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Viertes Kapitel.
Der Struwwelpeter.

»Empfehlen Sie mich der Madame! Werde alles bestens besorgen!« sprach händereibend der graubärtige Buchbindermeister Schönfisch unter der Thür seines alten Hauses in der Froschgasse. Bis hierher hatte er dienstbeflissen Fräulein Emma Kluge begleitet, die den Auftrag der Frau von Nowikoff bei ihm bestellt hatte. »Ja, ja,« fuhr er fort, »Ihre Madame weiß noch den Wert zu schätzen, welchen beispielsweise ein Einband an und für sich hat, auch ohne daß bedrucktes Papier dabei ist. Es giebt aber andere Leute, zum Exempel –« »Guten Morgen, Herr Böhringer,« grüßte er etwas mürrisch einen Herrn, der eben zur Hausthüre eintreten wollte und mit höflichem Hutabziehen vor dem Fräulein zur Seite wich.

Es war ein aufrechter, hagerer Mann von etwa vierzig Jahren; aus seinem bartlosen, feingeschnittenen Gesicht schauten ein Paar ernste, milde Augen, und wenn er nicht einen hellgrauen Anzug getragen hätte, hätte man ihn seiner Haltung nach für einen Pfarrherrn ansehen können. Den brummigen Gruß des Meisters erwiderte er ganz freundlich, fuhr sich, ehe er den abgezogenen Hut wieder aufsetzte, mit der Hand durch das buschige, aufrechtstehende Haar und trat gemessenen Schrittes in das Haus. Herr Schönfisch aber sprach mit etwas gedämpfterem Tone weiter:

»Eben zum Exempel also beispielsweise dieser Herr Böhringer! Sehen Sie, Fräulein, das ist beispielsweise ein ganz solider Mann. Er wohnt bei mir im dritten Stock zur Miete, ist von Beruf Telegraphenbeamter und hat zum Exempel eine sehr ordnungsliebende Frau, auch durchaus wohlgezogene Kinder. Ich halte ihn sogar beispielsweise für einen sehr gebildeten Mann, und seinen Hauszins zahlt er so pünktlich wie nur einer. Aber, aber – jeder Mensch hat seine schwache Seite, und wenn er sonst noch so solid in Ruck und Eck gebunden ist. Eben also beispielsweise der Herr Böhringer hat zum Exempel gar keinen Respekt vor einem vornehmen Einband und er hat mir schon Sachen gesagt, die ich als Buchbindermeister hätte eigentlich krumm nehmen müssen, wenn er nicht sonst wie gesagt ein ganz solider und beispielsweise sogar feingebildeter Mann wäre. Wissen Sie, was er einmal gesagt hat, Fräulein? Zum Exempel hab ich einmal zu ihm gesagt: die Frau von Nowikoff, hab ich gesagt, ist die einzige vernünftige Person in diesem Stück, beispielsweise was Einbände betrifft! Wissen Sie, was er geantwortet hat? Wie so? hat er gefragt. Weil ihr der Einband am Buch das Wichtigste ist, hab ich geantwortet. Da hat sie viel Schwestern, hat er gesagt, und auch Brüder unter den Verlegern! – Nun frag ich Sie beispielsweise, Fräulein, was sagen Sie zum Exempel also dazu?«

Das sei allerdings entsetzlich, erwiderte Fräulein Kluge mit verlegenem Lächeln, benutzte die Gelegenheit, sich loszumachen, und eilte nach der Holderschen Buchhandlung. Wieder wie am Tage vorher huschte ihr Blick zuerst nach dem Buckligen; wieder hatte es Herr Schwämmel, der feine, sehr eilig, das Fräulein zu bedienen, aber er fand diesmal die Wendung nicht, sie in ein längeres Gespräch zu verwickeln. Ehe er sichs versah, war sie wieder draußen und er hielt Paulus Wikrams »Phaläna« in der Hand. Nicht eben sanft schob er den Nachtfalter in das Fach, in welchem derartige schwerverkäufliche Erzeugnisse lyrischer Begabung ein staubiges Dasein zu fristen pflegten.

»Warum dorthin? Schick's weiter!« rief Werbel herüber.

»Unnötig! Wer wird's kaufen, wenns nicht einmal Frau von Nowikoff kauft?« brummte Schwämmel.

»Schick's an Herrn Eduard Böhringer, Froschgasse siebenundzwanzig, drei Treppen hoch!« erwiderte Werbel ruhig, ohne umzublicken.

»An den? Der hat einen Struwwelpeter bestellt,« sagte Schwämmel spöttisch.

»Beweist Geschmack! Leg' die Gedichte bei!« antwortete Werbel unbeirrt.

»Meinthalb!« murrte Schwämmel. »Was geht mich die lyrische Scharteke an.« Und er ließ die neueste Auflage des Struwwelpeter und Paulus Wikrams neue Gedichte zu einem etwas unhandlichen Paket zusammen machen und an Herrn Eduard Böhringer adressieren.

Eine halbe Stunde nachher saßen die Freunde schweigsam an ihrem Kosttisch. Jeder schien etwas zu verarbeiten; Werbel machte keine seiner satyrfüßigen Bemerkungen, mit denen er sonst die Kulturgeschichte der Gegenwart zu glossieren pflegte, und Schwämmel machte keinen einzigen Versuch, seinen Tischnachbar über den Unterschied zwischen dem guten und dem giftigen Reizker oder über die strittige Eßbarkeit des Elfenbeinschwamms zu belehren. Dagegen strich er häufiger als sonst seinen Bart und untersuchte wiederholt mit bedenklichen Blicken einen Knopf an seinem Rocke, der nicht mehr ganz tadellos durchs Knopfloch sah.

Beim gewohnten Billardspiel am Abend ging's so schweigsam zu wie am Mittag. Schwämmel spielte zerstreut und schlecht, wurde ärgerlich und stieß im Ärger eine Kugel über den Billardrand hinaus. Sie flog einem alten Herrn ans Schienbein, der in der Nähe seine Zeitung las, Schwämmel mußte Grobheiten einstecken und sich als Mann von feinen Sitten erst noch entschuldigen. Werbel dagegen spielte mit einer Pünktlichkeit und Sicherheit wie selten, bei den schwierigsten Stößen hockte er wie ein Affe auf dem Rand des Billardtisches, so daß einige Fremde sich kichernd mit den Ellenbogen anstießen; aber er spielte seinen Ball unfehlbar in die Ecke.

Nach dem Abendessen sollte auf Schwämmels Stube ein neues Geigenduett geübt werden, auf das man sich längst gefreut hatte. Aber Schwämmel stimmte immer und immer wieder, fluchte etwas in den Bart über die verdammte Geige, riß eine Saite ab und machte sich daran, eine neue aufzuziehen. Werbel saß unbeweglich in einer Sophaecke und schaute nach der Lampe. Endlich warf Schwämmel die Geige weg, setzte sich in die andere Sophaecke und sprach:

»Ach was, Werbel, es hilft nichts, es muß heraus!« »Was?« fragte Werbel, ohne den Kopf zu wenden. »Ich – – liebe!« – »So?« – »Und weißt Du, wen?« – »Fräulein Emma Kluge.« – »Ja.«

»Dann wird die arme Lyrik wieder bessere Tage sehen bei Haus Holder,« war das einzige, was Werbel auf dieses inhaltschwere Bekenntnis erwiderte. Es entstand eine Stille, welche Schwämmel dazu benutzte, anhaltend in ein Mikroskop zu schauen, unter welchem einige Pilzsporen lagen.

Als nach einer Weile Werbelin immer noch keinen Mund aufgethan hatte, schob Swemelin das Mikroskop zur Seite, griff wieder nach der Geige und spannte die neue Saite auf. »Wir wollen geigen,« sagte er kleinlaut. Und sie geigten. –

Um dieselbe Zeit saß Herr Eduard Böhringer, der Telegraphist, in seinem Wohnzimmer an dem Eßtisch, den seine hübsche Frau eben abräumte. Er hatte diese Nacht keinen Dienst und konnte sich die Ruhe in seinen vier Wänden schmecken lassen. Er hatte seinem ältesten Buben eben Gute Nacht gesagt, die drei kleineren Kinder schliefen schon in dem Zimmer nebenan. Dann hatte er sich eine der kleinen, leichten Zigarren angezündet, welche er sich an solchen Abenden gönnte, und griff nun behaglich nach dem Paket, das vor dem Abendessen aus der Holderschen Buchhandlung angekommen war. Er öffnete es langsam wie ein Mann, der gewohnt ist, nichts zu übereilen und auch auf das Kleinste zu achten, wickelte die Schnur, die das Paket umschlossen hatte, über dem Zeigefinger und Mittelfinger der linken Hand säuberlich zusammen, legte sie auf die Zeitung, die ihm seine Frau auf den Tisch geschoben hatte, und untersuchte den Inhalt des Pakets. Das feingebundene Buch in dem Pappfutteral legte er vorläufig behutsam zur Seite und mit einem zufriedenen Lächeln um die schmalen Lippen griff er nach dem Struwwelpeter, den er sich bestellt hatte. Es war nicht der erste, der den Weg in seine Wohnung gefunden hatte. Aber den ersten hatten die beiden älteren Kinder zu Schanden gelesen und inzwischen waren die jüngeren reif für Struwwelpeterstudien geworden. Herr Böhringer hatte beschlossen, auf Weihnachten einen neuen Struwwelpeter anzuschaffen und als sorgsamer Hausvater, der seine Ausgaben und Einnahmen weislich verteilte, hatte er es für passend gefunden, den Struwwelpeter vom Oktobergehalte schon zu kaufen, weil dem November- und Dezembergehalte andere Ausgaben zugewiesen waren.

Ein rascher Blick in das Buch zeigte ihm, daß die ganze holde Struwwelpetergesellschaft noch das gute altfränkische Gewand trug und sich glücklich der Modefetzen erwehrt hatte, mit welchen der unendliche Fortschritt einer hochgebildeten Zeit sogar den strobeligsten Kinderfreund bedroht hat; auch die Farben leuchteten, noch in ihrer ungebrochenen Kraft und waren noch nicht in der braungrünen Brühe zerflossen, welche der Modegeschmack über alles gießen möchte, was Farbe zu bekennen wagt. Es war der gute, alte, unverfälschte Struwwelpeter trotz der riesigen Auflagenzahl, die auf dem Titelblatte stand und einem lyrischen Dichter Schwindel zu verursachen im stande gewesen wäre.

Sorgsam Blatt um Blatt umschlagend und leichte Rauchwölkchen blasend, vertiefte sich Herr Böhringer in das altbekannte, liebe Buch, bis eine kleine Hand ihm durch die buschigen Haare fuhr, ein Arm sich von hinten auf seine Schulter legte und die muntere Stimme seiner Frau sagte:

»Alter Struwwelpeter! Hast du ihn glücklich wieder, deinen Doppelgänger? Sieb ihn nur recht an! Genau, so würdest du aussehen, wenn du keine Frau hättest, die dir von Zeit zu Zeit übers Haar käme!«

Er lachte und hielt, ohne von dem Buche aufzusehen, beide Hände mit gespreizten Fingern in die Höhe; es waren feine aristokratische Hände und die Nägel waren rund und nett beschnitten, selbst der kleine Finger zeigte nicht die Faulheitskralle, welche die Mode der höheren Stände vor kurzem aufgebracht hatte.

»Ja, ja, deine schönen Hände! Auf die bist du doch ein ganz klein wenig eitel, du gar nicht eitler, großartiger Mann!« So sprach sie schmeichelnd, ergriff eine der Hände und drückte einen Kuß darauf. Dann sprang sie rasch drei Schritte zur Seite und griff nach einer Arbeit auf ihrem Nähtischchen. Denn an der Thüre hatte es geklopft.

Auf Böhringers Herein erschien ein modisch gekleideter junger Herr mit blondem Schnurrbärtchen in der Thüre. Das war der Herr Lehramtskandidat Hellwachs, der eine Treppe tiefer zur Miete wohnte und seit einigen Wochen daran war, als Hilfslehrer in einer der Stadtschulen seine pädagogischen Sporen zu verdienen. Er hatte nach seinem Einzug in dem Hause des Buchbinders Schönfisch sämtlichen Hausbewohnern seinen Anstandsbesuch gemacht, dabei untadelige Glanzhandschuhe getragen und sich bei Frau Böhringer die Erlaubnis ausgebeten, hie und da ein Abendplauderstündchen zwanglos im Familienkreise verbringen zu dürfen, was einem jungen gebildeten Manne ja ohne Zweifel förderlicher sei als das geisttötende Wirtshaussitzen, das man auf den Universitäten lerne. Er hatte noch einige andere Randbemerkungen über die Mängel der Universitätsbildung beigefügt, die freilich ein ganz klein wenig nach sauren Trauben schmeckten.

Nun kam er zum erstenmal, um die Erlaubnis zu benutzen, die ihm Frau Böhringer nicht ganz ohne schelmisches Mundwinkelzucken gegeben und gegen die auch ihr Mann keinerlei Einwendung erhoben hatte. Er sprach einige höfliche Worte, nahm mit zierlichen Bewegungen den Stuhl, den ihm Frau Böhringer anbot, zog die steifen Handkrausen mit den großen Knöpfen unter den Rockärmeln vor und antwortete auf einige Fragen, welche Böhringer an ihn stellte. Dabei hielt er aber seinen Blick fest auf den Struwwelpeter gerichtet, den sein Auge sofort erspäht hatte, und sobald er eine schickliche Gesprächspause erwischen konnte, sprach er:

»Ah, da hat Ihnen der Buchhändler den Struwwelpeter zugeschickt. Merkwürdig, wie viele Auflagen dieses alberne Buch erlebt, das doch von der Pädagogik längst gerichtet ist.«

»Wie so?« fragte Böhringer. »Übrigens habe ich mir den braven Kerl ausdrücklich bestellt.«

»Doch nicht, um ihn Ihren Kindern zu schenken?«

»Warum denn nicht?«

»Aber ich bitte Sie, das ist doch sehr einfach und folgt aus den elementarsten Regeln der Pädagogik. Ich werde das begründen.«

Herr Hellwachs pumpte geschwind seine Lunge voll Luft und setzte an, als ob er einen zweistündigen Vortrag im allgemeinen Lehrerreformverein halten wollte. Zuerst watschelte und schnatterte er eine Weile in der Geschichte der Pädagogik herum wie eine Ente im Sumpf und schlenkerte Aussprüche von Comenius, von Rousseau und Pestalozzi, von Salzmann und Herbart nach allen Seiten hin wie fette Würmer und Schnecken. Als dann Böhringer sich die bescheidene Bemerkung erlaubte, er sehe nicht ganz ein, was das alles mit dem Struwwelpeter zu thun habe, bestieg der junge Volksbildner das hölzerne Roß der Theorie und sprengte im Galopp die fünf formalen Stufen des Unterrichts hinan, worauf Herr Böhringer das beschämende Bekenntnis ablegte, daß er von diesen fünf Stufen noch nie etwas gehört habe, auch immer noch nicht begreife, warum der Struwwelpeter so verwerflich sei. Daraus zog der schlagfertige Pädagoge die logische Schlußfolgerung, daß Herr Böhringer sich offenbar über Wesen und Begriff der Erziehung nicht ganz klar sei. Das möge wohl sein, gab Böhringer in seiner pädagogischen Unschuld zu, wagte aber dennoch das Geständnis, den Struwwelpeter halte er nun einmal für einen Klassiker der Kinderlitteratur, und er stütze sich mit dieser Ansicht auf die maßgebende Autorität der Kinder selbst. Da machte Herr Hellwachs ein Gesicht, als ob ihn sein jüngster ABCschütz hebräisch angeredet hätte, kam aber nun doch insoweit auf den Struwwelpeter zu sprechen, als er die pädagogische Verwerflichkeit der Karrikaturen im allgemeinen darzuthun unternahm und dabei von dem Satze ausging, der Struwwelpeter habe weder Moral noch Verstand. Aber dafür ein bischen Phantasie, meinte lächelnd der Telegraphist, und das sei den Kindern nötiger als Verstandesfutter; zum Verstand habe es noch immer Zeit.

»Aber wo bleibt die Wahrheit und die Moral?« eiferte Hellwachs. »Erkennen Sie doch die völlige Verlogenheit dieses Buches!«

»Lieber Herr,« erwiderte Böhringer freundlich, »wo die Phantasie herrscht, giebts überhaupt keine Lüge. Da ist alles wahr, so lange es geglaubt wird. Und Wenns nicht mehr geglaubt wird, nun, so schadets auch nichts mehr.«

»Unter allen Umständen ist das Buch albern und nicht nur pädagogisch sondern auch ästhetisch verwerflich,« entschied der gelehrte Volksbildner.

»Hm, ästhetisch?« sagte der Telegraphist bescheiden, »Sie haben wohl auch Ästhetik studiert? Ich bin in dieser Wissenschaft nicht zu Haus, aber mir scheint, die Linien und Umrisse dieser Bilder entfernen sich vom Richtigen nicht weiter als die Zeichnungen eines talentvollen Schulknaben, aus dem ein Maler werden will. Vielleicht ist das ihr ästhetischer Wert. Und albern sei das Buch, sagen Sie? Hm, ich für meinen Teil habe an dem albernen Buch noch immer mein Vergnügen, um so mehr Vergnügen, je älter ich werde.«

»Wenns nur wenigstens satirisch wäre!« seufzte Hellwachs mitleidig.

»Wär's dann für Kinder?« fragte Böhringer.

»Nein, aber ich könnte begreifen, daß ein Erwachsener Freude daran hätte.«

»Nun, ein Erwachsener mag sich im Stillen noch allerlei dabei denken, an was die Kinder nicht denken und woran sicherlich auch der Verfasser nicht gedacht hat. Kommt Ihnen zum Beispiel der große Nikolas mit seinem großen Tintenfaß nicht bekannt vor? Und sind Sie den Tintenbuben in unserer erleuchteten Zeit noch nirgends begegnet oder dem wilden blinden Jägersmann? Ich meine sogar, den unwahrscheinlichen fliegenden Robert schon gesehen zu haben, nur daß sein Regenschirm nicht aus roter Baumwolle war, sondern – –«

Das war Herrn Hellwachs offenbar zu dumm. Er sah plötzlich nach der Uhr und erhob sich; es falle ihm eben ein, sagte er, daß – – das Weitere war nicht ganz verständlich. Er empfahl sich mit ziemlicher Eile und nahm die Überzeugung mit, daß der Telegraphist Böhringer zum ersten ein sehr mäßig gebildeter Mensch sei und zum andern einen Sparren zu viel habe. Doch nahm er sich als gebildeter Lehrer der Menschheit vor, Herrn Böhringer nicht zu verachten sondern zu bemitleiden und bei Gelegenheit weiter zu belehren.

»Ist das aber ein hochmütiger Esel!« platzte Frau Böhringer heraus, als die Thüre sich hinter dem Kandidaten geschlossen hatte.

»Pst, pst!« drohte ihr Mann lächelnd, »wer wird so reden? Hast du keinen Begriff von der ägyptischen Finsternis, in welcher die Welt säße, wenn solche Leuchtkäfer nicht drin herumschwirrten?«

»Ach was, da hört mir der Spaß auf!« sagte die frische Frau unwirsch. »Ich habe alle Achtung vor einem rechten Schulmeister und dank's dem alten Herrn Volkmann noch im Grabe, was er in meiner Kindheit an mir gethan hat. Aber diese neumodischen Herrlein, die haben alle Weisheit mit Rührlöffeln gegessen und thun, wie wenn ohne sie der Herrgott selbst die Suppe anbrennen ließe! Mich dauern nur die armen Kindergemüter, die mit dem dürren Verstandesheu dieser Herrn gefüttert werden sollen! Du hättest ihm ganz anders den Marsch machen sollen!«

»Was hätt's genützt?« sagte Böhringer mild. »Laß ihn, er hat's nicht besser gelernt!«

Damit klappte er den Struwwelpeter zu, stand auf und trug das unpädagogische Buch nach dem altmodischen Schrank in der Ecke, um es sorgfältig und liebevoll einzuschließen und vor frühzeitiger Entdeckung durch neugierige Kinderaugen zu schützen. Dann setzte er sich wieder bequem am Tische zurecht und griff jetzt erst nach dem andern Buch, das er zuvor beiseite gelegt hatte. Langsam und vorsichtig zog er es aus dem Pappfutteral, lüftete den grauen Schutzumschlag und murrte: »Wieder so ein unvernünftiger Einband nach dem Herzen des Herrn Schönfisch!«

Frau Böhringer reckte über ihrem Strickzeug den schlanken Hals ein wenig, warf einen Blick auf den geschmähten Einband und sagte:

»Warum bist du denn eigentlich so grimmig gegen die schönen Einbände? Ich meine, es sei doch ganz in der Ordnung, daß man einem Buche, in dem was Schönes steht, auch ein schönes Gewand giebt!«

»Das ist ganz meine Meinung, liebes Kind,« erwiderte Böhringer, indem er die erloschene Cigarre wieder anzündete, »aber fürs erste stehen die schönsten Sachen nicht immer zwischen den schönsten Einbänden; fürs zweite sind die meisten Einbände, mit denen die Herren Verleger die Welt beglücken, nicht schön und noch weniger solid; und zum dritten machen diese überladenen, unsoliden Einbände die Bücher noch teurer, als sie ohnedies sind, so daß sie unsereiner vollends nicht kaufen kann. – An den meisten hat man freilich nicht viel verloren,« schloß Böhringer seine wohlgesetzte Erklärung, indem er das Titelblatt aufschlug. »Paulus Wikram,« sagte er dann nachdenklich, »neue Gedichte von Paulus Wikram – der Name ist mir nicht unbekannt! Von diesem Verfasser hab' ich vor vielen Jahren einmal etwas gelesen, etwas Schönes, etwas was mich aufgerichtet hat in einer verzagten Lebensstimmung! Was war's doch gleich? Ich kann mich auf den Titel nicht mehr besinnen – es war eine sehr traurige Geschichte von einem armen Druckerjungen der nicht studieren durfte, oder vielmehr, es war eigentlich keine Geschichte, und doch war's spannend zu lesen und man wußte nicht, ob man lachen oder weinen solle. Es stand in einer Zeitschrift, ich weiß nicht mehr, wie sie hieß – ich habe später oft nach der Geschichte von dem armen Druckerjungen gefahndet und gefragt, aber niemand hat mehr etwas davon wissen wollen. Nur den Namen des Verfassers hab' ich sicher behalten – und siehst du, da wär' ich jetzt im stand, diese Gedichte unbesehen zu kaufen, wenn nur – –«

»Wenn nur der Einband nicht wäre?« fiel Frau Böhringer ein. »Das Buch wird doch auch ungebunden zu haben sein!«

»Wahrscheinlich, wahrscheinlich!« murmelte er, »aber« er vollzog geschwind eine halblaute Rechnung – »auch so noch ist's zu teuer. Es geht nicht, geht nicht, geht heuer nicht mehr! Übers Jahr vielleicht.«

»Ei, sieh dir einmal das Buch ein bischen an,« erwiderte sie, »und wenn du's wirklich für der Mühe wert hältst, so werden wir dadurch auch noch nicht an den Bettelstab kommen!«

»Nein, nein, nein!« sagte er eifrig, »es geht nicht! Es ist schon alles bis auf den Pfennig berechnet, was wir dieses Jahr noch brauchen. Es geht nicht, es geht in der That nicht. Ja, wenn der Struwwelpeter nicht schon gekauft wäre! Und wenn nicht, so müßte er doch den Vorrang haben, denn es ist nötiger, daß die Kinder den Struwwelpeter besitzen, als daß ich meine Bibliothek um ein Bändchen Lyrik vermehre. – Aber ansehen will ich mir das Büchlein doch! Ach Gott, eigentlich ist's nicht schön, ein Buch kostnützer zu lesen, wie man bei uns zuhause sagte –«

»Das thun die reichsten Leute,« warf die Frau ein.

»Ja leider,« erwiderte er; »für ein fettes Abendessen geben sie hunderte von Mark aus und laden vielleicht einen Dichter dazu ein, wie sie einen Lohndiener für den Abend in Livree und weißbaumwollene Handschuhe stecken. Das sieht dann vornehm aus, und die Leute erzählen sich, bei Herrn von Mäcenas treffe man die Spitzen der geistigen Aristokratie. Aber den dritten Teil von dem, was eine Flasche Wein an dem Abend kostet, für das Buch auszugeben, das der Dichter kürzlich veröffentlicht hat, fällt den Herrschaften nicht ein. Wenn sie das Buch je lesen wollen, holen sie's in der Leihbibliothek oder aus dem Museum, oder sie lesen's kostnützer, wenns der Buchhändler ihnen zuschickt und wenns unaufgeschnitten geschehen kann. Oder wenns gebunden ist. Schön ist das nicht, wenns auch die reichsten Leute thun. Und unsereins, der so ein Buch gern kaufen möchte, hat kein Geld dazu und liest, wenns gerade geht, eben auch kostnützer. Na, ich bin's gewohnt von Jugend auf; bei uns daheim war der Bücherposten im Haushalt auch klein genug, und bis der Vater die nötigsten theologischen Bücher gekauft hatte, blieb für Dichter nicht mehr viel übrig. Ich bin achtzehn Jahre alt geworden, bis ich nur den Uhland zu Weihnachten bekam.«

Frau Böhringer erwiderte nichts; sie berechnete im Stillen, wie viel sie etwa bis zum Monat Februar, in welchen ihres Mannes Geburtstag fiel, an ihrem Nadelgeld ersparen könne, und nahm sich vor, an jenem Tage den Paulus Wikram ihrem lieben Struwwelpeter auf den Tisch zu legen. Dann gähnte sie ein bißchen, sagte, sie wolle nun zu Bett gehen und den Mann noch eine Stunde ungestört lesen lassen; welche Absicht sie ausführte, nachdem sie ihm noch einmal die Haare gezaust.

Eine Stunde und mehr war vergangen; aus dem Schlafzimmer, dessen Thüre halb offen stand, waren die ruhigen Atemzüge der Schlafenden zu vernehmen, unter des Mannes Hand knisterte leise das letzte Blatt des Buches; er schloß es und legte es mit einem tiefen Aufatmen sachte weg. Dann stand er geräuschlos auf, schritt auf den Zehen zum Fenster, öffnete es behutsam und sah in die milde Herbstnacht hinaus, zwischen hohen dunkeln Giebeln hindurch nach dem Stückchen Bergwald, wo sich einzelne Bäume scharfumrissen von dem ausgehenden Monde abhuben.

»Steigst du endlich, mattes Licht,
Endlich aus den Schattentiefen,
Da die Augen schon entschliefen,
Welche thränenübertaut
Lange nach dir ausgeschaut!
Warum kamst du früher nicht?
Steigst du endlich, spätes Licht?«

Leise sprach er diese Verse vor sich hin, die er eben gelesen und die sein Gedächtnis rasch aufgefaßt hatte, weil sie klangen und weil ihr Klang einen verwandten Klang in seiner Seele geweckt hatte.

Im Zimmer nebenan schrie ein Kind im Traume auf, ein weicher beruhigender Laut aus dem Munde der Mutter antwortete dem Schrei, dann war alles wieder still. Sachten Schrittes schlich der Vater an die Thüre des Schlafzimmers, er horchte eine Weile, aber er hörte nichts mehr als das tiefe, reine Atmen des sorgenlosen Schlafes. Nun schlich er zu dem Schranke, in dem er das Weihnachtsbilderbuch verschlossen hatte, und holte ein anderes Buch in einfach dunklem Lederbande, er trug es zu der Lampe, stellte ein Tintenfaß zurecht und öffnete das Buch. Eine Anzahl Blätter waren von seiner eigenen Hand beschrieben, die übrigen waren leer.

Seit einiger Zeit war Böhringer daran, seine Jugenderinnerungen aufzuzeichnen – wahrlich nicht für den Druck, sondern für seine Kinder, damit sie, herangewachsen, ihre Jugend vergleichen könnten mit der des Vaters. Ein Lächeln ging um seinen Mund, als er nun zur Feder griff und mit klaren, schnörkelfreien Schriftzügen an seinem bescheidenen Werke weiterschrieb:

»So war ich also durchs Examen gefallen. Das hieß für mich: mit dem Studieren war es aus.

»Ich brauche mich nicht vor euch zu schämen, Kinder, daß ich durch dieses Examen gefallen bin. Es sind schon größere Männer durchs Examen gefallen als euer Vater, und in den Büchern der Weltgeschichte steht von Prüfungsnoten herzlich wenig zu lesen; auch meldet das Evangelium nicht, daß wir am jüngsten Tage sollen gerichtet werden nach unserm Examen. Mit jenem Examen aber, durch das ich gefallen bin, hat's noch seine ganz besondere Bewandtnis. Ihr wißt ja so ungefähr, was wir Schwaben unter dem Landexamen verstehen. Das ist das große Sieb, in welches allherbstlich etwa hundert Lateinschüler aus allen Landesgegenden, nachdem sie von ihren Präzeptoren gehörig mürbe geklopft worden sind, mit großem Aufsehen geschüttet werden. Drei Vierteile ungefähr vom Hundert müssen durchs Sieb fallen, sie mögen wollen oder nicht, ein Vierteil bleibt und gilt als würdig, auf öffentliche Kosten in den berühmten Klosterschulen erzogen zu werden; wenn sie alsdann nicht durch ein zweites, aber minder groblöcheriges Sieb fallen, so treten sie in jenes noch berühmtere Stift auf der Landesuniversität ein, über dessen Thoren die Inschrift steht: aus einem Stiftler kann alles werden! Zwar werden die meisten nur, wozu sie das Landesexamensieb eigentlich erlesen hat, nämlich brauchbare Kirchenlichter aus Talg oder Stearin; etliche wenige gedeihen zu Wachskerzen, man nennt sie Repetenten, sie leuchten später als Dekane und Prälaten und unter den anderen gelten sie als die geistige Auslese des Landes. Aber es hat allezeit etliche gegeben – und diese nennt man die mißratenen Stiftler – welche geworden sind, wozu ihnen durch kein Examen das Recht zugesprochen war: berühmte Dichter oder große Philosophen, Mädchenschulmeister oder Gastwirte, Räuber oder Staatsminister, Naturforscher oder Zirkusreiter, Millionäre oder gewöhnliche Lumpen, Ästhetiker oder Pairs von Frankreich. Von dem allem hätte auch ich etwas werden können, wenn ich nicht durchs Landexamen gefallen wäre, denn es hätte meinem Vater nichts gekostet oder wenigstens nicht mehr, als er von seiner bescheidenen Pfarrersbesoldung hätte zur Not erübrigen können. Mich ganz auf seine Kosten studieren zu lassen, daran konnte er nicht denken und so that man mich zur Post, von dort rückte ich weiter zur Eisenbahn und endlich, wie ihr wißt, zum Telegraphen.

»Was ich übrigens hier aufzeichnen wollte, weil mir's nicht ganz unwichtig dünkt, das ist der eigentliche Grund, warum ich durchs Landexamen gefallen, das heißt nicht unter die Auserwählten gekommen bin, welche von da an acht Jahre lang, so oft sie einen dummen Streich machten, väterlich an das Benefizium, zu deutsch: an die Wohlthat erinnert wurden, so ihnen und ihren Eltern von Staats und Kirchen wegen erwiesen werde.

»Ich habe nie zu den Gescheiten gehört, welche durch jedes Examen schlüpfen, auch wenn sie nicht viel arbeiten, ebensowenig zu den Fleißigen, welche sich überall durchzwängen, obwohl sie an der Erfindung des Pulvers und an ähnlichen Kulturfortschritten völlig unschuldig sind. Da ich andererseits, ohne mich zu rühmen, doch weder zu den Dummen noch zu den Faulen mich zählen mußte, so hing alles von dem ab, was die Leute Glück nennen. Was das eigentlich ist, darüber sind schon dicke Bücher geschrieben worden, ohne daß die Menschen dadurch viel klüger geworden wären. Meine Mutter pflegte zu sagen: »Glück? Glück? Was redet ihr immer von Glück? Was der liebe Gott will, das ist Glück, und wofür ihr euch haltet in eurem Herzen.« Sie zitierte gerne ihren Schiller, die brave Frau; den kannte sie auswendig wie die Bibel, und das war ihre ganze Litteraturkenntnis. Ob nun der liebe Gott den Herren Professoren das Aufsatzthema eingegeben hat, das sie uns im Landexamen stellten, wage ich nicht zu entscheiden; und wofür ich mich damals hielt in meinem Herzen, das kann ich nicht mehr so genau angeben. Aber daß jenes Aufsatzthema über meinen ferneren Lebenslauf entschieden hat, steht mir außer Zweifel; freilich kam noch etwas dazu – davon nachher.

»Das Aufsatzthema war: Was heißt, eine harte Jugend haben? Ich glaube, die Gescheitesten unter uns haben einen Augenblick sehr dumme Gesichter gemacht, als dieses Thema gegeben wurde; daß das meinige zu den dümmsten gehörte, davon bin ich aufs innigste überzeugt. So stockstill steht kein Telegraph, wenn die Kette geöffnet ist, wie der Apparat meiner Gedanken stand; wie lang, weiß ich nicht. Es kam in meinem Hirn erst wieder etwas in Gang, als ich bemerkte, daß mein Nachbar, der zuerst wie die andern ins Leere gestiert hatte, plötzlich eifrigst zu kritzeln anfing. Das war ein Büblein aus vornehmem Hause, wie sie zuweilen sich unter die armen Schlucker von Landexaminanden verirren, eines Ministers Sohn – er hat später umgesattelt und ist jetzt ein steinreicher Advokat. Der schrieb fröhlich drauf los, drei Bogen voll in anderthalb Stunden, und hat, wie er mir nachher erzählte, eine gräßliche Schilderung des Elends entworfen, in welchem die Knaben in den Verbrecherhöhlen Londons aufwachsen; er hatte davon in Büchern gelesen, und was ihm nicht im Gedächtnis geblieben war, das ergänzte er aus einer durch allerlei Schaudergeschichten genährten Phantasie. Ich hatte nichts dergleichen gelesen, denn mein Vater war sehr streng in der Auswahl dessen, was wir lesen durften; und meine Phantasie hatte sich seither mehr in Feld und Wald um unser Dorf her als aus den Büchern genährt. Ich starrte immer noch ins Leere oder vielmehr, ich starrte jetzt in mich selbst; ich ließ meine eigene Jugend, soweit ich sie bisher mit dämmerndem Bewußtsein durchlebt, vor meinem Auge vorbeimarschieren in der Hoffnung, vielleicht etwas Hartes daran zu entdecken. Richtig, da war etwas, ein hartes Geschick schlang sich durch meine Jugend, soweit ich zurückdenken konnte, und unwillkürlich fuhr ich mit den Fingern durch den Haarbusch auf meinem Kopfe! Wenn der Haarschneider in unser Pfarrhaus kam, der eigentlich der Küfer und Faßbinder des Weinbau treibenden Ortes war und nur in seinen Mußestunden die edle Kunst des Rasierens und Haarschneidens betrieb – wenn der kam, so alle Vierteljahre einmal, dann glaubte ich mich in der That vom härtesten Geschick verfolgt, das einen Buben treffen kann. Sowie ich seine Ankunft bemerkte, riß ich aus und versteckte mich auf dem obersten Dachboden hinter dem ältesten Gerümpel oder in der entferntesten Ecke des Gartens hinter einem Johannisbeerbusch, zuweilen schlich ich gar durch die hintere Gartenthüre ins Feld und legte mich, wenns gerade Sommer war, wie ein Hase in die nächste Ackerfurche zwischen dem hohen Korn. Es half aber nichts: die Magd und meine Brüder kannten meine Schliche, ich wurde aufgestöbert und im Triumph zum Opferaltar, das heißt auf den Stuhl im Hausgang geschleppt, wo einem um den andern die Haarlocke von dem Priester des Bacchus abgeschnitten wurde. In jüngeren Jahren mit wütendem Geheul, später mit grimmig zusammengebissenen Zähnen mußte ich das Verhängnis über mein Haupt gehen lassen: der haarschneidende Küfermeister stülpte nicht etwa nach dem Brauch der Bauernweiber einen Hafendeckel auf meinen Kopf; vielmehr einen kleinen Reifen aus Birkenholz, sonst zum Binden von Schöpfkübelchen bestimmt, legte er wie einen Lorbeerkranz um mein unberühmtes Haupt, vom Hinterkopf herauf gegen die Stirn, und diesem Kranze folgend zwickte und zwackte die Schere in meinem unbändigen, struppigen Haarwuchs drauf los, als wäre der Gärtner an der Buchseinfassung der Gartenbeete beschäftigt. Für die schlichten Haare meiner Brüder mochte diese Küfermethode noch angehen; in meinem widerborstigen Haarwald entstanden Zustände wie Windbruch im Forst; es that weh und ich kam mir vor wie geschändet.

»Ja, das hieß eine harte Jugend haben. Aber das waren doch nur Stunden, die rasch vorübergingen; und für einen Examenaufsatz wollten mir diese Erinnerungen doch nicht ganz geeignet scheinen. Ich bohrte weiter in die Tiefen meines Gedächtnisses und zauste weiter in meinem Haarschopf. Was hatte ich denn sonst Hartes erlebt? Lateinische Übersetzungen, griechische Verben, ut mit dem Indikativ, Ohrfeigen des Präzeptors, ungehaltene Mienen meines Vaters, wenn ich ein mittelmäßiges Zeugnis nachhause gebracht hatte, Stirnrunzeln der Mutter über zerrissene Hosen – dergleichen schwirrte mir durch den Kopf, aber das taugte ja auch nicht für einen Aufsatz. Plötzlich fiel mir etwas ein, was mir, soweit ich zurückdenken konnte, zum Widerwärtigsten gehörte, fast noch widerwärtiger war als das Haarschneiden; etwas, was zum Glück nicht alle Vierteljahre, sondern nur alle Jahre einmal wiederkehrte, am vorletzten Tage des Jahres: da saßen Vater und Mutter stundenlang über den Haushaltungsbüchern und rechneten und verglichen Rechnungen und rechneten wieder und hatten sorgenvolle Gesichter, und wir Kinder durften kein lautes Wort im Zimmer sprechen und bekamen wegen kleiner Versehen harte Worte, wie wir sie sonst nicht gewohnt waren. Wir begriffen nicht im geringsten, warum das so sein müsse, aber wir spürten den Geist, der durchs Haus ging, den Geist der gemeinen Sorge, der mit seinem schwülen Hauche den Atem beengte und jede Fröhlichkeit und Lebenslust sengte, sogar die Kinderluft ängstigend streifte und frech an die Liebe rührte. Ich haßte förmlich diese Nachmittage und Abende und ich erschrak zuweilen wie über eine Todsünde, wenn ich mich darüber ertappte, daß mein Haß ganz unvermerkt über den Tisch zum Vater hinüberkroch, als wollte er ihm den Rotstift aus der Hand reißen, mit dem er in den langen Zahlenreihen auf- und abfuhr. Und im Bewußtsein dieser sündhaften Regung schrieb ich andern Tags mit besonderer Rührung den üblichen Neujahrswunsch an die lieben Eltern; der bestand zwar nur aus den herkömmlichen Redensarten, aber ich meinte, man müsse es den Zeilen ansehen, daß ich etwas abzubitten habe. Doch, dann war alles wieder vergessen und ein langes Jahr ging hin, bis jene böse Stunde sich wiederholte.

»Ja, liebe Kinder, da war etwas Hartes, und vor euch und eurer Jugend hab' ich kein Buch sorgfältiger verborgen als das Rechnungsbuch. Aber damals im Examensaale wars nur eine Ahnung von der wirklichen Sorge des Lebens, was mein junges Gemüt in der Erinnerung streifte – und für meinen Aufsatz kam ich dadurch um keinen Schritt weiter. Von den wirklichen Entbehrungen, welche die Armut der Eltern ihnen und uns Kindern nicht selten auferlegt hatte, war mir nichts bewußt, nichts im Gedächtnis geblieben. Und je eifriger ich nach Härten und Finsternissen suchte, desto heller und weicher ward es in meiner Erinnerung; da leuchtete und summte es von Sonnenglut und Käferflug aus der Waldwiese, an welcher unser Schulweg vom Dorfe in die Stadt vorüberführte; da schlug der Fink und sprang das Eichhorn und der junge Kuckuck glotzte mit dicken Augen und breitem Schnabel aus dem Nest der Grasmücke, dessen Geheimnis ich vor den Dorfbuben hütete; da prasselten die roten Äpfel von den Bäumen des Pfarrgartens, wenn wir droben saßen und schüttelten, als hätten wir das ganze Paradies zu leeren; da knarrten und dröhnten die Kelterbäume und die alten Reiterpistolen der Bauernbursche knallten im Weinberg und es war ein Stolz, wenn wir Buben selbst eine losdrücken durften; da klirrten und klingelten die Eisenringe an den Bergschlitten, wenn wir über den knisternden Schnee die Steige vor dem Dorfe hinuntersausten und der schwarze Bock des Flickschneiders mitgallopierte; da hagelten die Hiebe wie vor Priamos Burg, wenn wir Lateiner mit den Volksschülern kämpften, da tobte die wilde Räuberjagd durch Garten und Feld um das Pfarrhaus – und das Christkind schlich vorüber und der Osterhas kam gehüpft – und da zog der Herr Professor mit der rotbraunen Perrücke, der das Aufsatzthema gestellt hatte, die dicke Taschenuhr und dumpf tönten durch die Stille des Examensaales seine schrecklichen Worte: »noch fünf Minuten!« Ich aber hatte noch kein Wort auf dem vor mir liegenden Foliobogen, als meinen Namen und das Thema: Was heißt eine harte Jugend haben?

»Noch fünf Minuten! Jetzt klopfte und klapperte es in meinem Schädel wie im großen Saale des Haupttelegraphenamtes, wenn alle Apparate spielen, und vor meinen Augen flimmerte und tanzte es wie nach der riesigsten Ohrfeige, die mir mein Präzeptor jemals verabreicht hatte. Und plötzlich tauchte aus all' dem Geflimmer die Gestalt eines armen, kränklichen Bübleins aus unserem Dorfe, das einen rohen Säufer zum Vater, ein bettliegeriges Jammergestältlein zur Mutter hatte und mehr Schläge als Brot bekam – ich Esel, warum hatte ich daran nicht früher gedacht! Jetzt schnell noch geschrieben, was irgend möglich ist! – Kling, klingeringrrr geht draußen die Glocke, die Zeit ist um, die Bogen werden eingesammelt und einen vernichtenden Blick wirft mir der Herr Professor über seiner Brille zu, als er den meinigen zur Hand nimmt.

»Damit war mein Schicksal entschieden. Nicht, daß man dem Aufsatz einen sonderlich hohen Wert in diesem Examen beigelegt hätte – es war ja nur ein deutscher! Aber meine lateinischen und griechischen Arbeiten hätten einer Unterstützung durch einen guten Aufsatz dringend nötig gehabt. Und in der mündlichen Prüfung begegnete mir noch ein neues Mißgeschick. Mein Vertrauen auf einen günstigen Ausgang war stark erschüttert, und diese Erschütterung äußerte sich vor Beginn der mündlichen Prüfung auf dieselbe Art wie meist meine Gemütsbewegungen: ich zauste so fieberhaft in meinem Haarschopf, daß ich ohne Zweifel dem Struwwelpeter glich wie ein Zwilling dem andern. Und da war ein Professor, der hatte schon in seinem Gesicht etwas, wie wenn er jeden Schüler persönlich hassen würde; der fuhr mich, als er sich zum Fragen vor mich aufpflanzte, plötzlich an: »Kämmt man sich nicht, ehe man ins Examen kommt?« Erstaunt aber bestimmt wie die Unschuld antwortete ich: »Doch, Herr Professor!« »Was, man wird auch noch frech?« fuhr er mich an und wandte sich an einen andern Herrn mit den hörbaren Worten: »Das ist doch derselbe, Herr Kollega, der statt eines Aufsatzes einen leeren Bogen abgegeben hat? Schön, dem wollen wir auf den Zahn fühlen!« Und er fühlte mir aus den Zahn so unsanft, wie der schlimmste Meister Zahnbrech einem Bauern, und mir sauste der Kopf wie demselben Bauern und – kurz, nun war mein Durchfall besiegelt.

»Was aber heißt, eine harte Jugend haben, das hab' ich erst nachher an mir selbst erfahren, hab' ich erfahren, als der Trieb zum Lernen und Studieren, der in dem Knaben geschlummert hatte, in dem Jüngling erwachte, als zwei meiner jüngeren Brüder, welche nicht durchs Examen fielen, Jahr um Jahr und Schritt um Schritt wie von selbst in allerlei Wissenschaften hineinwuchsen und hineinspazierten, die mir simplem Postjüngling verschlossen bleiben sollten; als die Lust zum Leben sich mächtiger regte, zum Genuß des Lebens, wie er das Recht der Jugend scheint, während ich nach des Vaters plötzlichem Tode mir die Pfennige am Munde absparen mußte, um der Mutter zu helfen, daß sie sich und die jüngeren Geschwister in Ehren durchbringe – da hab' ich's erfahren, was es heißt, eine harte Jugend haben! Aber jetzt war's zu spät, den Aufsatz zu machen, der mir die bittere Erfahrung hätte ersparen können, wenn – ja wenn ich die Erfahrung vorher gehabt hätte, welche die Herren Professoren bei mir vorauszusetzen beliebten. Wie konnten sie auch wissen, daß ich Unglücksvogel mühselig in meiner eigenen Erfahrung stöbern werde, statt Bücherweisheit nachzuschmieren wie mein flotter Nachbar und andere treffliche Knaben! Sie hatten's ja selbst nicht anders gelernt.

»So viel an mir liegt, liebe Kinder, möchte ich euch eine freundlichere Jugend schaffen. Glaubt aber nicht, daß ich jetzt, da es überstanden ist, meine harte Jugend allzusehr betraure. Sie hat mich manch' bittere Verleugnung gekostet, aber ich habe beizeiten gelernt, mich selbst und das Leben zu bezwingen. Und ich habe doch manchen Blick gethan in die Welt, wie sie ist, und in allerlei Wissenschaften. S' ist mir oft sauer genug geworden, bei Nacht über den Büchern zu sitzen, nachdem ich bei Tage strengen Dienst gethan; und ich weiß nicht, ob meine Brüder aus der Hochschule so hart wie ich am Studium gesessen sind. Ich hab' auch oft genug die Nase drauf stoßen müssen, daß der Mensch mit aller Bücherweisheit noch nicht gescheit wird, und daß ein Körnlein eigener Lebenserfahrung mehr wert sein kann, als ein Berg gelehrten Wissens. Aber ich hab' doch offene Augen bekommen für das, worauf ein Mensch achten soll, was ihn freuen und trösten kann in der Mühe seines Lebens; und wenn ich auch vieles nicht weiß, was ich wissen möchte, so weiß ich doch das Eine: worauf es in allem ankommt; und daß meine Mutter Recht hatte mit ihrem Sprüchlein: Glück ist, was der liebe Gott will und wofür wir uns halten in unserem Herzen!

»Und solch Glück ist zu haben in jedem Beruf. Am schwersten mag's für die Künstler und Dichter zu finden sein. Auch aus ihren schönsten Werken weht mich immer etwas an wie eine tiefe Trauer, und ich habe schon Gott gedankt, daß er mir in meine harte, dürre Jugend nicht auch noch den verzehrenden Funken des Talentes geworfen hat. Auch die Anlage zum Philister kann eine Gabe Gottes sein für den, der sie mäßig zu brauchen versteht, und keine rechtschaffene Thätigkeit ist so philisterhaft, daß sie dem Menschen nicht ein Fensterlein ließe, aus dem er ins Weite schauen kann.

»Wie eintönig klappern die Drücker im Telegraphensaal, wie gleichgültig gleiten die Papierstreifen über die Rollen, wie mechanisch arbeiten die Stifte! Wie nüchtern muß der Telegraphist seinen Dienst thun, wie peinlich akkurat! Und doch zieht eine Welt an seinem Auge vorüber, so reich und weit wie nur eine. Ein Erstgeborner schreit in der Wiege, ein Kaiser steigt in den Sarg; ein Staatsmann redet im Parlament, ein Mädchen giebt dem Freier ihr Ja; eine Schlacht ist gewonnen, ein Vermögen verloren; beim Festmahl klirren die Gläser, im Erdbeben sinkt eine Stadt; ein morscher Thron ist im Wanken, ein faules Papier ist gestiegen; zehntausend Arbeiter feiern, ein neuer Bacillus ist entdeckt. Vom wilden Westen Amerikas kommt eine Meldung, nach dem fernen Osten Asiens geht die andere; von Afrikas Küste kommt diese, nach Dingsdahinten geht jene. Dies Nein wirft einen Wald von Hoffnungen nieder; ich komme, meldet der Draht und in heimlichem Glücke erblüht ein Herz. Völker zittern über drei Worten, fluchend über einer langen Rede gähnt ein geplagter Zeitungsschreiber; ein Wort der Verzweiflung fliegt dahin, ein schlechter Witz dorthin. Aus der Weite in die Enge, aus dem Winkel über den Ozean, aus dem Sterbekämmerchen in die Zukunft der Menschheit, aus dem Völkerkampf in ein stilles Menschenherz fliegt abwechselnd der Blick, während die Hand mechanisch die Kette öffnet und schließt.«

Soweit schrieb der Telegraphenbeamte. Dann sah er auf seine Taschenuhr, zog sie sorgfältig auf, rückte ein wenig am Zeiger, der die Mitternachtsstunde überschritten hatte, verschloß sein Buch in den Schrank, wo der Struwwelpeter lag, und suchte seine Ruhe.

Paulus Wikrams »Phaläna« aber kehrte andern Tags in die Holdersche Buchhandlung zurück.


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