf die Schulter. Die aber sandte zu Hans von der Buche einen schüchtern bittenden Blick hinüber. Er verstand sie und sagte schnell zu den beiden Mädchen: Der Spaß ist verdorben, wenn er mich gleich beim Eintreten sieht, da er mich doch über alle Berge wähnt. Wir haben früher manchmal Verstecken gespielt; laßt sehen, liebe Jungfrau, ob wir noch einen von den alten Schlupfwinkeln finden. Dort im Stübchen nebenan steht der Wirkstuhl, nicht wahr? Und daran stößt eine lange Kleiderkammer, in der es so gruselig dunkel war. Gebt mir einen weiten Mantel und eine litauische Kappe, daß ich mich unkenntlich mache und ihn ein wenig foppe. Sie waren sofort bereit. In der Wirkstube aber verredete er's wieder. Ich habe sie nur beim ersten Begegnen miteinander allein lassen wollen, sagte er. Muß er auf uns achtgeben, so hat er seine Schwester nur halb, und ihr soll er doch nun vor allen gehören. Diese zarte Rücksicht schien ihrem kleinstädtischen Verständnis etwas sonderbar, aber sie fügten sich gern, da sie nun beste Gelegenheit hatten, mit dem Junker ungestört zu plaudern.

Diesmal war Waltrudis nicht voreilig. Sie stand neben ihrer Pflegemutter, die Hand auf deren runden Arm gelegt, und wartete, bis der Hausherr des Gastes Namen genannt hatte. Heinz aber warf seine Kappe in die Luft, ging mit ausgebreiteten Armen auf sie zu und rief: Waltrudis – Schwester! Ist es denn gewißlich wahr? Meine Schwester – du?

Seine Hände berührten ihre Schultern, und er hatte das Gefühl, als ob sie unter dieser Berührung erzitterten. So ihr zustrebend, hatte er nun doch nicht den Mut, sie an seine Brust zu ziehen, hielt sie eher mit straffen Armen eine Weile von sich ab, sah ihr mit forschendem Blick ins Gesicht und sagte: Wie schön du bist! Ganz anders, ganz anders – und doch so schön! Er dachte an Maria. Sie senkte die Augenwimpern und hob sie wieder: der Bruder durfte ihr das sagen. Nun beugte er sich vor und küßte ihre Stirn; sie aber lehnte den Kopf an seine Schulter und umfaßte ihn mit den Händen. Bruder, lieber Bruder, hauchte sie leise, habe mich nur recht lieb!

Er wollte sich nicht von der Rührung übermannen lassen. Wahrhaftig, rief er in munterm Ton, du hast auch nötig, darum zu bitten! Da ist's eher an mir, zu sagen: Habe Geduld, mit der Zeit sollst du wohl merken, daß ich's gut meine und ein leidlicher Geselle bin. Daß man uns auch solange voneinander ferngehalten hat! Aber ich will dankbar sein, daß ich dich nun ans Herz schließe und nicht mehr verliere. Nicht wahr, ich verliere dich nicht mehr?

Sie sah mit feuchten Augen zu ihm auf und schüttelte den Kopf. Wir werden uns nun unvergeßlich sein, antwortete sie, was auch ferner über uns bestimmt ist.

Das wollen wir besiegeln mit einem herzlichen Kuß! rief er. Bruder und Schwester, die dürfen nichts Fremdes haben und müssen schnell nehmen, was ihnen von Gottes wegen gebührt. Er legte die Hand auf ihr goldiges Haar, beugte ihren Kopf ein wenig zurück und drückte einen Kuß auf ihren Mund. Amen, sagte das Ehepaar.

Die Tür nach dem Hinterstübchen war nicht fest geschlossen worden, und nun ließ sich von dort ein schelmisches Kichern vernehmen. Können die Mädels nicht eine Minute ernst sein? knurrte der Alte.

Warum sollen sie denn nicht lachen? fragte Heinz. Ist's doch ein froher Tag, hoffentlich auch für sie. Eure Töchter, Herr Johannes Clocz, nicht wahr? Erlaubt, daß ich ihnen einen höflichen Gruß biete.

Er wollte nach der Tür eilen, aber Waltrudis hielt ihn an der Hand zurück. Es ist da noch ein anderer, der dich überraschen will, erklärte sie, und deshalb sind sie lachlustig.

Wer ist's?

Rate!

Wie soll ich raten?

Wen hättest du jetzt wohl am liebsten hier?

Heinz sah sie verwundert an. Kannst du zaubern? fragte er.

Ja, sie ist ein Feenkind, bestätigte der Ratmann schmunzelnd.

Sag's nur, bat Waltrudis zuversichtlich.

Heinz ließ einen Blick auf seine linke Hand hinabfallen, an deren kleinem Finger er den Ring mit dem blauen Vergißmeinnicht trug. Männlich oder weiblich? fragte er und wurde blutrot.

Sie war diesem Blick mit den Augen gefolgt. Ah, woran denkst du? fragte sie fast erschreckt. Nein, darüber habe ich keine Gewalt!

Und über das andere auch nicht, meinte er. Ich habe einen braven Gesellen auf der Reise liebgewonnen, und er ist nicht gar weit von uns, aber doch weit genug, daß ihn kein Feenkind herzuzaubern vermag. Unsere Wege trennten sich gestern nach rechts und links.

Sie faßte seine Hand und führte ihn nach der Tür. Laß einmal sehen, ob ich dir gleich recht schwesterlich eine Freude bereiten kann. Sie klopfte leise an. Komm heraus, lieber Gast!

Die Überraschung glückte vollkommen, und die beiden munteren Mädchen lachten dazu aus vollem Halse.

So waren die neuen Bekanntschaften allseitig freundlich eingeleitet. Zum Mittag kam auch Lippolt Clacz, ein vierschrötiger Kleinstädter, mit seiner Neuenburgerin, einer hübschen Blondine. Er wußte anfangs nicht recht, wie er sich zum Junker von der Buche stellen sollte, da die Schulfreundschaft doch schon weit hinter ihnen lag und ihre Lebensstellungen nun sehr verschiedenartig waren; aber Hans verstand in seiner freundlichen Weise darüber hinwegzuhelfen, indem er bei den alten Kulmer Erinnerungen anklopfte. Frau Clocz hatte aufgetragen, was Küche und Keller irgend bieten wollten. So gab's eine vergnügte Tafel.

Nachmittags sprach der Pfarrherr wie von ungefähr ein wenig an. Seiner Hochwürden läßt's schon keine Ruhe mehr, meinte der Ratmann, als er ihn über den Markt auf sein Haus zukommen sah. Er muß wissen, was wir für Gäste bei uns haben.

Spioniert er gern? fragte Hans.

Der Alte strich sein Kinn. Nun – nennt's, wie Ihr wollt. Er ist einmal des Herrn Bischofs von Kujawien Hauskaplan gewesen und verkehrt noch immer gern an dessen Hof zu Subkau. Wir haben ihn in Verdacht, daß er ihm allerhand zuträgt, was im Schlosse und hier in der Stadt sich ereignet. Es ist ein Glück, daß man auch im Beichtstuhl nicht mehr sagen kann, als man weiß. Seit das Fräulein bei uns ist, umschleicht er unser Haus wie ein Fuchs. Es soll durchaus damit eine ganz besondere Bewandtnis haben, und so zerbricht er sich den Kopf um Dinge, die ihn sowenig angehen als mich. Laßt ihn nicht wissen, Junker, daß Ihr in Prag gewesen seid. Ihr habt da bei Tisch Reden geführt – hm, mir habt Ihr recht aus dem Herzen gesprochen, aber den Römischen –

Er mußte abbrechen, denn der geistliche Herr räusperte sich schon draußen. Sollte mir leid sein, wenn ich störe, sagte er, beim Eintreten die Gesellschaft musternd. Wollte nur eine kleine Rücksprache halten wegen des Daches der Pfarrkirche, das über dem Chor schadhaft geworden ist. Aber ein andermal, ein andermal, wenn's Euch heute nicht ansteht.

Er ging aber doch nicht, sondern nahm ein Gläschen süßen Ungarnwein an und mühte sich um eine vertrauliche Unterhaltung. Dabei war's leicht zu durchschauen, daß er besondere Aufmerksamkeit auf den Bruder seines frommen Beichtkindes richtete, wie er Waltrudis mit Vorliebe nannte. Er wußte ihn geschickt darüber auszufragen, von wo er gekommen sei und wer ihn geschickt habe und was er hier für Geschäfte betreibe, und wie überhaupt sein Lebenslauf bisher gewesen wäre, daß Heinz bald um Antworten verlegen wurde, zumal der Ratmann ihm heimlich zublinkte, vorsichtig zu sein. Als der Pfarrherr sich nach einer guten Stunde entfernte, wurde allen wohl zumut.

Dann wurde, als die Sonne nicht mehr so scharf brannte, ein Spaziergang nach den Stadtgärten beschlossen. Man ging zum Kulmer Tor hinaus, das dem Schloßtor gerade gegenüberlag, links von dem breiten Turm, der dieser Seite der Stadtmauer eine erhöhte Festigkeit gab und auch mit einer Ausfallpforte für Zeiten der Not versehen war. Die anderen Türme hatten nicht dieselbe Höhe und Breite, traten aber doch drohend genug nach dem Graben vor; die kleine Stadt zeigte sich überhaupt auf dieser am meisten gefährdeten Seite von recht kriegerischem Aussehen. Feldwege führten zu den Gärten und Stadtäckern, auf denen fleißig gearbeitet wurde. Auf einer Stelle, wo sich der Boden gegen den Weichselstrom hin ein wenig erhob, standen im Kreise mehrere Eichen, die hier schon vor länger als hundert Jahren von freundlicher Hand gepflanzt sein mußten. Die kleine Gesellschaft lagerte sich dort im Schatten; die Mädchen sangen Lieder, die vom Rhein und Main her zugleich mit den deutschen Einzöglingen ins Land Preußen gekommen und älter sein mochten als die Eichen über ihnen, und die jungen Leute versuchten, sie im Baß zu begleiten. Dann strichen sie quer über Feld bis zum Schwarzwasser und folgten dessen geschwindem Lauf bis zum Brückenturm, kehrten aber erst nach der Stadt zurück, nachdem sie weiter hinaus den Hügel gegenüber dem Schlosse bestiegen hatten, auf dem einmal vor dem großen Brande die alte Stadt Schwetz gelegen hatte, jetzt nur noch vertreten durch eine Marienkirche, einen Gefängnisstock und eine Scheunengasse. Man hatte von hier einen Blick über die nicht hohe Verbindungsmauer zwischen Schloß und Stadt auf das Zeltlager der Söldner, das wohl für eine Weile die Schaulust beschäftigen konnte.

Hans von der Buche war Waltrudis nicht von der Seite gegangen. Sonst meist still und in sich gekehrt, zeigte er sich jetzt gesprächig und unterhaltend. Er konnte gar nicht müde werden, dem schönen Mädchen in die wundersamen Augen zu schauen, und diese Augen richteten sich gern auf ihn, wenn er sprach. Daß sie ihn mit dem Bruder hatte verwechseln können, schien ihm in ihrer Schätzung einen bleibenden Vorzug zu geben. Heinz, der bald merkte, wo die Glocken hingen, handelte freundschaftlich, ging ab und zu und plauderte mit den beiden Ratstöchtern oder sagte der Neuenburgerin eine Artigkeit oder neckte Lippolt wegen seines Ansatzes zu einem Bäuchlein, das sich in der guten Pflege der Eheliebsten wohl zu behagen scheine. Wenn er dann zur Schwester zurückkehrte, sagte er gleichsam entschuldigend: Wir haben einander länger oder dergleichen, was nicht auf Hans Bezug hatte, und drückte ihr die Hand. Der aber erfuhr in der einen Stunde alles, was sie von ihrem jungen Leben zu sagen wußte, daß sie nach dem frühen Tode der Eltern im Kloster auferzogen sei, daß eine der Schwestern, eine nahe Verwandte der Plauen, eine sehr gelehrte Frau gewesen, und daß sie von ihr nicht nur das Lesen und Schreiben, sondern auch das Ausmalen der großen Anfangsbuchstaben mit bunten Farben und sogar ein wenig Latein gelernt habe. Lange sei sie der Meinung gewesen, daß sie zur Nonne bestimmt worden, aber sie danke es nun doch dem Komtur von Herzen, daß er sie in die Welt hinausgebracht und in seine Nähe genommen habe. Müsse sie einmal ins Kloster zurückkehren, so wisse sie doch nun, was der Verzicht bedeute. Der Junker wollte überhaupt von den Klöstern nicht viel halten und meinte, es sei sündhaft, sich dort lebendig zu begraben, wenn man nicht wirklich der Welt abgestorben sei. Gott wolle verhüten, daß sie sich je nach den stillen Klostermauern sehne.

Abends kam der Komtur. Waltrudis eilte ihm entgegen, küßte ihm die Hand und dankte ihm für den Bruder, den er ihr geschenkt und mit dem sie sich rasch befreundet habe.

Er streichelte ihr blondes Haar, faßte Heinz bei der Hand und sagte: Habt einander lieb, ihr beiden – der Himmel hat es so gewollt. Daß ich euch jetzt zusammenführte, hat guten Grund. Niemand weiß, was ihm bevorsteht, aber ein Kriegsmann, der sich zum Kampfe rüstet, soll immer auf die letzte Stunde gefaßt sein. Dir, Heinz, empfehle ich die Schwester zu treuer Sorge, wenn Gott mich abberuft – tritt dann mannhaft an meine Stelle, sei ihr ein Schutz und Schirm in allen Nöten.

Er gelobte es mit einem heiligen Eide.

Nun trat Hans von der Buche vor und sprach: Gestattet auch mir, hochehrwürdigster Herr Komtur, daß ich mich in diesen Bund schwöre. Heinz von Waldstein ist mein Freund, und seine Schwester soll seines Freundes Schwester sein. Zu ihrem Dienst stehe ich mit Gut und Blut.

Da krauste der Komtur die Stirn und maß ihn mit einem stolzen Blick von Kopf zu Füßen. Wer ist's, der uns dieses Gebot macht? fragte er; es ist mir befremdlich von einem, den ich bisher nicht sah.

Heinz trat sogleich ein und stellte den Reisegenossen vor. Es erklärte sich nun auch, daß er erst heute in der Frühe angelangt war und Waltrudis vorher nicht gesehen hatte. Das schien den Komtur zu beruhigen, aber er antwortete doch auf des Junkers Bitte nicht freundlich, sondern sagte: Freundschaft will erprobt sein. Man begegnet wohl einander im Leben und geht eine Strecke nebeneinander fort und meint, das Band müsse festbleiben in Ewigkeit. Aber der Menschen Sinn ist veränderlich, und was ihnen heute wert dünkt, das Leben daran zu wagen, das werfen sie oft morgen schon zu den leichten Dingen, die der Wind von ihrem Wege weht. Ich traue wenig Worten, auch wenn sie im Augenblick ernst gemeint sind; Taten bewähren den Mann, und den lobe ich am meisten, der nichts verspricht und doch in der Not zur Stelle ist. Deshalb binde ich niemand.

Hans sah finster zur Erde und biß die Lippe; Heinz aber ergriff seine Hand und rief: Warum sollen wir's nicht auf die Probe ankommen lassen? Guten Willen haben wir gewißlich, und auch uns ist's mehr um Taten als um Worte. Hoffentlich bin ich mir allzeit Manns genug, die Schwester zu vertreten: wenn ich aber des guten Gesellen bedarf, sollst du der erste sein, den ich anrufe.

Der Komtur tat keinen Einspruch; es schien ihm zu gefallen, daß Heinz so unerschrocken für den Freund das Wort nahm, und sein Gesicht wurde wieder freundlicher. Beide konnten sich's als eine Gunst anrechnen, daß der Komtur, als er sich nach einer halben Stunde verabschiedete, nicht leiden wollte, daß Hans von der Buche in der Stadt Nachtquartier nehme, sondern ihn aufs Schloß einlud. Der Ratmann aber gab seiner Frau einen heimlichen Wink, den sie wohl verstand. Hans durfte nicht ablehnen, so gern er auch bei Lippolt geblieben wäre, von wo er doch bis zu des Ratmanns Hause nur wenige Schritte gehabt hätte. Es verstand sich nun auch von selbst, daß die beiden Junker den Komtur sogleich nach dem Schlosse begleiteten.

Dort wurde es früh Nacht; bald nach Sonnenuntergang begaben die Ritter sich in das Schlafhaus. Es bestand aus einer Reihe von Kammern, die sämtlich ihren Zugang von einem langen Korridor hatten. In demselben brannte die ganze Nacht hindurch Licht, und alle Türen zu den Schlafzellen blieben offen. Die Ritter begnügten sich mit einem Strohsack und einer wollenen Decke, behielten auch die Unterkleider an. So wollte es die strenge Ordensregel, auf deren Beobachtung der Komtur hielt. Den Freunden wurde in demselben Raum ein Gemach angewiesen. Hans konnte lange nicht einschlafen; immer stand ihm das schöne Fräulein mit dem Goldhaar vor Augen. Dann weckten ihn die Ritter, die zum Nachtamt nach der Schloßkapelle hinübergingen, und als sie von anderen Brüdern zum Morgenamt abgelöst wurden, hielt es auch ihn nicht länger auf seiner Bettstelle. Er ging in den Hof hinab, schöpfte von dem kühlen Wasser aus dem Brunnen und goß es mit den Händen über das Gesicht, bis er sich ganz erfrischt fühlte. Dann trat er in die nur von einer Altarkerze erleuchtete Kapelle ein und setzte sich in einen der hohen Kirchenstühle. Dort schlief er ein und erwachte erst, als um sechs Uhr die Ritter- und Priesterbrüder sich zur Prime versammelten.

Beim Frühstück im Konventsremter trafen die Freunde wieder zusammen. Der Komtur forderte sie auf, sich bei den ritterlichen Übungen auf dem Parchan zu beteiligen, machte auch selbst eine Weile den Zuschauer und lobte Heinz wegen seiner Kraft und Gewandtheit. Darauf besichtigten die Junker das Schloß und stiegen in dem großen Turm die enge Mauertreppe hinauf, sich einmal aus der Höhe umzuschauen. Siebenmal wölbte sich darin die Decke, bis man zur offenen Plattform gelangte, wo von hoher Stange die Burgfahne – zwölf abwechselnd weiße und rote Felder – im Morgenwinde wehte. Das oberste Gemach bewohnte der Wächter; dort befand sich auch in der Wand ein Kamin zu seiner Bequemlichkeit. In Kriegsnöten konnte darin Pech und Blei geschmolzen oder Wasser und Öl gesiedet werden. Die Plattform zeigte sich rundum von Zinnen umgeben, die halb über die Mauer vorragten, so daß man durch deren Öffnung den Fuß des Turmes beobachten und den Feind durch herabgeworfene Steine, Balken und dergleichen aufhalten konnte. Material dieser Art lag denn auch in einigen Haufen aufgeschichtet zum nächsten Gebrauch.

Eine weite Rundsicht bot sich von hier aus den Weichselstrom auf und ab und über die Niederungen zu beiden Seiten. Hans aber hielt lange den Blick festgebannt auf die Stadt und suchte in ihrem Mauerviereck den Markt und den hohen Giebel des Hauses, in dem er gestern so frohe Stunden verlebte. Erst als Heinz fragte, in welcher Richtung nun seine Heimat liege, trat er mit ihm an eine andere Zinnenöffnung und zeigte mit der Hand über den breiten Strom hinweg nach Osten. Hinter jenen Hügeln, sagte er. Wie fern werde ich euch da sein.

Heinz wollte nicht verstehen, was er damit meinte, und schwieg. Hans aber legte den Arm um seine Schulter und machte seinem vollen Herzen Luft. Wir sind hier gleichsam zwischen Himmel und Erde, fuhr er fort, was wir miteinander sprechen, hören nur die Schwalben, die den Turm umkreisen, und sie verraten nichts. Du warst mir auch vordem teuer, Heinz – aber seit gestern –, ich weiß nicht, wie mir plötzlich geschehen ist, als ich deine Schwester sah. Es war mir, als ob eine verschlossene Pforte in meiner Brust aufsprang und eine wundersame Musik ertönte, wie ich sie nie gehört. Es ist gar nicht zu beschreiben. Seitdem darf ich nur die Augen schließen, und ihre holde Gestalt steht leibhaftig vor mir da, wie in einem Lichtschein, und gleich tönt die Musik wieder. Das ist nicht Einbildung: ich sehe, was ich sehe, und höre, was ich höre, und doch ist's nur für mich etwas Wirkliches. Oder ist dir's ebenso, seit deine Gedanken mit Waltrudis verkehren?

Heinz lächelte und drückte ihm die heiße Hand. Eine Schwester ist ein lieb Ding, antwortete er, aber in solcher Art tut sie's dem Bruderherzen nicht an. Doch hab' ich wohl sonst kürzlich etwas Ähnliches empfunden, nur daß ich nicht gerade die Augen zuzumachen brauchte, um das frische Gesichtchen und die braunen Zöpfe dicht vor mir zu haben, und daß die Musik mir ins Ohr klang wie die der Trompeter und Pfeifer im Danziger Artushof, als sie zum Tanz aufspielten. Was kann man dagegen tun? Er zuckte die Achseln.

Du nimmst es in deiner Weise leicht, sagte Hans; ich aber fühle, daß ein Augenblick entscheidend war für mein ganzes Leben und – ich habe nichts zu hoffen. Wie könnte sie, die schöne, herrliche –

Laß wachsen, Freund, fiel Heinz ein, laß wachsen, was wachsen will und wachsen kann. Ob die Sonne scheint oder der Himmel voll Wolken hängt, das folgt nicht unserem Gebot; manchmal fügt sich's aber doch nach unseren Wünschen. Darum sei froh, daß du deines Herzens sicher bist, und lasse im übrigen den Dingen ihren Lauf. Das ist die beste Philosophie, denke ich.

Damit brach er das Gespräch ab, und Hans hatte nicht den Mut, es wieder aufzunehmen. Sie stiegen nach dem Burghof hinab. Dort traf sie einer von den Brüdern an und sagte ihnen, daß der Komtur den Junker von der Buche nach der Mittagstafel zu sprechen wünsche. Sie durften also nicht daran denken, nach der Stadt zu gehen, wie es beiden das liebste gewesen wäre; Hans war überzeugt, daß der Komtur es absichtlich hatte hindern wollen.

Es war ihm auch nicht ganz wohl zumut, als er dem ernsten Manne allein gegenüberstand und ein umständliches Verhör über alle seine Lebensverhältnisse, Reisen und Studien aushalten mußte. Der Komtur schien sich seines Pfleglings Heinz wegen versichern zu wollen, ob ihm Vertrauen zu schenken sei. Zuletzt fragte er ihn: Ist Euch etwas von der Eidechsengesellschaft bekannt, Junker?

Ich weiß wohl, antwortete Hans, daß einige Ritter des Kulmer Landes vor Jahren einen Bund geschlossen haben –

Einen heimlichen Bund, bemerkte der Komtur mit scharfer Betonung.

Es mag sein, daß der Bund seine Heimlichkeit hat, wie auch die andern Bündnisse solcher Art im Reiche. Aber ich habe doch gehört, daß er von des jetzigen Herrn Hochmeisters Vorfahr anerkannt und genehmigt ist, und daß ihm auch freundlich zugelassen worden, eine Vikarie zu stiften, erst zu Rheden, dann zu Thorn. Was also mit Vorwissen der Herrschaft geschehen, kann doch nicht Grund haben, sich zu verstecken!

Kennt Ihr die Artikel des Bundes?

Nein, hochwürdigster Herr Komtur.

Euer Vater gehört aber zu den Eidechsen – ich weiß es.

Er hat dessen kein Hehl und trägt das Abzeichen ganz offen auf seinem Siegelringe. Mir hat er sich aber bisher nicht vertraut, vielleicht weil er mich zu jung für solches Wissen gehalten, vielleicht weil Land und Leute dazu gehören, der Genossenschaft teilhaft zu werden, oder weil ich den Ritterschlag noch nicht empfangen.

Es sind auch Knechte in dem Bunde, entgegnete der Komtur. Nach einigem Schweigen fuhr er fort: Ich warne Euch wohlgemeint, Junker, dem Bündnis beizutreten, wenn man Euch dazu fordert. Es ist nicht so unschuldiger Art, als es scheinen mag, und wir haben es ernstlich zu beklagen, daß Herr Konrad von Jungingen sich überreden ließ, ihm zuzustimmen. Weshalb der Bund? In ihrem Briefe, wie sie ihn in der Marienburg vorgezeigt haben, steht geschrieben, daß sie einander gegenseitig helfen wollen in allen nothaftigen Sachen mit Leib und Gut gegen jedermann, und weislich haben sie hinzugefügt: außer gegen die Herrschaft! Aber wer hat ihnen eine Unbill zugefügt oder angedroht, daß sie sich zur Abwehr zusammenrotten müßten, und seit wann gewähren in Preußen die Gerichte den Eingesessenen nicht mehr Schutz gegen Klagen und Beschwerden, daß sie aufs Schwert schlagen und Gewalt verkünden dürfen? Seit wann ist der Arm der Gerechtigkeit in Preußen so kurz, daß er die Übeltäter und Friedensbrecher nicht erreichte? Seit wann gilt das Fehderecht in diesem Lande für des Ordens Untertanen? Laßt Euch auch nicht verblenden, Junker, durch den listigen Vorbehalt. Denn gegen niemand, als gegen die Herrschaft, kann der Bund im geheimen gerichtet sein. Wir wissen lange, daß sie danach streben, uns an ihren Rat zu binden, und daß sie unwillig leisten, was sie doch nach ihren Briefen schuldig sind, und man sagt ihnen noch schlimmeres Gelüste nach, wovon ich nicht sprechen will. Wäre ich Hochmeister, ich litte solche Verschwörung nicht, sollte sie auch nur in Zukunft gefährlich werden können. Denn alle stehen wir unter dem Gesetz, und wer Gewalt droht, der mißachtet schon das Gesetz und rüstet sich, es zu verletzen. Darum warne ich Euch, Junker, ehe ich Euch entlasse. Es kann sein, daß man Euch über kurz oder lang das Bündnis anbietet, denn viele Eurer Nachbarn gehören zu den Eidechsen, und Euer Vater wird gutsagen für Euch. Seht Euch vor, daß Ihr nicht Euer Gewissen belastet und hinterher zwischen Eid und Pflicht stehet – es könnte Euch gereuen! Hans von der Buche dankte ihm für den wohlmeinenden Rat und versprach, sich's reiflich zu überlegen, ehe er sich einmal entscheide. Für seinen Vater aber glaube er versichern zu können, daß er nichts Arges im Sinne habe und dem Orden treu ergeben sei in allen rechten Dingen. So wolle auch er es alle Zeit halten. Schenkt mir Euer Vertrauen, hochwürdigster Herr Komtur, schloß er, und ich will es wohl zu verdienen suchen.

Plauen reichte ihm die Hand und verabschiedete ihn dann mit solchen Worten, daß der Junker daraus entnehmen mußte, er rechnete nicht darauf, ihm nochmals zu begegnen. Heinz erfuhr nur, wovon im allgemeinen die Rede gewesen sei, und machte sich darüber wenig Sorge. Er zeigte sich gern bereit, den Freund nach der Stadt zu begleiten. Nun wissen wir doch, meinte er unterwegs, weshalb mein Oheim gestern so zurückhaltend war, als er deinen Namen erfahren hatte. Nun, es liegt ja in deiner Hand, ihn dir geneigt zu machen.

Hans aber war sehr nachdenklich geworden; es beschwerte ihn, daß der Komtur seinen Vater im Verdacht der Untreue hatte, und daß er ihn vor einer Genossenschaft warnte, zu der er durch so enge Bande der Verwandtschaft gewiesen war. Wie leicht konnte er da mit seinem Herzen in Streit kommen.

Das vermochte er auch nicht ganz zu vergessen, als er in das Haus am Markt eintrat und Waltrudis wiedersah. Sie kam ihm freundlich entgegen; er aber wagte jetzt kaum zu ihr aufzublicken und senkte sofort wieder die Augen, als blende ihn die Sonne. Heinz führte die Unterhaltung; er selbst war still und wortkarg, so daß Frau Clocz ihn besorgt fragte, ob er sich unwohl fühle. Laßt ihn nur, sagte Heinz lachend, er hat's heut allzusehr innerlich und kann so bald nicht wieder aus sich heraus.

Zur Vesper hatte sich's Lippolt ausgebeten, die Gäste zu bewirten. Die Neuenburgerin trug allerhand feines Backwerk auf, das sie selbst bereitet hatte, und erntete dafür viel Lob. Die Stunden vergingen rasch, und der Becher wurde oft mit frischem Met gefüllt. Als die Männer lustiger wurden, wollten die Frauen sich zurückziehen. Hans aber mahnte nun auch den Freund zum Aufbruch. Es muß doch einmal geschieden sein, sagte er schwermütig. Lippolt wollte wissen, wann er nach Graudenz zurückzukehren gedenke, damit er den Wagen bereithalten könne. Er erhielt darauf eine ausweichende Antwort.

Die Junker geleiteten darauf den Ratmann und dessen Familie nach dem Markthause zurück und sagten ihnen dort Lebewohl. Hans war neben Waltrudis gegangen, hatte aber kein Wort gesprochen. Nun bückte er sich schnell, als sie ihm die Hand reichte, und hauchte einen Kuß darauf. Dann eilte er fort, so daß Heinz Mühe hatte, ihm zu folgen.

Vor dem Schloßtor bog er links und ging auf das Brückentor zu, entlang der Straße an der Mauer. Wohin? rief Heinz ihm nach. Nun blieb er stehen und erwartete ihn. Ich kann jetzt nicht mit dir, sagte er, in unserer Schlafzelle würde ich nicht atmen können vor Beklommenheit. Gestern sah ich beim Vorübergehen ein kleines Fischerboot im Schilf nicht weit vom Brückenturm: die Ruder lagen dabei. Ich will auf den Strom hinaus – dort wird mir freier zumute werden.

So begleite ich dich, antwortete Heinz, seinen Arm ergreifend, der Abend wird wunderschön, und eine Wasserfahrt ist ein prächtiger Vorschlag. Hoffentlich läßt man uns auch noch ein paar Stunden später ins Schloß ein, und wenn nicht – pah! Die Luft ist schon warm genug, daß wir eine Nacht unter freiem Himmel nicht scheuen dürfen.

Wie du willst, sagte Hans darauf nach kurzem Besinnen.

Sie fanden das kleine Boot, das nur für zwei Männer Raum hatte und wahrscheinlich zum Übersetzen diente. Heinz ergriff die beiden Ruder und nötigte den Freund auf den hinteren Sitz. Mit einem kräftigen Stoß trieb er das Fahrzeug in die Strömung des Schwarzwassers hinein. Nach wenigen Minuten hatten sie das Schloß hinter sich und strebten der Mitte des Weichselflusses zu.

Dort zog Heinz die Ruder ein und stützte den Kopf in die Hände. Ganz ohne sein Bemühen wurde das Boot rasch stromaufwärts fortgezogen. Erst da, wo kurz vor Sartowitz das Bett sich erweitert, um eine große Zahl von Rohr- und Weidenkampen aufzunehmen, mußte er von Zeit zu Zeit mit dem Ruder nachhelfen, ein Auflaufen zu hindern. Schwärme von wilden Enten erhoben sich aus ihren dichten Verstecken. Hier lohnt im Herbst die Jagd, meinte Heinz. Er hielt das Boot in der Nähe des linken Ufers, wo der Strom am stärksten war. Lege einen Augenblick dort an, bat Hans, indem er nach einem Sandhaken wies, es wird Zeit, an die Rückkehr zu denken, und stromauf ist's für dich beschwerlicher.

Warum anlegen?

Ich will dich nicht lange aufhalten.

Aber was hast du im Sinn? Er gab dem Boot eine rasche Wendung auf den Haken hin, so daß es dessen Spitze streifte.

Hans sprang hinaus. Und nun lebe wohl! sagte er. Ich setze meinen Weg zu Fuß weiter fort.

Heinz stand auf und stützte sich aufs Ruder. So war's gemeint? Das nenne ich einen listigen Anschlag!

Der Freund bot ihm die Hand. Glaube mir, es ist am besten so. Meines Bleibens war dort nicht länger. Ich mochte nicht feierlichen Abschied nehmen; aber grüße mir Waltrudis und sage ihr – nein, sage ihr nichts. Ich hoffe, sie wiederzusehen, und dann wird sich's erklären. Dich erwarte ich in Buchwalde.

Er nickte ihm freundlich zu, wandte sich rasch und ging dem Weichseldamme zu. Heinz stand noch eine Weile, auf das Ruder gestützt, und schaute ihm nach, bis er hinter den Uferweiden verschwand. Man entflieht doch seinem Herzen nicht, murmelte er vor sich hin. Dann stieß er das Boot ab und trieb es mit kräftigen Ruderschlägen gegen den Strom.


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