Ernst Wichert
Heinrich von Plauen
Ernst Wichert

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6. IM ARTUSHOF UND IM SCHÖPPENSTUHL

Als gegen Abend nach dem Vesper vom Dache des Artushofes her, wie an allen anderen Tagen, das Zeichen mit der »Bierglocke« gegeben wurde und die Türen des stattlichen Baues am Langen Markt sich öffneten, zeigte sich der Zudrang ungewöhnlich groß. Allerhand Gerüchte hatten sich durch die Stadt verbreitet, und wer berechtigt war, im Artushof zu erscheinen, glaubte diesmal nicht fehlen zu dürfen, da sich vielleicht beim Kruge Bier etwas Näheres erfahren ließ.

Berechtigt, in die große, hochgewölbte Halle einzutreten, war aber nicht jeder Bürger der Stadt. Ausgeschlossen waren schon damals, obgleich erst einige Jahre später des Hofes Ordnung urkundlich festgestellt wurde, die Handwerker, Kleinkrämer, die »zu Pfennigswert« verkauften, die kleinen Schenkwirte, auch alle, die binnen Jahresfrist im Dienste anderer um Lohn gearbeitet hatten. Daß Leute von unsittlichem Lebenswandel nicht eingelassen wurden, konnte sich von selbst verstehen. Mitglieder des Hofes waren danach nur die Großhändler, Gewandschneider, Krämer, Seeschiffer und die Brauer, die sich nicht zu den Handwerkern rechneten, wennschon sie zünftige Genossenschaften bildeten und vom Rate ferngehalten wurden. Zutritt zum Hofe hatten auch die in Danzig zu Handelsgeschäften weilenden Holländer, und sie besaßen sogar eine eigene Bank, während man die Engländer nicht leiden mochte, weil sie den Einheimischen den Markt verdarben, weshalb denn auch wiederholt Verbote ergingen, daß niemand ihnen Keller und Läden zur Lagerung ihrer Waren vermieten sollte. Auch die Seeschiffer hatten ihre besondere Bank und hielten auch sonst zusammen, wie sie denn schon vor Jahren in der Dominikanerkirche ihre Vikarie gestiftet hatten. Ebenso setzten sich die Mitglieder anderer Genossenschaften zueinander. An diesem Abend waren bald sämtliche Bänke dicht besetzt, und der Kellermeister mit seinen Knechten hatte alle Hände voll zu tun, die Bierkrüge aus den großen Kannen zu füllen. Von den vier gewählten Alderleuten waren heut drei anwesend und hielten auf gute Ordnung. Der Torwächter aber, der die Gäste einließ, sorgte zugleich dafür, daß der Gang in der Mitte frei blieb, damit die Herren vom Rat ungefährdet Durchgang nach dem »kleinen Hof« hätten.

Es gab nämlich neben dem großen noch einen kleinen Hof, ein anstoßendes Gemach, dessen Fenster nach der Krämergasse hinausgingen. Das hatte sich die St.-Georgen-Brüderschaft zu ihren Zusammenkünften vorbehalten. Zu dieser Brüderschaft aber gehörten die Junker und die Schöppen. Anfangs mochten sie wohl gar nur die ritterbürtigen Geschlechter umfaßt haben, die sich in der Stadt niedergelassen hatten und Handelschaft betrieben. Dann aber hatte sie auch nach und nach die Familien aufgenommen, aus deren Mitte Ratmannen und Schöppen hervorgegangen waren, und so vereinte nun der kleine Hof auf seinen beiden Bänken, der Junkerbank und der Schöppenbank, alles, was zum Rat gehörte. Auch hier standen vier Alderleute an der Spitze, deren einer zugleich den zugehörigen Junkergarten beaufsichtigte. Ein Junkerknecht und ein Schöppenknecht bedienten die beiden Bänke und hielten sich deshalb für ausgezeichnet vor ihren Genossen im großen Hof. Jedenfalls flossen ihnen die Trinkgelder am reichlichsten.

Hierher in den kleinen Hof nun führte Tidemann Huxer seine Gäste, die beiden Junker Heinz von Waldstein und Hans von der Buche. Bartholomäus Groß begleitete sie mit freundlichem Urlaub seiner Hausfrau. Der Ordnung gemäß wurden sie den anwesenden Alderleuten vorgestellt und von denselben mit ihrem Namen in ein Buch eingeschrieben. Denn nicht jeder Fremde durfte von den Georgsbrüdern hier zu Gast geladen werden; man hielt darauf, daß der Gast »bei Schildesamt geboren oder dazu erwählet« war. Das hatte nun bei den beiden Junkern kein Bedenken, und so wurden ihnen denn sogleich ihre Plätze, dem einen auf der St.-Georgen-, dem andern auf der Schöppenbank angewiesen. Huxer und Groß machten sie mit ihren Nachbarn bekannt, soweit dies noch nötig war, und die Knechte füllten ihnen den Krug voll schäumenden Bieres mit der Mahnung, sich's gut schmecken zu lassen und im Trinken nicht säumig zu sein.

Arnold Hecht saß schon unter den Georgsbrüdern und hatte seinen Krug mehrmals geleert. Sein rundes Bäuchlein vertrug eine gute Ladung, und heute meinte er nach des Tages Last und Hitze vollauf berechtigt zu sein, sich zu stärken. Es gab in dieser Frühjahrszeit überall in den Kontoren viel zu tun, und er war als ein rühriger Kaufmann bekannt, der über seinem Ehrenamt nicht sein Geschäft vernachlässigte. So hatte er nun in der Eile noch einige Weichselkähne mit Holz und Heringen beladen in der Hoffnung, sie noch schnell genug nach Polen einzubringen, bevor der Krieg losbräche. Es war ihm nicht lieb gewesen, als er gegen Mittag abberufen wurde, auf dem Rathause zu verhandeln, und die Verhandlung selbst hatte ihn so aufgeregt, daß ihm dann das kalt gewordene Essen nicht schmecken konnte und der gewohnte Nachmittagsschlaf versagte. So war er denn jetzt in der Stimmung, sich's für all diese Unbill des Tages recht wohl sein zu lassen. Das runde Gesicht glühte ihm, und die Zunge war redselig. Natürlich wußten bald beide Bänke, was der Hauskomtur auf dem Rathause gewollte hatte, und es begann nun ein Meinungsaustausch darüber, der so laut wurde, daß auch die Artusbrüder im großen Hof bald wußten, um was es sich handelte, zumal der Kellermeister ab und zu ging und wichtige Nachrichten vermittelte. Man hatte nun einmal die gewünschte Gelegenheit, sich frei von der Leber weg gegen die Schloßherren auszusprechen, und brauchte hier in der Wahl der Worte nicht vorsichtig zu sein.

All der alte Groll darüber, daß der Orden durch seine Schäffer selbst Kaufmannschaft treibe und auf die Verbindung der großen Städte mit der Hansa scheel sehe, da er sie in früherer Zeit doch zu seinem eigenen Vorteil begünstigte, kam wieder zutage, und jeder hatte ein Klagelied zu singen, in das dann der Chor vollstimmig einsetzte.

Der Orden ist undankbar, rief Hecht, das ist eine alte Erfahrung. Kommt es ihm darauf an, die mächtige Hansa auf seine Seite zu ziehen, um in fremden Ländern Vorteile zu gewinnen und günstige Verträge abzuschließen, so weiß man uns allemal zu finden. Dann sind wir des Herrn Hochmeisters liebe Getreue! Und wir lassen uns auch die Ehre etwas kosten. Wann ist Konrad Letzkau nach Lübeck gegangen oder nach Kauen, ohne vom Herrn Hochmeister Briefe mitzunehmen und Aufträge als dessen Bevollmächtigter? Wem dankt der Orden den freundlichen Abschluß des Streites mit der Königin Margarethe wegen Gotland, als ihm? Und wenn wir mit Herzog Witowd jahrelang ganz leidlich gestanden haben und die Grenzburgen von den Szamaiten und Litauern wenig belästigt sind, ist nicht daß auch hauptsächlich auf sein Konto zu schreiben? Und ich selbst, ihr Herren – bin ich nicht dem gnädigen Herrn aufgesprungen jeder Zeit? Wie es bösen Streit gab mit den Westländern, mit Burgund, Holland und England, habe ich da nicht weite Reisen gemacht und für den Orden das Wort geführt wie für die preußischen Städte? Noch vor drei Jahren, als England uns alle seine Häfen schloß und der Herr Hochmeister mich mit dem Protonotar Crolow beorderte, mit den englischen Sendboten über einen Ausgleich zu verhandeln, habe ich da gezögert? Und ist's nicht hinterher belobt worden, daß ich alles gut ausgerichtet und vorbereitet habe, als später wirklich ein günstiger Handelsvertrag zustande kam? Das aber ist bald vergessen. Und wenn sich nun ein Fall ereignet, bei dem nicht alles so klipp und klar ist, daß man mit dem Finger auf die alten Schriftrollen weisen und sein Recht dartun kann, so wird gezwackt und gepreßt, uns den Vorteil zu entwinden. Immer sollen wir's fühlen, daß wir einen mächtigen Herrn über uns haben, von dessen Gnade wir leben. Beim heiligen Georg, das ist auf die Länge nicht zu leiden!

Die Rede war ganz nach dem Geschmack der Zechgenossen und wurde mit lautem Beifall belohnt. Im Eifer hatte man nicht bemerkt, daß Konrad Letzkau eingetreten und nahe der Tür stehengeblieben war, seinem Kumpan zuzuhören. Da er sich nun den Tischen näherte, rückte man die Stühle zusammen, und viele standen auf, ihn ehrerbietig zu begrüßen. Er aber sah mit ernstem Blick über die Menge hin und sagte: Ein freimütiges Wort beim Kruge Bier höre ich gewiß gern. Was aber hier gegen unsere Herrschaft gesprochen wird, sollte von den Alderleuten des Hofes füglich nicht gebilligt werden. Lieber Kumpan, Ihr vergesset, daß Eure Rede nicht nur eines Mannes Rede ist, sondern daß Ihr der Stadt Oberhaupt seid und mit Eurer Stimme weit hinaus tönt, und daß man Euch am Ende auch hören wird, wo man noch immer die Macht hat, es die Stadt entgelten zu lassen, was man gegen ihre gewählten Vertreter einzuwenden hat. Ich bitt' euch freundlich, liebe Brüder, haltet Maß!

Hecht rückte unruhig auf seinem Platz hin und her. Sollen wir hier unsere Zunge hüten müssen, wo wir unter guten Freunden sitzen? warf er ein. Ich hoffe, es ist kein Verräter unter uns!

Ein Gemurmel der Zustimmung lief über die Bänke hin. Letzkau aber ließ sich dadurch nicht irremachen. Auf die Art ist's doch nicht abgetan, antwortete er, dem Knecht einen Krug abnehmend und ihn vor sich hinstellend. Ich wäre nicht hier, wenn ich meinte, es könnte in dieser Brüderschaft ein Verräter sein, das will sagen, ein Mensch, der absichtlich den Schloßherren hinterbringt, was hier Feindliches gegen den Orden gesprochen ist. Aber wer hält sich für verpflichtet, ein Geheimnis aus dem zu machen, was beim Kruge Bier von Mund zu Mund geht? Und wer hört da mit ganz sicherem Ohr, und wer schmückt nicht unversehens beim Weitererzählen aus? Später aber mag's schwer sein, zu beweisen, daß kein Schimpf beabsichtigt war, wenn einmal das Mißtrauen gesäet ist. Viele von uns werden morgen zu Rat sitzen, auf des Komturs Antrag zu beschließen; da ist es wohl nicht gut, wenn wir heute beim Bier gleichsam unsere Meinung in Fesseln legen. Denn andere Rücksicht hat der Mann, der in der Ratstube seine Stimme abgibt. Für oder Wider nach seinem geschworenen Eide, als der Mann, der im Hofe mit seinen Genossen die Angelegenheiten der Stadt bespricht, und doch stecken oft beide in demselben Kleide. Dann heißt's hinterher: Wie stimmst du im Rat? Hast du dich doch kürzlich ganz anders ausgelassen im Hofe! Das wollen wir klüglich vermeiden.

Das hörten viele von den Anwesenden nicht gern; da es aber wohlgemeint und verständig war, schien's nicht geraten, dagegen Einspruch zu erheben, und der Bürgermeister sah auch nicht danach aus, als ob er darauf wartete. So waren denn die Krüge viel in Bewegung vom Tisch zum Munde und vom Munde zum Tisch, denn man meinte sich am wenigsten zu vergeben, wenn man des Trinkens wegen schwiege. Barthel Groß aber, der's Hecht vom Gesicht abmerkte, daß er sich verletzt fühle durch die Mahnung seines Amtsbruders und alle Not hatte, an sich zu halten, glaubte vermitteln zu müssen, nahm deshalb das Wort und sagte: Lieber Schwieger, Arnd Hecht hat wohl ein wenig laut und hastig gesprochen, wie es so eines alten Seemanns Art ist, aber dafür wollt' ich selbst mich verbürgen, daß er nur frei herausgesagt hat, was uns allen die Brust bedrückte. Es hat daher diesmal sicher keine Gefahr. Ihr selbst, wissen wir ja, denkt über die Sache gerade wie er.

Letzkau reichte Hecht die Hand zu über den breiten Tisch hinüber. Nehmt's nicht für ungut, Vetter, bat er in herzlichem Tone. Wir beide kennen einander. Dann, da der dicke Herr besänftigt schmunzelte, wandte er sich an seinen Schwiegersohn. Ganz einverstanden sind wir doch schwerlich. Wir wollen's uns nicht zu hoch anrechnen, was wir für den Orden getan haben und jederzeit noch jetzt tun würden, Arnd Hecht, ich und viele andere. Denn wir haben's getan in der Zuversicht, daß den Städten des Ordens Macht anwachse, wenn er durch einen der Unseren verhandeln ließe, und was wir ihm gewonnen haben, das haben wir zugleich uns gewonnen. Der Sperling in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach! Für uns allein hätten wir meist auch nicht den Sperling gegriffen. Und nun, wenn's euch beliebt, von etwas anderem. Wie steht's mit den Vorbereitungen zu unserm Pfingstfest? Es wird doch diesmal nach der Tafelrunde geritten? Ich selbst setze zu Ehren unserer jungen Gäste einen silbernen Becher mit drei alten Goldmünzen am Rande zum Preis für den besten Stecher und bitte euch, Herr Tidemann Huxer, zu erlauben, daß euer Töchterchen ihn dem Sieger reichen dürfe.

Darüber gab sich nun allgemeine Freude kund, und die Krüge setzten noch kräftiger mit dem Boden auf den Tisch auf als nach Hechts aufreizender Rede. Zwei von den Schöppen stellten noch andere Geschenke von Wert in Aussicht; das Gespräch kam bald wieder in lebhaften Gang, ohne sich auf politische Seitenwege zu verirren. Die beiden Junker mußten so oft Bescheid tun, daß die Hofknechte nur immer hinter ihnen stehen und aus der Kanne in den Krug hätten füllen können, und das Bier schmeckte mit jedem Zuge besser. Übrigens gab's auch Brot und Heringe zum »Verbeißen«, sonst aber keine Speisen. Nach des Hofes Ordnung durfte bei den gewöhnlichen Zusammenkünften nicht getafelt werden.

Nach einer Weile trat der Torwächter hinter den Stuhl des Bürgermeisters und sagte ihm leise ins Ohr, daß die Frau des Gefangenwärters vom Langgassentor draußen stehe und ihn sprechen wolle. Letzkau hieß sie warten. Bald darauf stand er auf und entfernte sich aus dem Zimmer.

Auf der Treppe vor dem Artushof stand die Frau. Was begehrt Ihr von mir? fragte er gütig.

Verzeiht, hochwürdigster Herr Bürgermeister, antwortete sie, den Ärmel seines Rockes küssend, wenn ich zu so später Stunde störe. Mein Mann hat schlimme Gefangene in seinem Turm und wollte sie nicht verlassen, um es selbst auszurichten, wie es sonst wohl seine Sache gewesen wäre.

Bringt nur Euer Anliegen geradeaus an, liebe Frau, mahnte Letzkau. Ist's etwas, das den Bürgermeister angeht, so bin ich stets, auch selbst zur Nachtzeit, bereit.

Ich weiß nicht, ob es der Art ist, meinte sie. Unter den Gefangenen auf dem Langgassentor ist auch ein Marquard Stenebreeker –

Ah! Stenebreeker, der Hauptmann – ganz recht.

Und da er der gefährlichste ist, hat ihm mein Mann eine Zelle ganz für sich allein gegeben, dicht über der Torwölbung, damit es gleich bemerkt wird, wenn er versuchen sollte, auszubrechen, denn er ist sehr stark.

Und er ist doch ausgebrochen? fragte Letzkau, einen Schritt vortretend und ihren Arm fassend.

Heilige Maria! Ihr erschreckt mich! rief die Frau. Nein, er ist nicht ausgebrochen, und er soll's wohl bleiben lassen.

Letzkau stieß einen Ton aus, der wie ein unterdrückter Seufzer klang. Und weiter also?

Dieser Marquard Stenebreeker hat meinem Manne gesagt, daß er den Herrn Bürgermeister Letzkau sprechen müsse noch heute vor Nacht; er habe ihm wichtige Mitteilungen zu machen. Und da mein Mann ihm nicht glauben wollte und ihm antwortete, er mache sich nichts zu schaffen mit dergleichen Bestellungen, hat er ihm einen Ring gegeben und gesagt, den solle er nur vorzeigen, so werde der Herr Bürgermeister sogleich seine Bitte erfüllen. Da hat mein Mann sich denn nicht anders zu helfen gewußt, als daß er mich schickte; und da ich Euch zu Hause nicht antraf, bin ich hierher gegangen.

Sie wickelte aus dem Zipfel ihres Halstüchleins einen Ring und reichte ihn Letzkau hin. Der erkannte ihn sogleich als denselben, den er einst seinem Befreier geschenkt hatte. Geht nur voraus, sagte er nach einigem Bedenken, ich folge Euch bald nach.

Er ließ durch den Türsteher seinen Mantel hinausbringen, um nicht sein Fortgehen bei den Georgsbrüdern entschuldigen zu müssen, hüllte sich in denselben fest ein und schritt um die Ecke des Rathauses die Langgasse hinauf dem Tore zu, langsam, und den Kopf auf die Brust gesenkt haltend.

Der Torwächter öffnete rasselnd die schwere mit Eisen beschlagene Tür der gewölbten Zelle und ließ ihn ein. Er stellte ein Licht auf den Tisch und verließ auf einen Wink des Bürgermeisters das Gemach. Auf einer Holzbank unter dem vergitterten kleinen Fenster saß Stenebreeker, das Kinn mit dem langen roten Bart in die Hand gestützt, um deren Gelenk eine Eisenspange mit Kette fest schloß. Auch die Füße waren gekettet.

Ich wußte, daß Ihr zu mir kommen würdet, Konrad Letzkau, redete der Seeräuber ihn an, ohne den Kopf aufzurichten. Ich habe nicht umsonst Euren Ring bewahrt.

Und weshalb rieft Ihr mich, Marquard? fragte der Bürgermeister. Was habt Ihr mir Wichtiges mitzuteilen?

Stenebreeker lachte kurz auf. Solltet Ihr wirklich nicht gemerkt haben, Ihr kluger Mann, daß ich einen Vorwand brauchte? Ich wollte Euch mahnen, daß ich hier gefangen sitze. Ihr scheint es vergessen zu haben.

Ich hatte es nicht vergessen.

Und doch kümmert Ihr Euch wenig um mich. Ist es wahr, daß der Danziger Rat uns förmlich den Prozeß machen will?

Es ist so.

Was soll das? Wir Vitalienbrüder stehen nicht unter Danziger Gerichtsbarkeit. Was geschehen ist, ist geschehen auf freier See. Die See gehört niemand als dem, der sie bändigt mit Segel und Ruder. Wir haben uns nicht vergangen gegen eure Stadt oder einen ihrer Bürger nach ihrem Gesetz. Wir erkennen das Danziger Gesetz nicht über uns an. Als offene Feinde in ehrlicher Fehde sind wir euch da begegnet, wo allein das Recht des Stärkeren gilt. Wir sind besiegt worden und müssen leiden, daß man uns als Besiegte behandelt. Errichtet einen Galgen und knüpft uns auf, wenn ihr den Leuten ein Schauspiel geben wollt; aber treibt nicht euer Spiel mit uns vor Richter und Schöppen; man tötet seine Feinde, aber man richtet sie nicht!

Letzkau schüttelte den Kopf. Ihr kommt damit nicht weit. Die preußischen Städte haben die Vitalienbrüder nie als eine Seemacht anerkannt, die Krieg zu führen berechtigt wäre. Seeräuber seid ihr, seitdem ihr in keines Herrn Dienst und Pflicht steht, und als Räuber richten wir euch nach unserem Gesetz, wenn wir euch fangen.

Und übermorgen soll der Gerichtstag sein?

So ist's beschlossen.

Dann haben wir wenig Zeit. Nennt Euer Gericht wie Ihr wollt, sein Spruch ist im voraus gewiß, und Euer Henker wird nicht säumen, ihn zu vollführen. So oder so, aber – mich gelüstet nicht nach dem kalten Eisen oder dem Strange an meinem Halse, und ich hoffe wohl auch noch einen Freund in der Not zu haben, der mir darüber hinaushilft. Darum rief ich Euch, Konrad Letzkau.

Der Bürgermeister preßte die schmalen Lippen zusammen und blickte finster vor sich hin. Nach einer Weile sagte er dumpf: Ich kann Euch nicht helfen, Marquard – bei Gott, ich kann Euch nicht helfen.

Stenebreeker richtete sich auf seiner Bank auf, daß die Ketten laut rasselten. Ihr könnt mir nicht helfen? rief er. So wollt Ihr's nicht. Habt Ihr nicht auf Schloß Warberg in einem festeren Turm gesessen, und hab' ich Euch nicht die Freiheit verschafft durch ein Stück gereiftes Eisen und einen hanfenen Strick? Ist dergleichen in Danzig nicht zu haben? Und habt Ihr mir's nicht zugesagt, daß Ihr mir's vergelten wollet, was ich Gutes an Euch getan?

Eine Feile und ein Strick können Euch hier nichts nutzen, Marquard, antwortete Letzkau. Wenn Ihr auch auf die Straße hinabgelangt, was schwerlich unbemerkt bleiben kann, da Eure Zelle über dem Tordurchgang liegt, Ihr könntet nicht zur Stadt hinaus. Mauern schließen sie rundum ein, und zur Nachtzeit sind alle Tore geschlossen.

Das laßt meine Sorge sein. Wenn's aber hier so große Gefahr hat, laßt mich in ein anderes Gefängnis überführen. Ihr habt deren genug über den Wassertoren. Gewinne ich den Fluß, so denke ich wohl zu entkommen.

Es geht nicht an, Marquard.

Warum geht es nicht an? Seid Ihr nicht Bürgermeister dieser Stadt und habt zu befehlen?

Letzkau streckte die Hand mit dem Zeigefinger unter dem Mantel vor. Seht Ihr – deshalb geht es nicht an, Marquard, antwortete er aus beklommener Brust, weil ich der Bürgermeister dieser Stadt bin, deshalb geht es nicht an.

Stenebreeker warf den Kopf auf. Ah, dahinter verschanzt Ihr Euch?

Nicht so, Marquard. Bei Gott, ich suche nicht Vorwand, mich der Pflicht der Dankbarkeit zu entziehen, und es beschwert mein Herz, daß ich Euch nicht Dank beweisen kann, wie ich wohl möchte. Aber hier ist's nicht der Konrad Letzkau, an den Ihr Euch wendet: der Bürgermeister von Danzig steht vor Euch, und der hat seinen Mitbürgern geschworen, der Stadt Rechte zu wahren. Ihr seid ein Gefangener der Stadt Danzig, und wenn der Bürgermeister von Danzig Euch zur Flucht hilft, so ist er ein Nichtswürdiger, der Eid und Amt nicht achtet und untreu waltet aus Eigennutz. Ich kann's nicht, so wahr ich ein ehrlicher Mann bleiben will.

Der Seeräuber kämmte mit den Fingern seinen langen Bart drei, viermal. Ihr macht da einen gar feinen Unterschied, sagte er dann, aber Euer zartes Gewissen wird ihn nicht gelten lassen. Wenn ich gedacht hätte wie Ihr, wo wäret Ihr dann heut? Auch ich hatte damals einen Herrn, und Abraham Broderson war mir, was Euch die Stadt Danzig ist. Dennoch half ich Euch, und Ihr habt nicht danach gefragt, ob ich Eurem Peiniger die Treue brach.

Letzkau trat näher und legte die Hand auf die Schulter des geketteten Mannes. Es steht doch nicht gleich, Marquard, sagte er. Ihr hattet nicht viel Ehre und guten Namen zu verlieren, und das wenige habt Ihr nicht einmal verloren meinetwegen, denn die Tat war heimlich, und niemand konnte Euch anklagen. Was ich aber für Euch täte, das könnte nicht heimlich bleiben. Der Rat, der mich gewählt hat, würde mir die goldene Kette abreißen und mein Haupt auf den Block legen. Schimpf und Schande würde ich auf Kinder und Kindeskinder bringen. Und ich kann's auch nicht nach meinem Gewissen! Legt mir eine Buße auf, so hoch Ihr mögt, ich will sie zahlen, zu Eurem Seelenheil an Kirche oder Kloster oder an einen, der Eurem Herzen nahesteht. Aber Euch aus diesem Gefängnis zu entlassen – vermag ich nicht, das müßt Ihr mir glauben.

Stenebreeker schüttelte seine Hand von der Schulter ab und sah ihn verächtlich von unten her an. Was nützt mir Eure Buße, rief er, wenn ich unterm Galgen begraben bin wie ein Hund! Hätt' ich Euch doch im Turm vermodern lassen! Hilf großen Herren aus der Not und warte auf Lohn! Geht – geht! Ihr seid ein Undankbarer!

Marquard! Wenn sonst etwas, das in meiner Macht –

Geht, sage ich, daß ich nicht mit der Kette nach Euch schlage. Er spie aus. Pfui, es ist eine Sünde, so gewissenhaft zu sein! Aber hört, was ich Euch sage, Konrad Letzkau: Noch sitzt mein Kopf fest auf dem Rumpf, und Gottes Wege sind oft wunderbar. Es könnte doch sein, daß ich diese Fährlichkeit überstehe – niemand soll auf den nächsten Tag schwören. Betrachtet mich von dieser Stunde ab als Euren Feind und hütet Euch vor mir: ich will mich selbst bezahlt machen!

Der Bürgermeister wich keinen Schritt zurück trotz der drohenden Nähe des Wütenden. Ihr habt keine Hoffnung, sagte er mild, söhnt Euch mit dem Himmel aus, wenn Ihr könnt. Ich bitt' Euch, Marquard, reicht mir die Hand zum Abschied.

Meinem Henker lieber! rief Stenebreeker und knirschte mit den Zähnen. Letzkau wandte sich traurig der Tür zu. Aber noch eins: Gebt mir den Ring zurück, den ich Euch schickte. Er gehört mir ja doch und ist redlich verdient. Ich will ihn als ein Andenken an Euch am Finger tragen, wenn ich die Leiter besteige.

Letzkau reichte ihm den Ring und entfernte sich schweigend; er wußte nun, daß der Mann nicht zu versöhnen war, und konnte ihm nicht zürnen. Das lastet auf mir bis ans Ende meiner Tage, murmelte er, als er die enge Steintreppe hinabstieg.

Er kehrte nicht mehr nach dem Artushof zurück, sondern begab sich sogleich nach seinem Hause. Auf Schlaf für diese Nacht rechnete er nicht.

Die Junkerbank leerte sich aber an diesem Abend erst, als um zehn Uhr der Torwächter ansagen kam, daß er nach des Hofes Ordnung schließen müsse.

Barthel Groß und Hans von der Buche geleiteten Heinz bis zum Haustor, und da der Wächter versprach, es ihnen offenzuhalten, noch eine Strecke durch das stille Hakelwerk, denn er ging nicht ganz sicher auf seinen Füßen. –

Am nächsten Vormittag nach der Messe versammelte sich der Rat. Wie zu erwarten stand, beschloß er, daß die Stadt das Gericht hege ohne des Ordens Beistand. Das wurde brieflich aufs Schloß gemeldet.

Am Montag in der Frühe kamen die Schöppen zur Morgensprache bei ihrem Schöppenmeister zusammen und gingen dann gesammelt zum Rathause nach der Gerichtsstube, an deren Tür die Fronboten sie einließen. Der Schultheiß empfing sie und wies ihnen ihre Plätze an auf der Gerichtsbank zu seinen Seiten.

Die Schöppen entblößten das Haupt und zogen die Handschuhe ab, weil sie als Ritter vor Gottes Angesicht treten und ihn zum Zeugen anrufen sollten. Dann setzten sie sich ohne zu sprechen.

Die beiden Jüngsten öffneten die Lade und nahmen das Kruzifix und die Bücher heraus, legten sie auch auf den Tisch vor den Schulzen. Dann setzten sie sich gleichfalls auf die beiden Eckplätze der Bank. Der Schreiber saß an einem kleinen Tisch seitwärts, das Urteil in ein großes Buch einzutragen, das ihm der Schulze zureichte.

Dann stand derselbe auf, mahnte die Schöppen an ihren Eid, daß sie geschworen hätten, rechtes Urteil zu sprechen, dem Armen wie dem Reichen, den Feinden wie den Freunden, und davon nicht zu lassen weder durch Liebe noch durch Leid, noch irgendeiner Gabe wegen, unangesehen Trotz oder Drohung. Darauf winkte er den Fronboten, die Kläger einzulassen.

Es erschienen Kapitän Halewat und zwei seiner Schiffsleute, barhäuptig und im Feiertagskleide. Sie wurden gefragt, ob sie es bestätigen wollten, daß sie klagen wollten gegen die Vitalienbrüder, und daß sie deshalb gebeten hätten, ein Beiding zu berufen. Kapitän Halewat antwortete: So ist es, hochedle Herren. Ich und meine Genossen hier, wir klagen aber nicht für unsere Person, weil wir beinschärtige Wunden oder Schandmale von den Räubern erhalten haben im Kampfe, was ihnen unsererseits christlich verziehen sei, sondern im Namen dieser Rechten Stadt Danzig auf des Hohen Rates Geheiß, weil die Vitalienbrüder ein Danziger Schiff überfallen haben und mit Macht überwunden und gefangen sind als Räuber. Unsere Zeugen wollen wir nennen, wenn sie's leugnen.

Darauf wandte der Schulze sich an den Schöppenmeister. Ich frage Euch, Herr Schöppenmeister, dieweil mündige Leute vor Gericht stehen und begehren ein gehegtes Beiding, ob man das Ding hegen möge von Rechts wegen?

Der Gefragte antwortete: Herr Richter, weil mündige Leute vor Gericht stehen, so hegt das Ding von Gottes wegen und von Rechts wegen.

Der Schulze sprach: Ich tue, wie mir der Schöppe gefunden, und hege ein Ding von Gottes wegen. Und weiter frage ich Euch, Herr Schöppenmeister, ob es an der Zeit ist, daß ich dieser Rechten Stadt Danzig hohes peinliches Halsgericht hegen möge, einem jeden zu seinem Recht.

Darauf die Antwort: Herr Richter, dieweil Euch die Gerichte befohlen und Leute da sind, die peinlich Halsgericht von Recht begehren, so ist es an der Zeit, daß Ihr dieser Rechten Stadt Danzig hohes peinliches Halsgericht hegen möget.

Ich frage, wie ich das hohe peinliche Halsgericht hegen soll?

Darauf die Antwort: Herr Richter, gebietet Recht und verbietet Unrecht und des Dinges Verlust, und daß niemand sein selbst oder des andern Wort vor Gericht rede, er tue es denn mit Urlaub des Richters.

Darauf sprach der Richter feierlich: Ich hege dieser Rechten Stadt Danzig peinlich Halsgericht zum erstenmal. Ich hege es zum andernmal. Ich hege es zum drittenmal mit Urteil und mit Recht. Er wiederholte dann die Worte des Schöppenmeisters und fragte ihn, ob er nun das Gericht genugsam gehegt habe. Der bestätigte es feierlich, und der Schulze bezeugte es: »mit der Bank zu Urteil und Recht«.

So waren nun nach alter Gewohnheit alle Förmlichkeiten erfüllt, und das eigentliche Verfahren konnte beginnen. Der Kläger erhielt das Wort, trug den Fall umständlich vor, wie er sich begeben hatte, und bat um Recht.

Der Richter befragte die Schöppen, ob die gefangenen Übeltäter vorgeführt werden sollten. Sie bejahten es.

Weil sie aber wegen ihrer Übeltat nach dem Recht ihr Leben verwirkt hätten, ging die Frage weiter, wer sie vorführen solle.

Die Entscheidung lautete: Der Fronbote und zwei Personen des Gerichts.

Diese entfernten sich nun und holten die Gefangenen unter Begleitung der Stadtwache ein.

Marquard Stenebreeker schritt voran ins Zimmer, hochaufgerichtet und dem Schultheiß einen höhnischen Blick zuwerfend. Der ermahnte sie, die Wahrheit zu sagen, und fragte dann, ob sie eingestehen wollten, auf hoher See die »Maria von Danzig« überfallen und das Schiff nebst Mannschaft und Gütern in ihre Gewalt zu bringen versucht zu haben.

Das wollen wir eingestehen ohne Zwang, entgegnete der Hauptmann trotzig, aber euer Gericht erkennen wir nicht an über uns. Denn wir sind freie Leute und eurer Stadt nicht untertänig. Wir sind in rechter Fehde begriffen gewesen und im Kampfe unterlegen. Ihr selbst aber seid des Deutschen Ordens Untertanen und habt keine Vollmacht über Gefangene. Deshalb rufen wir den Herrn Hochmeister an wider euch!

So antworteten auch die anderen, da sie wohl merkten, daß die Schöppen verlegen einander ansahen. Der Schulze aber stand auf und sagte: Ruft ihr den Herrn Hochmeister an, das mag nachdem geschehen. Die Frage ist schon vorweg erwogen im Rat, und er hat beschlossen, euch vor Gericht zu stellen. So frage ich euch denn von Rechts wegen nochmals, ob ihr bei eurem Geständnis bleibt oder verlangt, daß wir die Zeugen hören.

Was wir gesagt haben, das haben wir gesagt, antwortete Stenebreeker, und der Zeugen bedarf es nicht.

Der Schulze wandte sich wieder an die Beisitzer. So frage ich Euch, Herr Schöppenmeister, nachdem es bewußt ist, wie sich gegenwärtige Täter zur Tat bekennen, was sie für eine Strafe leiden sollen?

Die Schöppen berieten leise miteinander und gaben ihre Stimme vom jüngsten zum ältesten. Das Urteil lautete dahin, daß die Seeräuber vom Leben zum Tode gebracht werden sollten.

Der Richter sprach: Ich frage, ob dies begangene Urteil soll kräftig sein von Rechts wegen.

Die Schöppen antworteten gesamt: Es soll kräftig sein von Rechts wegen.

Ich frage euch, wer das ergangene Urteil vollziehen soll von Rechts wegen?

Der Scharfrichter von Rechts wegen.

Der Richter bedeckte sein Haupt, die Gefangenen wurden abgeführt, das gehegte Ding war geschlossen.


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