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Zehntes Kapitel.
Des Leidens Ende.

»Einem alten Manne den reinen Sonnenschein ins Haus tragen, heißt das ein unnützes Leben führen? Sehen Sie, dort kommt auch das Himmelslicht aus dem Nebel hervor, kaum daß Sie da sind!« sagte Paulus Wikram zu Maja Williards, die wieder neben seinem Schreibtische saß. Sie war wieder gekommen und wieder seit jenem ersten Besuche, und die alte Schaffnerin hatte Ursache, eifersüchtig auf sie zu werden. Unmerklich und in aller Bescheidenheit und doch spürbar genug wußte Maja mit tausend kleinen Veränderungen das Leben des alten Herrn behaglicher zu machen, als es die einsamen Jahre her gewesen war; sogar sein Rauchzeug war in besserer Ordnung und an frischen Blumen fehlte es nie. Niemals that sie sich mit geistreichen Bemerkungen und Fragen hervor und nicht den geringsten Versuch machte sie, in die Geheimnisse der Dichterwerkstatt einzudringen oder Lebenserinnerungen hervorzulocken. Ihm aber ging von selbst der lang verschlossene Mund auf und es war ihm, als sei sein früh verstorbenes Töchterlein wieder aus dem Grabe gekommen, in einer andern Welt zur Jungfrau gereift, und als habe er tausend Dinge mit ihr zu besprechen, die während ihrer Abwesenheit sich ereignet hätten. Und obwohl sie mehr hörte als redete, so sah doch sein geübter Blick tief hinunter auf den Goldgrund einer lauteren Mädchenseele, die noch keine Leidenschaft verwirrt, kein Bildungsflitterschein gefälscht hatte. Aber er sah auch die ungestillte Sehnsucht, welche in dieser Seele sich abarbeitete und welche nicht nach irgendwelchem Besitze ging, sondern nach Hingabe und Aufopferung. Daß solche Sehnsucht die echteste Liebefähigkeit ist, wußte Maja nicht; er wußte es.

Von ihrer Mutter hatte sie Grüße gebracht und ihr die seinigen zurückgetragen; aber diese selbst hatte es bis dahin ihrer Tochter überlassen, eine Schuld der Jugend an den alten Mann abzutragen, und zwischen ihm und Maja hatte kein Wort von ferne an das gerührt, was ihm solch spätes Jugendlicht in das Haus gebracht hatte.

»Ja, ja, der reine Sonnenschein,« wiederholte er, »ich Alter darf das sagen ohne Schmeichelei. Und wenn er auf mein letztes Stündlein leuchtete, so wollt' ich gerne heimgehen. So lange freilich um ein ausgelebtes Leben zu strahlen, hieße dem Sonnenschein unbilliges zumuten. Ich will zufrieden sein mit dem, was mir jetzt zuteil wird, und vielleicht« – er sprach das leise vor sich bin – »vielleicht ist das Ende nicht fern.«

»Nein,« fuhr er fort, »Sie haben recht, wenn Sie von Ihrem inneren Reichtum spenden wollen unter die armen leidenden Menschen! Er wird sich nicht vermindern, sondern mehren, bis Sie ihn Einem schenken können – –«

»Ich weiß jetzt,« unterbrach ihn Maja rasch, »ich weiß, wem ich dienen will! Dienen ist das rechte Wort, darnach verlangt mich. Meine Mutter giebt mir nichts zu dienen, sie dient nur mir; und was ich Ihnen dienen kann, das ist ja nichts, und für dies Nichts geben Sie mir, was ich niemals verdient habe. Aber jetzt haben Sie das Wort gesprochen: die armen leidenden Menschen! Ich weiß wohl, deren sind Unzählige, aber die Ärmsten darunter sind vielleicht die Kranken. Die Kranken und Sterbenden! Ich habe meinen Vater gepflegt in seiner letzten Krankheit, während auch die Mutter krank lag, und er hat meine geschickte Hand gerühmt. Meine Mutter wollte seither nichts davon wissen, daß ich diesen Dienst wähle; aber wenn Sie es billigen, so wird sie zustimmen.«

Paulus Wikram dachte nach. »Was Ihr Herz Sie wählen ließ,« sagte er dann mit gedämpfter Stimme, »das wird das Rechte sein. Es giebt vielleicht noch ärmere Seelen, als die Kranken und Sterbenden – aber gehen Sie, Kind, thun Sie nach Ihrer Wahl! Gereuen wird Sie's nicht, wenn auch die Aufgabe Ihnen bald schwerer sein sollte, als Sie jetzt denken. Sie haben die Kraft des Leibes und der Seele, die gefordert wird – Gott segne Sie!«

Er schaute sie an wie ein Vater das Kind, das er in die Fremde ziehen läßt. Sie saß wieder im Hellen Sonnenlicht. Das spielte durch den Epheu am Fenster und krönte golden ihr schönes Haupt.

Es waren noch wenige Tage bis Weihnachten. Paulus Wikram sann nach, womit er Maja auf diesen Tag erfreuen könne. Er hatte bisher nicht daran gedacht, ihr sein Buch zu schenken, nun kam ihm das zu Sinne. Aber er besaß nur noch den einen ungebundenen Abdruck, den er sich selbst Vorbehalten und in den er da und dort Bemerkungen gekritzelt hatte. Er stieg eines Vormittags in die Stadt hinunter und ging in die Holdersche Buchhandlung, um sein eigenes Buch zu kaufen, wie das schon mancher Poet gethan hat. Übrigens war er darauf gefaßt, das Buch nicht einmal vorrätig zu finden.

Man kannte ihn in der Holderschen Buchhandlung, obwohl er sie nicht häufig besuchte. Swemelin beeilte sich um so höflicher, nach seinen Wünschen zu fragen, je weniger ihm sein Gewissen das Zeugnis geben konnte, daß er sich jemals sonderlich um den Absatz von Paulus Wikrams sämtlichen Werken bemüht habe. Als Wikram fragte, ob sein Buch vorrätig sei, antwortete er mit einem sehr eifrigen »Versteht sich!« – fragte noch heuchlerisch, ob gebunden oder ungebunden, und überreichte dann das einzige vielgewanderte Exemplar mit zierlicher Handbewegung und mit der selbstzufrieden lächelnden Buchhändlermiene, welche zu sagen scheint: nicht wahr, da haben wir etwas Schönes in die Welt gestellt?

Wikram besah sein eigen Werk nicht näher, bat, ihm das Buch einzuschlagen, bezahlte blank und baar in gutem Geld, schob sein doppelt rechtmäßiges Eigentum in die Tasche seines Mantels und wandte sich zum Gehen. Da sprang Werbelin von seinem Drehschemel herunter, trat noch an der Ladenthüre auf Wikram zu und sagte: »Es hat's noch niemand gekauft, Herr Doktor! Nun ist's ja endlich an den rechten Mann gekommen, und ich bewundere Sie, daß Sie das Lachen halten können. Ich an Ihrer Stelle könnt's nicht oder ich müßte 'was weniges fluchen. – Ich bitte um Verzeihung, ich mußte das sagen. Sie sind darüber erhaben.« Er ergriff Wikrams Hand, drückte sie fest und fuhr an seinen Platz.

Wikram lächelte, ohne etwas zu erwidern, und trat den Heimweg an. Unterwegs hatte er Zeit, die Andeutungen Werbelins weiter auszuspinnen und seine Phantasie mit den Leiden eines Buches spielen zu lassen. Die Sache kam ihm ganz heiter vor und er bereute seinen Kauf durchaus nicht. Er dachte schon über einige humoristische Verse nach, die er für Maja in das Buch schreiben könnte. Als er aber, zuhause angekommen, das Buch aus dem Futterale zog, schwand ihm der Humor. Auf dem Einband haftete ein rechtschaffener Tintenfleck; als er in dem Buche blätterte, gewahrte er bald einige zerknitterte Blätter, dann ein Eselsohr und noch eins, dann einen Fettfleck, dann einen, der nach Kaffee aussah, endlich fiel eine Karte heraus. Sie bestand aus einem Fetzen affektiert unbeschnittenen Büttenpapiers und enthielt die lüderlich hingeklecksten Worte:

»Käthchen Schönkopf dankt ihrer tugendsamen Kollegin in Apoll für das geliehene Buch und bedauert den Poeten, der es geschrieben. Verse bringen nichts.«

Wikram stand zuerst sprachlos; dann entfuhr ihm ein leiser Fluch, dann schlug er ein schallendes Gelächter auf und schleuderte das Buch starken Armes hinter den Ofen. Dort flog es dem schlafenden Pinscher an den Kopf, daß dieser zuerst laut aufheulte und dann mit einigen wütenden Bissen in das papierene Wurfgeschoß fuhr. Der Buchbinder Schönfisch behielt nun doch Recht: das Buch war unrettbar aus dem Einband gegangen, der Hund beschnüffelte ihn kritisch, Paulus Wikram aber rief der Schaffnerin und befahl ihr, den Greuel aufzulesen und ins Feuer zu werfen. Dann schrieb er an die Verlagsbuchhandlung und bat, ihm sofort ein Exemplar des Buches unmittelbar und auf seine Rechnung zuzusenden. Das ging nun der Entfernung wegen nicht so schnell und erst am Weihnachtsabend langte mit der Post das Gewünschte an, tadellos und unberührt.

Lange saß Wikram vor dem Buche, die Feder in der Hand, als wolle er eine Widmung hineinschreiben. Weit zurück durch die Jahrzehnte, zogen seine Gedanken; am Ende schrieb er nichts in das Buch als Majas Namen. Dann kam's ihm zum Bewußtsein, daß er selbst seine Weihnachtsgabe hinübertragen müsse, wenn sie nicht zu spät kommen solle. Er machte sich auf den Weg; es schneite lind und dem alten Herrn fiel es selber auf, wie rüstig er ausschritt. Als er durch die Stadt ging, freute er sich an dem geschäftigen Treiben, das ihm sonst oft zuwider gewesen war; es war ihm, als sei eine Ruhe in all' der Eile der Menschen, als treibe sie heute nur das Gemüt und nicht der rechnende Verstand. Die Nacht war eben angebrochen, als er die Besitzung der Frau Williards erreichte; die Rosenbäume des Gartens lagen geborgen unter dem Schnee, mildes Licht fiel aus den Fenstern auf die leere Terrasse.

Wikram trug einen ältlichen Mantel und großen Schlapphut und erschien offenbar dem Mädchen, das ihm die Hausthüre öffnete, nicht besonders fein. »Schon wieder einer!« sprach sie vor sich hin und hieß ihn. warten. Wikram wartete geduldig, bis das Mädchen aus dem Zimmer zurückkam, in das sie gegangen war. Sie reichte ihm ein Geldstück und ein Papierpäckchen, das nach Backwerk roch. Wikram nahm beides lächelnd in Empfang und das Mädchen sagte, Frau Williards lasse fragen, wie er heiße und ob er sonst noch etwas wünsche? Paulus Wikram zog sein Buch aus der Tasche und sagte: »Geben Sie das dem Fräulein, dann wird man den Bettler kennen.« Das Mädchen machte sonderbare Augen und ging zögernd wieder in das Zimmer. »Ein Bettler, ja!« murmelte Wikram vor sich hin; »gieb das Beste, was du geben kannst, ein Bettler bleibst du hienieden.« Aber nun ging eine andere Thüre auf, volles Licht drang heraus und Maja eilte auf den Bettler zu. Sie trug ein lichtes Festkleid sie streckte ihm beide Hände entgegen, sie nahm ihm den schneenassen Mantel ab und zog ihn hinein in das, Zimmer. Ein einziger großer Tannenzweig, mit brennenden Lichtern besteckt, hing dort in einer Nische über einem Tischchen, und auf dem Tischchen lag nichts als Wikrams neues Buch und das alte schmale Bändchen, aus vergangener Zeit. »Das ist mein Weihnachten,« sagte Maja, »mein letztes hier! Das nächste darf ich unter den Kranken feiern.« Wikram sah ihr in die Augen: »Möge Sie's nie gereuen!« sprach er ernst, »und vergessen Sie nicht, was Ihre Mutter opfert!« Maja sah zu ihm auf und ihr Auge schimmerte feucht. Da trat die Mutter aus dem Zimmer nebenan, sie trug das Buch in der Hand, das Wikram mitgebracht, das andere auf dem Tische war ihre Gabe an Maja. Sie reichte Wikram die Hand, aber sie sprach kein Wort. Auch er schwieg.

Fernher von der Stadt ertönte die große Münsterglocke, sie klang durch die Nacht, wie sie schon vor Jahrhunderten geklungen hatte. Tausend Prediger schon hatten ihren Klang gedeutet mit den Worten der fröhlichen Weihnachtsbotschaft, tausend und abertausend Herzen hatten anderes empfunden, als was die Predigt besagte. Kampf war der Ruf des Lebens geblieben trotz allen Weihnachtsglocken und ferne Friedensahnung dämmerte nur in dem Worte des Menschensohnes, das jetzt durch Paulus Wikrams Seele zog, er wußte nicht wie: Wer mir will nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich! –

– Die Weihnachtszeit war vorüber und das alte Jahr dahin. Ein neues war angebrochen – so besagte es der Kalender. Die Menschen hatten dem Kalender zulieb getrunken und gelärmt und gelacht und geweint und gewünscht, aber sonst war alles weiter gegangen, wie es gehen mußte, und alle Spulen des Lebens sausten im neuen Jahre weiter, wie das alte sie angesponnen hatte. Die Völker harrten, ob Krieg oder Frieden, der Reichtum wuchs und die Armut grollte, die Maschinen rasselten und die Herzen trieben Blut wie ehedem, die Gelehrten wurden immer klüger und zweimal zwei blieb vier wie vor Alters, man schrieb neue Bücher und las die alten nicht, was schön war, blieb schön, und was häßlich, häßlich trotz allen Gegenbeweisen, und Liebe wie Haß, Verlangen und Entbehren, Scheiden, Meiden und Entsagen blieb alt und ward neu, wie auch die Rahmen wechselten.

Auch der Nebenmensch blieb dem Nebenmenschen so wichtig wie im alten Jahre, wenigstens solange er Stoff zur Unterhaltung lieferte. In großen Kreisen gedieh der große Klatsch, in kleinen der kleine; die vornehme Welt klatschte vornehm, die gemeine gemein, die mittlere nach gutem Durchschnittsmaß, je nachdem es die Mittel erlaubten.

Daß der schöne Swemelin sich um Neujahr mit einer gewissen Emma Kluge verlobt habe, war einem mäßig weiten Kreise von Nebenmenschen wichtig; etliche wollten wissen, Frau von Nowikoff spende ihrer armen Gesellschafterin nicht nur ihren Segen, sondern auch eine großartige Aussteuer; einige böse Zungen untersuchten das Verdienst, das sich Frau Haldenwang um das Zustandekommen dieser Verlobung erworben habe, und eine aller Geheimnisse kundige Stadtbase wollte wissen, der Verlobung sei eine rührende Freundschaftsszene vorangegangen, in welcher der bucklige Werbelin feierlich sämtlichen älteren Ansprüchen auf die Braut des Freundes entsagt habe. Richtig war soviel, daß die Verlobungsfeierlichkeit am Sylvesterabend bei Frau Haldenwang stattgefunden hatte, daß Werbelin zugegen gewesen war und daß seine bloße Anwesenheit genügt hatte, die Braut von allen romantischen Befürchtungen zu heilen. Daß Werbelin sich an diesem Abend in aller Stille zum zweitenmal mit dem Hauptbuch der Holderschen Buchhandlung verlobt hatte, wußte niemand als er selbst.

In weiteren und anspruchsvolleren Kreisen hatte die Kunde Aufsehen erregt, daß die schöne, reiche und vielumworbene Maja Williards nicht nur nicht Frau Holder zu werden gedenke sondern sogar den Schleier genommen habe, wie sich geistreiche Witzjünglinge ausdrückten. Sie machte eine Schule für Krankenpflegerinnen mit, welche ein verdienter Arzt an dem städtischen Hauptspital abhielt; man wollte wissen, daß sie die bevorzugteste Schülerin ihres Lehrers sei; junge Assistenzärzte sprachen in begeisterten Ausdrücken von ihr, ehemalige Freundinnen rümpften die Näschen ein wenig, und viele Nebenmenschen männlichen und weiblichen Geschlechts waren begierig, sie bald in dem Häubchen und mit dem Kreuzchen zu sehen, welche die Abzeichen einer neugegründeten Schwesternschaft von Krankenpflegerinnen waren. Im übrigen erging man sich in Vermutungen, was wohl die schöne Maja zu diesem Schritt bewogen haben möge; ganz phantasielose Leute wurden dabei zu Romandichtern, an den einfachen wahren Beweggrund dachten nur wenige geradsinnige Menschen, welche nicht davon schwatzten.

Karl August Holder hatte es nicht schwer, zu diesen wenigen zu zählen. Seit Maja ihre Tage und oft genug auch ihre Nächte im Spital zubrachte, besuchte er wieder regelmäßig das Haus der Frau Williards, das er eine Zeit lang gemieden hatte. Und Frau Williards, die ihm nach wie vor gewogen blieb, ließ ihn nicht im Zweifel über das, worüber sich die Welt unnötigerweise die Köpfe zerbrach. Karl August begriff, wie er immer begriff, und seine Verehrung für Maja wurde um so entschiedener, je mehr seine ehemaligen Herzenswünsche in verständiges Begreifen sich lösten. Daß er dabei in seiner besonderen Art noch Wärme genug übrig behielt, das erfuhr ein feiner junger Herr aus der vornehmsten Gesellschaft der Stadt, welchem der flotte Buchhändler mit einem wohlangebrachten Säbelhieb über das modisch hergerichtete Gesicht begreiflich machte, daß es gefährlich sei, sich in seiner Gesellschaft mit wohlfeilen Witzen über Frau Williards und ihre Tochter zu belustigen.

Zuweilen traf Karl August bei Frau Williards mit Paulus Wikram zusammen. Wikram erinnerte sich des ehemaligen Schülers und fand mehr Wohlgefallen an seiner Art, als Frau Williards vermutet hätte. Der Buchhändler aber fing jetzt aus persönlicher Bekanntschaft den Poeten zu schätzen an und sorgte dafür, daß dessen sämtliche Werke von nun an jederzeit in seiner Buchhandlung auf Lager zu finden waren; seiner und Werbelins Bemühung gelang es später sogar, zuweilen einen Käufer für das eine oder andere dieser Werke zu finden.

Von der Vergangenheit war zwischen Frau Williards und Paulus Wikram niemals die Rede. Sie war für beide abgethan und ihre Gegenwart hieß Maja. Um sie drehten sich immer wieder ihre Gespräche, wenn sie allein waren; und was Paulus Wikram der Tochter gegenüber nur angedeutet hatte, das sprach er gegen die Mutter offen aus: den Dienst an den Leidenden, den Maja sich erwählt, halte er wohl für schön und einer selbstlosen Seele würdig; für Maja aber, weil sie Maja sei, könne er nur eine Schule darin sehen, in welcher sie ausreifen, werde für den anderen Beruf: einem Manne zur Seite zu stehen, der den Kampf der Zeit mitkämpfe in selbstverleugnender Arbeit, und eine der Mütter des neuen Geschlechtes zu sein, das wieder andere Güter schätzen werde als das gegenwärtige. Frau Williards stimmte ihm eifrig bei, obwohl sie sich vielleicht nicht ganz dasselbe dabei dachte wie er. –

Der Winter wich langsam und machte dem Frühling jeden Fuß breit streitig. Die Welt hatte wieder etwas. Neues zu reden: eine alte Winterseuche, die man lange vergessen hatte, war wieder aufgetreten und geberdete sich um so bösartiger, je hartnäckiger Winter und Frühling sich zankten. Aber sie hatte einen neuen Namen und die Wissenschaft wußte etliches neue darüber zu sagen, folglich hatte die gebildete Welt mehr Grund als früher, die Krankheit wichtig zu finden. Die von ihr Betroffenen freilich hatten wie ehedem das Hauptanliegen, gesund zu werden, und diesem Anliegen vermochte die Wissenschaft nicht immer ausreichend zu dienen. Die Krankheit mit ihrem Gefolge von Übeln machte zuweilen sonderbare und lebensgefährliche Sprünge.

Zu den wenigen, welche von der Krankheit gar nicht berührt zu werden schienen, gehörten Frau Williards und Paulus Wikram. Am Waldrand droben hinter Wikrams Häuschen regte sich's trotz immer neuen Schneewirbeln in den Bäumen und Sträuchern, eine Amsel sang jeden Morgen und jeden Abend, und wenn einmal die Sonne warm scheinen durfte, wagte sich das kleine geflügelte Getier heraus und gelbe Falter flogen um die treibenden Haseln und Weiden. Paulus Wikram schritt durch den Wald, still und ernst, aber aufrecht und kräftig.

Er hatte Maja seit Wochen nicht mehr gesehen. Ihre Schule hatte sie mit außergewöhnlichem Geschick und unermüdlichem Eifer beendigt, sie war früher, als das sonst zu gehen pflegte, unter die dienstthuenden Schwestern am Spital eingereiht worden. Nun erst empfand ihre Mutter die Einsamkeit recht, in welcher sie Maja ließ, und es wollte Wikram zuweilen scheinen, als ob sie halb bereue, ihre Zustimmung gegeben zu haben.

Eines Tages trat Maja mit raschem Schritte bei Wikram ein. Fremdartig stand ihrer stolzen Gestalt das unscheinbare Gewand, nur widerwillig trug die Fülle ihres Haares das starre Häubchen, und das Kreuz auf ihrer Brust wogte unruhig auf und ab. Ihr schönes Gesicht, vom raschen Gange gerötet, zeigte keine Spuren durchwachter Nächte, aber in ihrem Auge lag ein vertiefter Glanz, und die unbedeckte Hand, die sie dem Freunde bot, ließ ihn in ihrem Drucke eine starke Nervenanspannung verspüren. Paulus Wikram hielt ihre Hand fest und sah ihr lange ins Auge; sie verstand die Frage, die in seinem Blicke lag und sagte:

»Sie hatten Recht, es war schwerer, als ich gedacht hätte! Nicht die körperliche Anstrengung – die trägt ein Körper leicht, der so jung und gesund ist wie der meine. Auch was zu überwinden ist, wenn das Gefühl sich sträubt und den Sinnen graut – es läßt sich überwinden, und ich bin nicht gegangen, angenehme Gefühlserregungen zu suchen, sondern dem Leiden zu dienen. Schon schwerer ist's, den Kopf kühl und die Hand fest zu halten, wenn die Schmerzen und Qualen der Kranken das eigene Herz ergreifen; und was sich sonst aufthut an Menschenelend und unsäglichem Jammer – ja das ist oft genug noch schlimmer als Krankheit und Tod, und mit Mühe hab' ich oft den Schauder durch Mitleid überwunden. Aber das Schwerste sind die einsamen Stunden der Nacht – nicht diejenigen, die den Kranken die schwersten sind, sondern die Stunden, da die Kranken ruhen und die eigene Seele sich zu regen beginnt: dann seh' ich meine Mutter und denke, daß sie allein ist, und frage, ob ich recht gethan habe, sie allein zu lassen; dann kommt die ganze bunte Welt, die mir reizlos schien und schal – sie kommt und tausend Gestalten schweben durch die Krankensäle, in das Atmen oder Stöhnen der Kranken mischen sich Stimmen, die mich zu locken oder zu höhnen scheinen; das flirrt und schimmert und lacht und schwatzt – und ich sage mir mit Anstrengung, daß es nur die erregten Nerven seien, die mir solchen Nachtspuk vorführen. Aber es kommt auch am Tage: heut' am Hellen Morgen – ich ging in meinem Saale ab und zu – es ist gerade kein schwer Kranker da – ich besorgte allerlei kleine Dienste, die sonst der Magd zufallen – da klang's von ferneher auf der Straße drunten – ein Reiterregiment kam gezogen mit schmetternder rauschender Musik – ich warf einen Blick durchs Fenster, die Pferde tanzten und stiegen und die Helme und Waffen blitzten – am Spitale verstummte die Musik, aber mir – verzeih' mir's Gott, mir klang sie im Ohre weiter und eine Sehnsucht faßte mich, zu Pferd zu sitzen und in den blanken Morgen hinauszujagen. – Ach Gott, ich bin ein thörichtes Mädchen: ich weiß ja wohl, daß auch das die Nerven sind! Ich habe wohl starke Nerven, aber sie haben viel aushalten müssen in den letzten Wochen.«

Sie lächelte, aber ihr Auge hatte sich mit Thränen gefüllt. Der alte Freund gab nicht gleich eine Antwort. Seine Phantasie zeigte ihm Maja zu Pferd, in Kraft und Schönheit das Tier beherrschend, vom Glanze des Frühlingsmorgens umleuchtet. Und es war ihm, als spüre er selbst wieder die Kraft, ein Roß zu besteigen, wie in den einzig frohen Tagen seines Lebens, in der brausenden Studentenjugend. Er fand nicht gleich das rechte Wort, das er sagen wollte.

Doch Maja hatte schon ihre Thränen getrocknet. »Aber ich bin nicht irre geworden,« sagte sie, »gewiß nicht! Ich weiß, was ich will, und ich spüre die Kraft, Fleisch und Blut zu zwingen. Nur eins hab' ich gelernt: auch das ist anders, als ein junges Mädchen träumt.« Und ihr Auge blickte wieder fest, klar und entschlossen und doch in ruhigem vollem Lichte.

Paulus Wikram hatte ihr nichts mehr zu sagen. »Das ist die Kraft, die das Leben zwingt und das Leiden,« sprach er für sich. Er ergriff noch einmal ihre beiden Hände, drückte sie fest, indes sie hell zu ihm aufsah, und gab dann mit einem Scherzwort dem Gespräch eine andere Wendung. Eine kurze Weile saß sie wieder an seinem Schreibtisch wie sonst; dann machte sie sich auf den Weg, denn sie hatte nur wenig Zeit, und er geleitete sie durch den milden Frühlingstag bis zur Stadt hinunter. Er ging noch zu Frau Williards hinüber und sagte ihr, was er ihr Freundliches und Aufmunterndes sagen konnte. Als er mit Sonnenuntergang nachhause kehrte, fröstelte ihn – er gab's dem kühlen Abend schuld. Aber andern Morgens lag er im Fieber; auch ihn hatte die Seuche gepackt, und der Arzt, den die geängstigte Schaffnerin rief, schüttelte den Kopf. Sobald als thunlich ließ er den einsamen Kranken ins Spital verbringen – Schwester Maja hatte einen Schwerkranken mehr.

Er war schwer krank; an einem kräftigen Körper, welcher ein hartes Leben hindurch der Krankheit getrotzt, rächt sie sich gern um so grimmer. Und der Tod, der den Mann einst verschmäht hatte, damals, als er die Bande der Liebe zerriß, mit denen die Not ihn fesselte – jetzt umschlich er vergnüglich das Bett des Kranken. »Du hast das Leben überwunden, Mensch,« lachte er, »nun fort mit dir! Überwunden haben und an milder Spätherbstsonne sich des Sieges freuen, ist nur wenigen beschieden. Nicht dir. Dank' deinem Gott, daß dir zu überwinden die Kraft ward!« Nicht der Kranke hörte mehr, was der Feind des Lebens flüsterte, nur Maja glaubte die Worte zu hören und ahnte ihren Sinn. Nicht einmal die Nähe des Todes spürte der Kranke, er hätte ihn sonst als Freund gegrüßt. Nur Majas Hand spürte er zuweilen auf der Stirne und durch die Fieberschleier hindurch sah er einmal, zweimal noch das schöne Jugendwunder.

Die Abendsonne eines wahrhaftigen Frühlingstages drängte sich durch das offene Fenster und erzählte glühend vor Freude, daß er nun da sei, der Ersehnte. Da drückte Maja die erloschenen Dichteraugen zu, die sich sattgetrunken hatten an Leid und Schönheit, an Gram und Liebe. Die Nacht kam und ein lauer Wind wehte Blütenblätter herein; bei der Totenlampe saß Maja, sie schaute lange in das ruhevolle Gesicht, das scharfgeschnitten und fest dalag wie endliches Genügen. Sie weinte nicht mehr; aus den Totenkissen zog sie ein Buch, das sie dort niedergelegt hatte, und las, was dort geschrieben stand:

Wenn ich Abschied nehme, will ich leise geh'n,
Keine Hand mehr drücken, nimmer rückwärts seh'n.
In dem lauten Saale denkt mir keiner nach,
Dankt mir keine Seele, was die meine sprach.
Morgendämmrung weht mir draußen um das Haupt,
Und sie kommt, die Sonne, der ich doch geglaubt.
Lärmt bei euren Lampen und vergeßt mich schnell!
Lösche, meine Lampe! Bald ist alles hell.


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