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Fünftes Kapitel.
Maja.

Die Nelken auf dem Schreibtische des Herrn Paulus Wikram waren verwelkt, aber noch immer standen sie in dem Glase, dessen Wasser vertrocknet war. Es hatte den alten Herrn von Jugend auf immer einen Entschluß gekostet, Blumen wegzuwerfen, die ihn erfreut hatten, deren Farbe und Duft sich ihm in einer Stimmung der eigenen Seele vergeistigt hatte. Sie waren ihm ein Stück persönlichen Lebens geworden, das er sterben sehen konnte aber nicht dem Kehrricht überliefern mochte. Waren die Verwelkten endlich durch die Hand der Magd verschwunden, so war's recht und er fragte nicht weiter darnach.

Seit seinem Geburtstage waren seine Blicke häufiger als früher nach dem Haus am jenseitigen Berghange gewandert. Einmal hatte er, nachdem er lange hinübergeschaut, mit rascher Bewegung Hut und Stock ergriffen, als wolle er den Weg dorthinüber unter die Füße nehmen; aber er hatte Hut und Stock wieder weggelegt, dafür eine Mappe hervorgezogen und lange in verschollenen Jugendgedichten gekramt, von denen seine überscharfe Selbstkritik nicht eines jemals hatte zum Druck kommen lassen. Seither geschah es zuweilen, daß er in alten Manuskripten blätterte, bald mit ernstem Kopfschütteln, bald mit behaglichem Lächeln. Manchmal legte er ein Blatt beiseite, so jetzt eines, auf welchem die Verse standen:

Wie lang ist's her? – Wohl tausend Jahr?
Zeit der Sommersonnwend war,
Herzen und Feuer lohten.
Trug das Mädel den Rosenkranz,
Schwang der Bursche sie im Tanz
Über die Flammen, die roten.
– Wie lang ist's her?

Wie lang ist's her? – Wohl tausend Jahr?
Zeit der Wintersonnwend war,
Schnee fuhr über die Haide.
Sahen die beiden ins Aug' sich stumm,
Lösten die Hände und wandten sich um,
Schieden in Weh und Leide.
– Wie lang ist's her?

Paulus Wikram sah mit gekräuselten Lippen auf das Blatt und sprach vor sich hin: »Das hätte man vor zwanzig Jahren noch ein gutes Gedicht geheißen; vielleicht ist's auch ein gutes – ich weiß nicht. Hab' mich nie entschließen können, es drucken zu lassen; hatte besondere Gründe dazu. Wenn ich's heute drucken ließe – weiß genau, was die siebenmal klugen Ästhetiker der neueren Schule sagen würden! Romantik wäre das Geringste, was sie dem Gedicht vorwürfen, Professorenlyrik, Minnesingsang und dergleichen! Was nicht von der sozialen Frage handelt oder von schlechten Weibsbildern, gilt bei den Herren nicht mehr, und was nicht platt herausgesagt ist, das hören die Dickohren nicht. Daß es Stimmungen der Menschenseele giebt, für welche tausend Jahre wie ein Tag sind, das wissen die Eintagsfliegen nicht mehr; und das, was wirklich empfunden ist, von dem zu unterscheiden, was ein Professor sich ausgeklügelt, dazu sind sie nicht imstande, weil sie selbst nichts mehr empfinden in der krausen Schnitzeljagd auf dem kurzen Gras ihres Schriftstellerwasens. Symbolik vollends, die Seele aller Poesie – ah bah, dumme Teufel sind's, ABCschützen in der Ästhetik! Drum lärmen sie auch so heidenmäßig. – Wie lang ist's her? Wohl tausend Jahr? – Ob ich das wohl empfunden habe?«

Er deckte die Hand über die Augen und versank in sich selbst. – Und er steht wieder auf der kahlen Berghaide und sieht den grauen Vogel über verwitterte Steinbrocken flattern und sieht hinunter auf vergilbte Wälder, über welche der erste Schneeschauer des Jahres heranzieht, hinunter auf die Waldblöße, wo im Frühsommer die Heckenrose geblüht und der Reigen sich gewiegt hat – und ein schlankes Weib steht neben ihm und schaut mit ihm hinunter; sie schweigen. Wie lang ist's her? fragt er endlich. Wohl tausend Jahr! erwidert sie. Und sie sehen sich an und schweigen und gehen weiter. –

Noch immer hielt das milde sonnige Herbstwetter an; über Stadt und See, Rebhügeln und Waldhängen lag jene goldene Stille, in der man jedes Blatt zu hören glaubt, wie es vom Zweige sich löst; wie von leisen Atemzügen gehoben strebte das ferne Gebirg zum klaren Himmel empor.

Auf der Terrasse des Landhauses, nach welchem Paulus Wikrams Blicke von ferne herüberwanderten, saßen zwei Frauengestalten. Eine vielleicht fünfzigjährige Dame von vornehmer Haltung, die eifrig mit einer kostbaren Handarbeit beschäftigt war, war leicht als die Mutter des schönen reifen Mädchens an ihrer Seite zu erkennen. Das ergraute Haar der Mutter war ebenso an den Schläfen gewellt wie das dunkelbraune der Tochter, die kräftigen, regelmäßigen Formen des Gesichtes ließen bei beiden auf Bestimmtheit des Willens schließen und die Gestalt der Mutter erschien nur um weniges voller als die der Tochter. Nur der Ausdruck der Augen war merklich verschieden: wenn die Mutter von der Arbeit aufschaute und einen raschen Blick über ihr Besitztum, über den wohlangelegten Garten bis zur stillen Landstraße hinunter schweifen ließ, so sprach dieser Blick von zufriedenem Behagen und Wohlwollen, von lebhafter Beweglichkeit, und es war schwer zu sagen, welche Farbe die Augen haben mochten; das große, tiefbraune Auge der Tochter, vor welcher ein offenes Buch ans dem Tische lag, hing minutenlang mit fast starrem Glanze an den Umrißlinien des fernen Gebirges, senkte sich dann wie mit unwilligem Zucken auf das Buch, um bald wieder unbeweglich ins Weite zu schauen. Beide schwiegen.

Auf der Landstraße drunten erscholl lebhaftes Pferdegetrappel, ein Trupp eleganter Reiter, mehrere Offiziere darunter, sprengte vorüber; hundert Schritte hinterdrein, von einem Reitknecht begleitet kam noch ein Reiter auf geschmeidigem Fuchs: der schaute nach der Terrasse herauf, lüftete grüßend den Hut, hielt dann plötzlich sein Pferd an, sprang ab und übergab seine Zügel dem Knechte. Er trat in den Garten und kam ohne sonderliche Eile die Kieswege heraufgewandelt wie einer, der hier keineswegs fremd sein konnte; er blieb einen Augenblick vor einem Rosenstock stehen, der noch voll Blüten hing, begrüßte einen Hühnerhund, der ihm wedelnd entgegensprang, und trat nun mit der sicheren Haltung eines Hausfreundes auf die Terrasse, von der älteren Dame mit ungezwungener Freundlichkeit begrüßt, während das Mädchen ihre Mienen nicht veränderte, nur mit einem raschen Ruck ihr Buch zuklappte.

Der Reitersmann war kein anderer als Karl August Holder, der Geschäftsherr der Holderschen Buchhandlung; er stand in entfernten verwandtschaftlichen Beziehungen zu der verwitweten Frau Williards, der Besitzerin des Landhauses, und pflegte diese Beziehungen mit dem gemächlichen Eifer, mit dem er sein ganzes Lebenskünstlertum auszuüben beflissen war. Die allwissende gute Gesellschaft der Stadt war nicht im Zweifel darüber, daß es nur noch eine Frage der Zeit sei, wann Herr Holder seinem Junggesellenleben durch eine Vermählung mit Fräulein Maja Williards ein Ende machen werde.

Während Herr Holder einige muntere Worte gleichgültigen Inhalts mit Frau Williards wechselte, warf er forschende Blicke nach dem Buche, das vor Maja lag.

»Schon wieder Rankes Weltgeschichte?« fragte er dann leichthin.

»Warum nicht?« erwiderte Maja trocken.

»Als Buchhändler möchte ich wünschen, daß die Liebhaberei für den alten Ranke unter den jungen Damen weiter um sich griffe. Das Geschäft mit dem teuren Geschichtsmanne wäre noch besser als das mit schöner Litteratur. Als Mensch jedoch –«

»Mißbilligen Sie diesen Geschmack eines Mädchens,« fiel Maja ein.

»Das will ich eben nicht sagen –«

»Es genügt, wenn Sie's denken.«

»Ich denke selten über Fragen der Mädchenerziehung –«

»Wie die meisten Männer!«

»Mein Ausdruck war falsch gewählt, verzeihen Sie! Um Erziehung kann sich's ja wohl bei einer jungen Dame nicht mehr handeln, die selbständig genug ist, Ranke zu lesen –«

»Ohne ihn zu verstehen, meinen Sie?«

»Mit Ihnen ist heute nicht fertig zu werden –«

»Heute?«

Er brach in ein fröhliches Gelächter aus. »In Gottes Namen, ich strecke die Waffen wie gewöhnlich. Aber was ich als Mensch sagen wollte: Sie hatten früher einmal eine Liebhaberei für einen kaum bekannten Poeten, Namens Paulus Wikram. Von dem sind dieser Tage neue Gedichte erschienen.«

Durch Majas Augen ging ein kaum merkliches Aufleuchten, aber sie gab in dem bisherigen trocken widerspenstigen Tone zur Antwort: »Als Mensch wollten Sie demnach sagen, das Nippen an lyrischen Gedichten wäre für mich die angemessenere Beschäftigung.«

»Ob Wikrams Gedichte Nippsachen sind,« erwiderte er ablenkend, »müssen Sie besser beurteilen können, als ich. Ich gestehe, daß ich noch nichts von ihm gelesen habe, und im Buchhandel fragt kein Mensch nach ihm. Übrigens lebt er seit Jahrzehnten hier – ich weiß nicht, ob Ihnen das bekannt ist? Es wissen überhaupt wenige mehr von ihm, er ist so gut wie verschollen.«

»Woher wissen denn Sie von ihm?« fragte Maja, nachdem sie einen Blick mit ihrer Mutter gewechselt.

»Es war mein Lehrer auf dem Gymnasium,« erwiderte Holder ohne viel Anteilnahme. »Wir mochten ihn als Lehrer der deutschen Litteratur gerne leiden, aber seine Persönlichkeit war uns unheimlich. Er hatte etwas Gedrücktes, Verbittertes – es ist ihm, glaub' ich, sehr schlecht gegangen. Ich hab' ihn später aus dem Gesicht verloren, weiß nur zufällig, daß er jetzt wie ein Einsiedler dort drüben in dem Waldhäuschen wohnt und selten in die Stadt herunterkommt.«

Er wies die Richtung mit einer leichten Bewegung der Reitgerte und das Auge Majas folgte langsam, während ihre Mutter mit einer an Holder gerichteten Frage nach gemeinsamen Bekannten die Unterhaltung ablenkte. Bald darauf empfahl sich Herr Holder mit derselben höflich freundschaftlichen Lässigkeit, mit welcher er gekommen, und galoppierte zwei Minuten darauf seiner Sportsgesellschaft nach.

»Mama,« fragte nach einer Weile Maja wie aus Gedanken heraus, »wenn ihr euch in eurer Jugend gekannt habt, Wikram und du, warum habt ihr euch die fünf Jahre her, seit wir hier wohnen, gänzlich gemieden?«

Frau Williards gab nicht sogleich Antwort; sie hatte ihre Arbeit beiseite gelegt und sah mit ernster Miene nach derselben Richtung, nach welcher Holder Majas Blicke gelenkt hatte.

»Weiß er von uns?« fragte diese wieder und fügte, ohne eine Antwort abzuwarten, mit Lächeln bei: »Ich muß dir etwas gestehen! Nachdem du mir neulich einmal beiläufig gesagt hattest, daß du meinen Paulus Wikram kennest und daß er dort drüben wohne, hab' ich das Backfischchen gespielt und hab' ihm einen Nelkenstrauß geschickt – natürlich in tiefster Anonymität!«

Die letztere Versicherung war die Antwort auf einen leicht mißbilligenden Blick der Mutter.

»Davon vielleicht ein andermal!« sagte diese jetzt und fuhr fort: »Etwas anderes, Maja! Es muß einmal zur Sprache kommen. Ich habe Grund anzunehmen, du werdest dich bald entscheiden müssen, wie du dich in Zukunft zu Herrn Holder wirst stellen wollen.«

»Inwiefern?« fragte Maja in demselben Tone, in dem sie mit Holder gesprochen hatte, und kreuzte die Arme.

»Laß' diesen Ton,« erwiderte die Mutter ohne Strenge, »und stelle dich nicht wie ein sechzehnjähriges Mädchen! Du mußt doch wissen –«

Maja legte ihre Hand auf die der Mutter und er widerte: »Ich weiß, ich weiß! Und eben, weil ich kein sechzehnjähriges Mädchen mehr bin, fragte ich: inwiefern? Was möchtest du wissen: ob ich Herrn Holder liebe oder ob ich ihn heiraten wolle?«

»Nun – beides!« sagte Frau Williards etwas verblüfft und Maja antwortete kurz:

»Also denn: keins von beiden!«

»Aber er schien dir doch zu gefallen?«

»Anfangs – ja! In mancher Hinsicht jetzt noch. Er sitzt gut zu Pferd, er hat Geschmack und Urteil, er sagt keine Schmeicheleien –«

»Er hat Gemüt und Charakter,« fuhr die Mutter lebhaft fort, »ist alles in allem ein guter, gescheiter, braver Mensch, mannhaft, nicht blasiert trotz seinen Sportsliebhabereien, in ganz geordneten behaglichen Verhältnissen, die zu den unsrigen passen –«

Sie brach ab, denn Majas Gesicht hatte solch einen humoristischen Ausdruck angenommen, daß es der keineswegs humorverlassenen Frau nicht möglich war, in diesem Tone fortzufahren. »Ja, lache nur,« sagte sie und lachte selbst.

»Da wir also,« sagte Maja, »beiderseits nicht angethan scheinen, ein bekanntes Romankapitel unter uns aufzuführen, so wird der Herr Vetter Karl August sich mit einem ganz gewöhnlichen dürren Körbchen begnügen müssen, falls es ihm überhaupt einfallen sollte, sich ernsthaft um meine unwichtige Person zu bemühen.«

Frau Williards hatte den Ernst wieder gefunden. »So ganz einfach,« sagte sie, »ist die Sache doch nicht abgethan. Daß Holder ernsthafte Absichten hat, weiß ich aus der sichersten Quelle, nämlich von ihm selbst. Er hat mir freilich nicht pathetisch gesagt: ich liebe Ihre Tochter und kann nicht ohne sie leben! Aber was er sprach, hat mir keinen Zweifel gelassen, daß es das ehrliche warme Gefühl eines fertigen Mannes ist, was ihn deine Hand begehren heißt. Und nun wollen wir allerdings keine Romanscene spielen. Ich sage nicht: nimm ihn, du weißt nicht, ob du so bald wieder eine gleich gute Partie machen kannst! Und du bist nicht die Natur, empfindsam zu sagen: ich liebe ihn nicht und ohne Liebe kann ich kein Eheband knüpfen –«

»Weißt du das gewiß?« fragte Maja ganz ruhig.

»Ich glaube dich soweit zu kennen,« antwortete die Mutter. »Ich bin überzeugt, daß du imstande wärest, einen tüchtigen Mann zu heiraten und mit ihm glücklich zu werden, auch ohne daß jenes lebhafte Verlangen dich zu ihm zöge, das man Liebe nennt.«

»Liebe nennt,« wiederholte Maja mit langsamer Betonung. »Was nennt man denn Liebe?«

»Frage die Dichter oder die Philosophen –«

»Oder die Psychologen oder die Physiologen oder – Mutter, ich habe überhaupt noch nie und niemand darnach gefragt, außer dich und in diesem Augenblick!« sagte Maja herb und leidenschaftlich. Sie erhob sich, indem sie wie fröstelnd ein Tuch um die Schultern zog, stieg von der Terrasse in den Garten hinab und ging mit raschen Schritten auf dem nächsten Kiesweg hin und wieder.

Halb erstaunt und sorgenvoll, halb wohlgefällig schaute die Mutter ihr nach. Ihr Blick hing an der kraftvollen, biegsamen Gestalt, dem unwillig gehobenen Haupte, dem festen leichten Schritt, und mit weiblicher Befriedigung beobachtete sie die vornehme Eleganz in dem einfachen Anzuge der Tochter. Nun stand Maja bei einem verblühenden Blumenbeete still, streifte einige welke Blüten und Blätter ab, band eine Ranke auf, dann kehrte sie mit ruhiger Miene an die Seite der Mutter zurück. Deren Blick haftete noch eine kleine Weile auf jenem Blumenbeet, dann ergriff sie die Hand der Tochter und sagte mit weicher Stimme:

»Laß gut sein, Kind! Und wenn du noch dazu gestimmt bist, so laß mich auf deine erste Frage zurückkommen und von meiner Jugend erzählen – von mir und von dem alten Manne dort drüben!«

Maja nickte nur, zog mit leichtem Druck ihre Hand aus den Händen der Mutter, faltete ihre Hände im Schoß und sah mit Augen drein wie ein Kind, dem die Mutter ein Märchen versprochen hat.

»Wie lang ist's her?« begann die Mutter und es klang, als hätte sie gesagt: es war einmal. Dann wie von einer Erinnerung erschreckt, deckte sie einen Augenblick die Hand über die Augen, rückte sich in untadelhafte Haltung zurecht und fuhr mit veränderter Stimme fort: »Ich war in deinem Alter, da war ich in ähnlicher Lage wie du jetzt. Ich war über die erste Mädchenjugend hinausgekommen, ohne anders als vom Hörensagen und aus Büchern zu kennen, was die Leute Liebe nennen. Nun warb ein Mann um mich, dessen Trefflichkeit ich dir nicht zu schildern brauche: es war dein Vater. Meine Eltern wünschten, daß ich mich mit ihm verbinde, und ich wußte keinen Grund dagegen. Ich sah einem angenehmen, sorgenlosen Leben entgegen, wie ich's von klein auf gewohnt gewesen war und keineswegs hätte entbehren mögen. Ich hatte auch an mehreren meiner Freundinnen die Beobachtung gemacht, daß sie andere Männer genommen hatten als die, denen sie ihre erste schwärmerische Liebe zugewendet hatten, und daß sie sich ganz wohl dabei befanden. Eine einzige hatte nach harten Kämpfen mit den Eltern ihren Willen durchgesetzt und einen Musiker geheiratet, mit dem sie Jahre lang in überschwenglicher Leidenschaft verbunden gewesen war; jetzt war sie bitter unglücklich. Weder mein Herz noch mein Verstand erhob einen Einwand gegen den Wunsch meiner Eltern: ich sagte Ja und war einige Monate ganz harmlos und ohne Lüge, was man eine glückliche Braut nennt. Dann – es ist lange her, es ist alles noch gut geworden und ich kann ruhig davon reden – du bist reif genug, daß deine Mutter dir sagen kann, was sie selbst erlebt hat und was dir vielleicht eine Erfahrung ersparen kann –«

Sie stockte, denn sie begegnete einem raschen Blicke Majas, der zu sagen schien: kann man Erfahrungen für andere machen? Doch sie überwand sich und fuhr fort: »Dann trat ein anderer Mann in meine zufriedenen Kreise und von der ersten Begegnung an faßte mich eine Unruhe, die ich vorher nicht gekannt hatte. Es war, wie wenn man im Traume namenlos unglücklich ist und nicht weiß warum, und doch das Erwachen nicht wünscht, weil man sich sagt: du träumst ja bloß. Es war kein schöner Mann, was die Mädchen so nennen, und seine äußeren Lebensumstände waren dürftig, er war in Armut und Sorge aufgewachsen, und schien nicht viel Aussicht zu haben, in behagliche Verhältnisse nach unserem Maßstab zu kommen. Aber er trug seine Dürftigkeit nicht zur Schau, er war wohl gekleidet und trat mit der ungezwungenen Sicherheit auf, welche weniger aus gesellschaftlicher Übung kommt als aus dem Takt des Gemütes, aus dem Kraftgefühl eines gesunden frischen Körpers und aus dem Bewußtsein geistiger Überlegenheit. Er brachte einen Ton in die Unterhaltung, der mir neu war: er konnte wohl auch leichthin plaudern wie andere und ließ gern einen spielenden Humor über die Dinge des alltäglichen Lebens gleiten; aber er gab unvermerkt dem leichtesten Gespräch eine Wendung auf ganz ernste Sachen, die ich bis dahin nur in Büchern, in Predigten und öffentlichen Vorträgen mit einer gewissen scheuen Feierlichkeit von ferne betrachtet hatte, ohne daran zu denken, daß sie einem auch im gewöhnlichen Leben nahe kommen könnten. Und das war dann etwas ganz anderes als jenes geistreichthuende Gerede über Kunst, Litteratur und Wissenschaft, wobei wir nur obenhin nachschwatzen, was wir in Zeitschriften gelesen oder in Vorträgen gehört haben. Hier hatte man vielmehr den Eindruck, daß einer nichts sage, als was er selbst gelebt und gedacht habe; es kam alles heraus wie ein selbstverständliches Stück Persönlichkeit, und ein einziges scheinbar beiläufiges Wort konnte einem einen Haken ins Gemüt werfen, den man Tage und Wochen lang mit sich herum trug. Ein klein bißchen Schulmeisterei, das hie und da zum Vorschein kam, verstimmte nicht, weil ein Zug von humoristischer Selbstironie sich damit verband. Überdies wußte man, daß der junge Mann als Dichter aufgetreten sei, und das gab wenigstens zu meiner Zeit einem Mann einen besonderen Reiz auch für Mädchen, welche über die erste Schillerschwärmerei hinaus waren. Lächle nicht: du bist in diesem Punkte bekanntlich ein weißer Vogel unter den Krähen deines Alters, welche mit der Poesie fertig sind, sobald sie die höhere Töchterschule hinter sich haben! Wir waren auch in reiferen Mädchenjahren noch etwas ehrfürchtiger gegen Poesie und Poeten gestimmt als die jetzige Generation, und es gab sogar einige, welche Paulus Wikrams erste Gedichte sich kauften oder sich schenken ließen.

»Mir hat er selbst sie geschenkt. Es ist das schmale alte Bändchen, das du so in Ehren hältst. Nur der Einband ist neu und mit dem alten Einband ist auch das Blatt abhanden gekommen, auf das er eine Widmung geschrieben hatte. Aber ich weiß die Verse auswendig, die auf dem Blatte standen:

Ein jeder Schmerz läßt sich verwinden.
Kannst den Verlust du nicht vergessen,
So hast du noch den Trost, den linden:
Ich hab' es einmal doch besessen.

Nur Eines giebt sich nie zur Ruh,
Ein Schmerz bleibt bitter unermessen
Und gräbt im Herzen fort: wenn du
Verloren, was du nie besessen.

»Das sei ein schlechtes Gedicht, bemerkte er mündlich dazu, es gebe nichts zu sehen, weil es nicht geschaut, sondern gedacht sei; aber er müsse mir doch zeigen, daß er auch schlechte Gedichte machen könne, wie die beliebten Deklamierpoeten. Ich verstand dies Urteil nicht, aber ich verstand nur zu gut, was er hinter diesem Gedichte verbarg. Und ich träumte meinen ängstlichen Traum fort und schob das Erwachen immer weiter hinaus. Aber ich wurde geweckt. Mein Bräutigam war Monate lang auf einer Reise gewesen, nun kehrte er zurück und der Tag der Hochzeit wurde bestimmt. Als ich mit meiner Mutter das Hochzeitkleid einkaufte, stand mir's auf einmal klar vor der Seele: ich wollte eine große Lüge begehen, eines Mannes Weib werden, einen andern im Herzen! Und sowie mir das klar war, war auch mein Entschluß gefaßt: ich mußte entscheiden – nein, Paulus Wikram sollte entscheiden! Ein Waldfest, das eine befreundete Familie in jenen Sommertagen gab und zu dem auch Wikram geladen war, bot die Gelegenheit. Mein Bräutigam, weit entfernt von jeder kleinen Eifersucht, wünschte, daß ich an diesem Tage noch einmal ganz Mädchen sei; er selbst war durch Geschäfte von der Teilnahme an dem Feste abgehalten. Gegen Abend sollte der Tanz auf einer Waldlichtung beginnen, vorher zerstreute sich die Gesellschaft zwanglos auf den angrenzenden Waldwegen. Eh' ich mich's versah, war ich mit Wikram allein. Ich höre noch das ungeduldige Hämmern eines Spechtes, ich sehe noch die schrägen Sonnenstreifen, die um die rötlichen Föhrenstämme sich legten, ich sehe noch den üppigen Wildrosenbusch, von dessen hochgeschwungenen Ranken Wikram mir einen Strauß meiner Lieblingsblumen pflückte. Dabei erzählte er von seiner Jugend, von dem Ringen seiner Studienjahre – ich hörte von Entbehrungen und Seelenleiden, welche die Entbehrung schaffen kann – ich hatte von dergleichen nicht gewußt, ich schauderte. Und er sprach weiter, verhaltene Erregung zitterte in seiner Stimme, er sprach von seiner Zukunft und malte abermals ein Bild der Entbehrung, der Enge und der mühsalvollen Beschränkung, der kleinen und kleinlichen, mir völlig unbekannten Sorge – mir schauderte abermals. Und nun war ich wach: ich wußte klar, daß ich nicht geschaffen und erzogen sei, solch ein Leben zu teilen; und ich kannte meinen Vater zu gut, um nicht zu wissen, daß er mich ruhig die Folgen hätte tragen lassen, wenn ich einen eigenwillig gewählten Weg gegangen wäre. Eine Angst überkam mich jetzt, Wikram könnte das Wort sprechen, das von ihm zu hören ich vorher gewünscht hatte; ich sah einen Kampf in seinen Zügen, als halte er nur mit Mühe solch ein Wort zurück – von ferne klang die Musik durch den Wald, ich mahnte zur Rückkehr nach der Waldwiese. Er zögerte noch einen Augenblick, ein tieftrauriger Blick traf mich, als er mir den Wildrosenstrauß überreichte. Dann war's vorbei. Er nahm eine humoristische Wendung und erzählte eine Schnurre aus den Studentenjahren, die mir ein andermal zu derb geschienen hätte – jetzt klang sie mir wie Rettung und Erlösung. Als wir zu den andern zurückgekehrt waren, trennte er sich rasch von mir. Während die tanzenden Paare sich um das Feuer drehten, das mitten auf der Waldwiese entzündet war, während ich selbst mich wie im Schwindel mitdrehte, sah ich ihn noch eine Weile am Rand des Gehölzes stehen und unverwandt herüberschauen, dann war er verschwunden.

»Wir mieden uns von diesem Tage an. Wenige Tage nachher erkrankte mein Bräutigam und die Hochzeit schob sich um Monate hinaus. Ich hatte Zeit, mein Gemüt wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Einmal, im Herbst, begegnete ich Wikram auf einem einsamen Spaziergange, wir grüßten uns und sprachen zwei Worte; es war mir, als liege eine Ewigkeit zwischen diesem Tage und jenem Abend im Wald, als wäre er ein Mensch aus ferner Zeit, von dem ich in einem Buche gelesen. Und doch that mir das Herz weh.

»Dann hat uns das Leben weit auseinander geführt. Ich hörte einmal, daß er eine treffliche Frau gefunden habe; später, vor zehn Jahren etwa, daß ihm Weib und Kinder rasch gestorben seien. Sonst nichts. Seit wir hier wohnen, hab' ich freilich viel Trauriges von seinem Lebensgeschick gehört, und es hat mich Überwindung gekostet, ihn nicht aufzusuchen. Vielleicht thun wir's noch, Maja. Für mich ist ja alles gut geworden. Ich habe deinen Vater lieben gelernt von ganzem Herzen, und wir sind glücklich gewesen, bis der Tod uns getrennt hat. – Was ist dir, Kind?«

»Nichts, nichts!« erwiderte Maja mit hastigem Kopfschütteln. Aber ihr Gesicht schien bleich, ihre Züge hatten einen harten Ausdruck angenommen und ihr Blick hing wieder starr an dem fernen Gebirge, über das eine dunkle Glut sich zu legen begann.

»Es wird kühl,« sagte die Mutter, »die Sonne geht unter.«

»Ja, es wird kühl,« antwortete Maja fröstelnd.

»Wir wollen hineingehen,« sagte Frau Williards.

»Nein, mir ist ganz warm,« erwiderte Maja mit plötzlich wiederkehrender Röte im Gesicht, »und nun will ich dir sagen, warum ich Herrn Holder nicht heirate! Nun ist mir's klar, ganz klar: weil er nicht arbeitet, weil er nichts weiß von Entbehrung und Mühsal, weil –« Sie stockte und brach plötzlich in Thränen aus.

Frau Williards war gewohnt, daß ihre Tochter zuweilen Gedanken aussprach, die ihr unlogisch vorkamen. Daß sie solch einen Schluß aus ihrer Erzählung ziehen werde, kam ihr doch überraschend; sie hätte eher das Geständnis einer heimlichen Liebe erwartet.

»Aber Kind, Maja!« sagte sie, »ich verstehe nicht – was giebt's da zu weinen? Und Holder arbeitet doch –«

»Was ist das für eine Arbeit?« rief Maja, eifrig ihre Thränen trocknend. »Sein buckliger Buchhalter arbeitet für ihn, das weiß die ganze Stadt. Er genießt das Leben ohne Arbeit –«

»Thun das nicht viele? Thun wir das nicht auch?«

»Ja, Gott sei's geklagt! Und das ist mein Unglück! O Mutter, wie oft hast du gesagt, ich solle zufriedener sein, meine Launen ablegen! Was sollen wir reichen Mädchen anders sein als unzufrieden und launisch? Aufs Nichtsthun hat man uns dressiert, aufs Tanzen und Toilettemachen, aufs Klavierklimpern und Porzellanbeklecksen, mit Flitter von Wissen und Schöngeisterei hat man uns in der Schule behängt, wir orgeln französisch und englisch und italienisch wie aufgezogene Spieldosen, plappern Redensarten von Schulmeistern nach über Goethe und Schiller, glauben Physik studiert zu haben und können keinen Topf übers Feuer hängen, lesen Romane und sitzen und warten auf einen Mann, der reich genug ist, damit wir weiter faulenzen können. Aber von ernster Arbeit wissen wir nichts, wir haben nicht entbehren gelernt, nicht kämpfen mit des Lebens Not, und einen Mann, der das kann, der das muß, vermögen wir nicht glücklich zu machen. Die arme Frau Wikram möcht' ich gekannt haben – die muß glücklich gewesen sein!«

»Maja!« rief Frau Williards mit dem Tone des Vorwurfs und Maja fiel ihr leidenschaftlich um den Hals.

»Verzeih' mir,« sprach sie, »ich weiß, daß ich dich verletze, aber ich kann nicht anders! Und unser Bildungseifer, unser Konzertgehen und Theatersitzen, unsere Wohlthätigkeitsvereine, unser Kirchenlaufen – was ist's denn anders als geschäftiger Müßiggang, mit dem wir dem lieben Gott und den Menschen und uns selbst einen blauen Dunst vormachen! Meine Freundin Frida läuft an die Hochschule und hört Vorlesungen, die sie nicht versteht, und schwatzt dummes Zeug und trägt kurze Haare und wird eckig und männisch; und die lange Else ist Lehrerin geworden und hat ihre Gesundheit ruiniert und ist wohlweise wie der ärgste Schulmeister – aber sie arbeiten doch und sind glücklich in ihrer Art und wissen nicht, wie abgeschmackt sie sind. Aber ich – da sitz' ich und lese Rankes Weltgeschichte und ärgere mich, daß ich kein Mann bin, und weiß ganz genau, wie abgeschmackt ich bin!«

Wie schön sie war in diesem Augenblick, wußte sie nicht. Sie stand hochaufgerichtet und lachte. Und Frau Williards wußte nicht, was sie im Augenblick mit all' dem anfangen solle. Dergleichen Gedanken waren ihr noch nie gekommen, der guten, trefflichen, klugen Frau nach dem Schnitte dieser Welt. Dennoch ahnte sie dunkel, daß hier von einem Spital die Rede sei, in dem sie selbst einmal gelegen oder gar noch liege. Und sie liebte ihre einzige Tochter doch gar zu sehr, sie war froh, daß Maja nur wieder lachte.

»Tröste dich, Kind,« sagte sie schmeichelnd und schmeichelte zugleich ihrer eigenen lieben Seele, »das alles sieht schlimmer aus, als es ist. Wir sprechen ein andermal mehr davon. – Aber jetzt sollst du doch bald Herrn Wikram kennen lernen!«

»Ich denke,« erwiderte Maja und wischte die letzten Spuren von Thränen ab, »zuerst kaufen wir sein neues Buch.«

»Kind, das verstehst du nicht,« sagte die Mutter, »dergleichen kennst du noch nicht. Wenn du mit dem Dichter einmal bekannt bist, so schenkt er dir vielleicht das Buch, dann ist's noch zehnmal wertvoller. Wenn nicht, so ist's noch lange Zeit, es zu kaufen.«

»Ich glaubte, man ehre den Dichter, indem man sein Buch kauft, auch wenn man Aussicht hat, es geschenkt zu bekommen,« antwortete Maja mit leicht aufgeworfener Lippe.

Frau Williards sah sie groß an und schüttelte den Kopf. Dergleichen war ihr auch noch nie eingefallen.


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