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Die leichte Spannung zwischen Werbelin und Swemelin, welche Fräulein Emma Kluge ohne ihr Wissen verschuldet hatte, war schon wieder gelöst. Swemelin, welcher sehr offenen Herzens war, hatte sich durch die Einsilbigkeit seines Freundes nicht abschrecken lassen, auf sein kurzes Geständnis zurückzukommen und ihm ein ausführliches Bekenntnis seiner höchst ernsthaften Liebesneigung zu der Gesellschafterin der Frau von Nowikoff nachzuschicken. Er hatte dies Bekenntnis mit allerlei Nachdenksamkeiten über Liebe und Ehe verbrämt, welche ihren Ursprung aus modernen Romanen und Dramen nicht ganz verleugnen konnten. Trotzdem handelte es sich um eine höchst einfache Liebesangelegenheit, welche sich ebensogut vor fünfzig oder achtzig Jahren hätte ereignen können, als die neuesten Lehren über diese alten Dinge noch nicht entdeckt waren. Bei dem Sommerausflug eines Gesangvereins hatte Swemelin das Fräulein kennen gelernt, er hatte sie auf allerlei Pilzherrlichkeiten aufmerksam gemacht und wohlwollendes Verständnis bei ihr gefunden. Das hatte genügt, ihn von ihren Verstandsgaben zu überzeugen. Auf demselben Ausflug hatte sie ein armes Büblein, das in einen schwarzgrünen Dorfweiher gefallen war, mit raschem Griff und unter namhafter Beschmutzung ihrer Kleider herausgezogen, es seiner Mutter gebracht, eigenhändig ins Bett gelegt und dann noch mit einem Silberstück beschenkt. Das sprach für ihr gutes Herz. Von einer bekannten Frau, die mit Emma Kluge befreundet war, hatte er gehört, wie wacker sich das elternlose, unbemittelte Fräulein durch die Welt schlage, und er hatte an ihren Charakter und ihre Lebenstüchtigkeit geglaubt. Im übrigen hatte er sich in die immer noch sehr hübsche Person mit den üppigen Blondhaaren ganz einfach schon auf jenem Ausfluge verliebt, was für sein Herz gerade kein Kunststück war; hatte seine Verliebtheit bei einigen Besuchen des Fräuleins im Buchladen und bei zeitweiligen Begegnungen auf der Straße genährt und war nun willens, Gelegenheit zu näherer Bekanntschaft und daraus folgender Knüpfung eines Herzens- und Ehebundes zu suchen.
Freund Werbel schien, nachdem Schwämmel sein Herz völlig ausgeschüttet hatte, das alles ganz in der Ordnung zu finden. Er sprach zwar auch diesmal nicht eben viel, aber was er sagte, klang zustimmend und aufmunternd und hatte keine sarkastische Spitze. Nur auf die Frage Swemelins, was er von seinen Aussichten halte, antwortete er in etwas scharfem Tone, das müsse ein rechtschaffener Liebhaber selbst wissen. Aus keinem Wort und aus keiner Miene aber hätte Swemelin die Ahnung schöpfen können, daß sein Freund an dieser Angelegenheit noch mit anderen Gefühlen beteiligt sei, als mit denen, welche einem braven Freund in solchem Falle ziemten. Er wäre auch der erste und einzige gewesen, dem Werbelin gestanden hätte, daß ihm vor Jahren eine heftige Leidenschaft das Herz zerzaust hatte, daß es ihn damals die Aufwendung aller Willenskraft und Selbstironie gekostet hatte, um nicht mit seiner körperlichen Mißgestalt in eine ganz lächerliche Freiersrolle zu verfallen, und daß das schöne, damals noch recht übermütige Mädchen, das ihm solchen Sturm in die Seele gebracht, Emma Kluge geheißen hatte. Das war dazumal gewesen, als Werbel das erste und einzige Mal in der Fremde gewesen war; nach seiner Rückkehr hatte er sich ein für allemal mit dem Hauptbuche der Holderschen Buchhandlung verlobt.
Was der stattliche Herr Schwämmel gefühlt oder gesagt hätte, wenn ihm diese Thatsache kund geworden wäre, ist so unsicher wie manches Wenn und Aber. Für jetzt war die Eintracht zwischen den Freunden wieder in ungestörtem Flore, und es war höchste Zeit dazu. Denn der November schnitt ein so griesgrämiges Regengesicht, daß eine unsichere Laune für Menschengemüter doppelt gefährlich sein mußte. Tag für Tag hingen die Regenseile von den schmutzigen Wolken auf die schmutzige Erde, wahre Strickleitern, an denen die Verdrießlichkeit auf- und abklettern konnte nach Herzenslust. Sogar der immer freundliche und vergnügte Herr Karl August Holder war so unwirsch, wie er als wohlgestellter Lebenskünstler nur irgend sein konnte. Zu seiner Entschuldigung diente freilich, daß er an dem letzten sonnigen Tage den ihm bestimmten Korb von Maja Williards säuberlich nach Hause getragen hatte. Im Buchladen wußte aber selbstverständlich niemand davon und man konnte es nur dem schauderhaften Wetter auf die Rechnung schreiben, daß Herr Holder in ganz ungewohnter Weise im Geschäft herumwirtschaftete, in verächtliche Kleinigkeiten seine wohlgebildete Nase steckte und manches sogar besser wissen wollte als sein sonst allmächtiger und unfehlbarer Werbelin.
»Was ist's denn da mit den neuen Gedichten? Warum stehen sie hier müßig vor Weihnachten? Warum werden sie nicht zur Ansicht versendet?« fuhr er eines Tages Swemelin an.
Swemelin erlaubte sich zu bemerken, das Buch von Paulus Wikram sei schon wiederholt versandt worden, aber niemand habe es behalten; es sei eben Lyrik. Er solle nicht unnütze allgemeine Bemerkungen machen, erwiderte Herr Holder scharf; Lyrik oder nicht – ob das Buch schon bei Kommerzienrat Wullenweber gewesen sei? Nein, antwortete Schwämmel erklecklich kleinlauter als vorher, Werbel aber warf einen unverfälschten Satyrblick auf beide. »Also sofort schicken!« befahl Herr Holder. Als Schwämmel sich noch die Bemerkung gestattete, die Austrägerjungen seien alle schon unterwegs, wiederholte Holder eigensinnig: »Ich sage: sofort! Wie Sie das machen, ist mir gleichgültig!« Damit ging er starken Schrittes in sein Privatheiligtum neben dem Buchladen und schlug die Thüre hinter sich zu.
Werbelin und Swemelin sahen sich an; in des Buckligen Blick lag unverhohlene Schadenfreude, Swemelin putzte in ärgerlichem Eifer die Gläser seines Zwickers. »Wen, in's Teufels Namen, soll ich denn schicken?« knurrte er.
»Dort draußen treibt sich Camilla herum,« sagte Werbelin mit einem Wink nach der Glasthüre, welche aus dem Laden in den Bücherpackraum führte. »Sei liebenswürdig, dann geht sie.«
»Bei diesem Wetter?« brummte Swemelin, legte aber doch sein Gesicht in freundliche Falten, öffnete die Thüre halb und rief hinaus: »Camilla, kommen Sie einen Augenblick!« Darauf schritt er gemessen zu seinem Pulte zurück.
Es dauerte eine kleine Weile, dann guckte ein frischer Mädchenkopf mit pechschwarzen Haaren und Augen neugierig durch die Glasthüre und gleich darauf schob sich ein Persönchen herein, mehr rund und untersetzt als schlank, aber von zierlicher selbstbewußter Beweglichkeit. Sie trug Ohrgehänge von roten Korallen und hatte ein buntes Tuch um die vollen Schultern geschlagen; sie stemmte die Arme leicht in die Hüften und pflanzte sich halb trotzig, halb gefallsüchtig vor Swemelin auf.
»Was befehlen der Herr?« fragte sie mit einem leichten Knix und zeigte Zähne von einer nicht landesüblichen Weiße und Gesundheit.
»Sie könnten einen Ausgang machen, Camilla,« sagte Swemelin würdig, aber freundlich. Camilla sah auf ihre zierlichen Stiefelchen hinunter und zuckte die Achseln.
»Sie haben jetzt doch nichts zu thun, als Ihren Vater beim Packen zu hindern,« fuhr Swemelin fort.
»Woher wissen Sie das?« war ihre schnippische Antwort.
»Das ist gut wissen,« erwiderte Swemelin lachend, »man kennt Sie!«
Camilla drehte sich kurz auf den Hacken und wollte abmarschieren.
»Keine langen Umstände!« mischte sich jetzt Werbelin in diese liebenswürdige Unterhaltung. »Sie gehen jetzt ohnedies nach Hause, Camilla, und Ihr nächster Weg führt Sie durch die Breitestraße. Also thun Sie gefälligst, um was man Sie bittet, und geben Sie ein kleines Bücherpaket in Nummero zwölf ab.«
»Meinethalb, wenn Sie mich drum bitten,« sagte nun Camilla, den Schritt anhaltend, lehnte sich nachlässig an einen Bücherkasten und ließ die Blicke neugierig in dem Laden umherschweifen, während Paulus Wikrams »Phaläna« zusammengepackt und an Herrn Kommerzienrat Wullenweber adressiert wurde. Dann nahm sie das Päckchen in Empfang, beguckte es von allen Seiten, machte einen Knix gegen den Rücken Werbelins, warf Swemelin einen hochmütigen Blick zu und trollte sich langsam. Einige Minuten nachher sah man sie über den regennassen Marktplatz steigen, die Röckchen geschürzt, ein umfangreiches Regendach aufgespannt.
»Kröte!« brummte Swemelin über sein Pult weg. Die schwarze Kröte hieß mit ihrem vollen Namen Camilla Weiß und war die eheliche Tochter des »Papa Weiß,« des Bücherpackers und Magazindieners in der Holderschen Buchhandlung. Dieser hatte seinerzeit die Witwe eines italienischen Maurers geheiratet, der vom Gerüst zu Tode gefallen war; das war Camillas Mutter gewesen; sie war aber inzwischen ihrem ersten Manne nachgestorben und Papa Weiß hatte sich zum zweiten Male mit einer Landsmännin verheiratet. Camilla hatte eine stattliche Reihe von jüngeren Halbgeschwistern, und obwohl sie von ihrer Stiefmutter nicht gerade schlecht behandelt wurde, so machte diese doch keinerlei Hehl aus der Meinung, Camilla möge auf Grund ihres hübschen Lärvchens beizeiten dafür sorgen, daß sie unter die Haube und den Eltern aus dem Brot komme. Die Erziehungskünste der Stiefmutter bewegten sich denn auch vorzugsweise auf der Linie dieser Meinung, und da der Vater nicht eben viel Macht über seine älteste Tochter hatte, so war Camilla mit siebzehn Jahren ein völlig ausgewachsenes Kokettlein geworden. Schön war sie in ihrer Art, das ließ sich nicht leugnen, und einer Reihe von jungen Männern aus verschiedenen Ständen fiel es auch gar nicht ein, das leugnen zu wollen. Doch konnte sich keiner rühmen, in mehr als ganz flüchtigen Beziehungen zu ihr gestanden zu haben, und obwohl sie ein stadtbekanntes Persönchen war, war doch ihr Ruf so sauber wie ihr Gewand. Als ihr Vater es einmal für nötig gefunden hatte, deutsch mit ihr zu reden und sie ganz unverblümt vor allerlei Gefahren zu warnen, welche einem jungen Mädchen von ihrer Art drohen können, hatte sie ihm ebenso unverblümt geantwortet: sie wisse das alles sehr gut und habe nicht die geringste Lust, sich verführen und anführen zu lassen; was sie wolle, sei: so bald als möglich heiraten und zwar einen reichen Mann, bei dem sie's gut habe und nicht arbeiten müsse; Arbeit sei eine dumme Erfindung und die Schönheit sei einem Mädchen dazu gegeben, daß sie sich eine bequeme Ehefrauenhaube darum kaufe. Alles andere werde sich finden; sie wisse auch schon, wer sie heiraten müsse.
Mit solcher Lebensphilosophie hatte sie sich bisher in Ehren durchgebracht, zum großen Ärger verschiedener eleganter Herrlein, und seit etlichen Wochen hatte sie in der That einen Bräutigam; war auch die Verlobung noch nicht öffentlich erklärt, so hatte der junge Mann doch in aller Form bei ihren Eltern um sie angehalten. Das war der erste Arbeiter in der Buchbinderei des Herrn Schönfisch, er trug den schönen Namen Ottomar und gehörte der weitverbreiteten Familie Meyer an. Seine Eltern waren sehr wohlhabende Bürgersleute in einem benachbarten Städtchen; Herr Schönfisch hatte vor kurzem die Absicht ausgesprochen, sich zur Ruhe zu setzen und das einträgliche Geschäft an Ottomar Meyer abzugeben. Freilich war dabei der Gedanke mituntergelaufen, daß Ottomar Fräulein Marguerite Schönfisch heiraten werde, die älteste Tochter des Buchbindermeisters, welche seinem Laden in der Breitenstraße vorstand und dort bei mäßiger Schönheit eine bekannte elegante Figur machte. Auch war Ottomar selbst diesem Gedanken eine Zeit lang nicht ferne gestanden, bis er sich in die schöne Camilla so gefährlich verliebt hatte, daß er Stein und Bein schwur: diese und keine andere! Camilla hatte mit scharfem Blick die Gelegenheit erkannt, ihre Philosophie praktisch zu machen, und hatte all' ihre Künste des Gefallens aufgewendet, um Ottomar zeitig zu einer soliden Erklärung anzuleiten. Nur ein Haken war noch dabei: von Ottomars Eltern war nicht zu erwarten, daß sie ohne weiteres ihren Segen geben werden. Er wollte die günstige Gelegenheit abwarten, die Eltern geneigt zu stimmen, und deswegen sollte die Verlobung vorläufig noch geheim gehalten werden. Papa Weiß zwar hatte seine stillen, nicht ungerechtfertigten Bedenken, aber der brave Mann hatte seiner Frau und Tochter gegenüber längst das Heft aus der Hand gegeben und mußte sich brummend fügen.
Nun also trippelte und stelzte Camilla unter ihrem Regenschirm über das regenzerwaschene Pflaster, das Bücherpäckchen unter den Arm geklemmt, mit welchem sie den Schirm hielt, während sie mit der andern Hand ihre Röckchen regierte; sie hüpfte manierlich über kleine Pfützen und besah zuweilen ihre Stiefelchen, ob sie nicht gar zu schmutzig würden. Aber sie ging nicht auf dem nächsten Wege der Breitenstraße zu sondern schlug sich bald in Nebengäßchen und stand in kurzem vor dem Hause des Buchbinders Schönfisch in der Froschgasse, wo sich die Werkstätte befand. Sie schien einen Augenblick zu überlegen, ob sie weitergehen solle oder nicht ein Bub von fünf Jahren patschte seelenvergnügt vor der Hausthüre im Regen herum, trat mit seinen neuen hohen Stiefeln in eine Wasserlache und bespritzte leider Camillas Kleiderzeug noch etwas derber, als dies vorher schon der Regen gethan hatte. Camilla rief ihm ein nicht eben zartes Schimpfwort zu und der Bub, sich keiner Unthat bewußt, sah sie mit großen Augen an. Er gehörte aber dem Telegraphisten Böhringer, und das Unglück wollte es, daß in demselben Augenblick der Herr Lehramtskandidat Hellwachs aus dem Hause trat. Sein scharfer Pädagogenblick hatte sofort die jugendliche Schandthat entdeckt, und er hielt auf der Stelle eine kleine, aber wohlgesetzte Strafrede, welche begann: »ei du ungezogenes Früchtchen!« – und schloß: »doch das sind die Folgen der Struwwelpetererziehung!« Kaum aber hatte besagtes Früchtchen das letzte Wort gehört, als es fröhlich wie die Unschuld selber in die Hände klatschte und rief: »ja, gelt? Das Christkind bringt einen neuen Struwwelpeter! Ich weiß schon! Der Papa gesteht's nur nicht!« Und mit einem Satz war der Kleine im Hause und polterte eifrigst mit seinen Stiefeln die Treppe hinauf. »Ich bedaure unendlich –« wandte sich nun Herr Hellwachs mit höflichem Ton an Camilla, diese aber schnitt ihm die Rede ab mit der schnöden Bemerkung: »was haben denn Sie zu bedauern? Sie sind doch wohl nicht der Vater dazu?« Damit schlüpfte sie an ihm vorbei ins Haus und schloß ihr Regendach, während Herr Hellwachs eiligst das seinige aufspannte und in der Überzeugung von dannen ging, daß ihm und seinen jungen Kollegen noch Riesenaufgaben bevorstehen, wenn die bisher so unverantwortlich vernachlässigte allgemeine Volksbildung zur Wahrheit werden solle.
Camilla trat ohne viel Umstände in die zu ebener Erde gelegene Buchbinderwerkstätte. Es war ein langer schmaler Raum mit vielen Fenstern auf der einen Langseite, vor denen sich Arbeitstisch an Arbeitstisch reihte; es roch nach Leim und Kleister, nach Juchten- und anderem Leder, von viel grauem Pappendeckel hob sich buntes Papier, Goldschaum und blankes Messerzeug ab, etliche Maschinen und Pressen machten einen bescheidenen Lärm und ein halbes Dutzend Köpfe oder mehr wandten sich neugierig oder lachend nach dem eintretenden Mädchen. Camilla ließ einen einzigen kecken Blick über die meist jungen Männergesichter schweifen, dann steuerte sie, ohne rechts oder links zu sehen, auf einen Tisch in der Mitte der Reihe los, an welchem ein schlanker blonder Krauskopf mit wohlgepflegtem Bärtchen stand. Das war Ottomar Meyer und in seinen Mienen kämpfte sichtlich angenehme mit unangenehmer Überraschung. Ehe jedoch seine holde Braut ganz an seine Seite gelangt war, trat ihr Herr Schönfisch selber in den Weg, und den langen grauen Bart zwirbelnd fragte er nicht besonders freundlich, was die Jungfer wünsche? Ein ganz klein bißchen Verlegenheit und nicht wenig Trotz spielte wechselnd in den schwarzen Augen und um die vollen Lippen Camillas, dann setzte sie zum Sprechen an mit einem Blick auf Ottomar, der diesem zu bedeuten schien, sie werde sich jetzt ohne weiteres als seine Braut vorstellen; er fuhr, seinerseits verlegen, durch die krausen Haare und senkte den Blick auf den nahezu fertigen Buchdeckel, den er unter den Händen hatte. Camilla aber hatte mit raschem Blick diesen Deckel erspäht, eine Ähnlichkeit war ihr aufgefallen mit dem Einband des Buches, das man ihr vorhin in der Holderschen Buchhandlung eingepackt hatte, und plötzlich das harmloseste Gesicht von der Welt aufsetzend sagte sie: »ich soll fragen, ob man hier auch solche Einbände machen könne, wie den da!« Damit schlug sie ohne weiteres das Papier auseinander, in dem Paulus Wikrams Gedichte verwahrt waren, und hielt das Buch Herrn Schönfisch unter die Nase. »Ahem, da haben wir ja beispielsweise das Original!« sagte dieser, griff eilig darnach und betrachtete den Einband mit Kennerblick von allen Seiten. »Ob wir das auch machen können?« fragte er dann selbstbewußt. »Ich dächte, mein schönes Kind! Und zwar noch besser und solider! Zum Exempel – da, sehen Sie!« Er wies auf die Arbeit in Ottomars Händen und erging sich gegen diesen, ohne Camilla weiter zu beachten, in allerlei bösen Bemerkungen über die lüderliche Art, in welcher der Einband dieses Buches gemacht sei. Während er im schönsten Eifer war, hob sich Camilla auf den Zehen, als wolle sie über die Schultern Ottomars weg die Gegenstände für Herrn Schönfischs sachverständige Vergleichungen ebenfalls beaugenscheinigen – »also heut Abend punkt acht Uhr ins Kasino!« flüsterte sie dem Bräutigam ins Ohr und stand aufs neue mit harmlos einfältigem Gesicht vor dem Buchbindermeister, als dieser sich wieder zu ihr wandte und nochmals versicherte, daß er noch ganz andere Arbeit liefern könne, als diese Pfuscher- und Fabrikware, bei der's nur um die hübsche Zeichnung schade sei. Und ehe Herr Schönfisch drangekommen war, zu fragen, wer denn sich darnach erkundigen lasse, hatte sie rasch das Buch wieder an sich genommen, gewandt ins Papier geschlagen und lief spornstreichs und ohne sich umzusehen, aus der Werkstatt. Der Meister sah ihr halbverdutzt nach und fragte dann seinen ersten Gesellen, ob er vielleicht wisse, wer dieser hübsche Racker sei? Ottomar gab so unbefangen und gleichgültig als möglich notdürftige Auskunft und hörte mit höchstem Mißvergnügen, wie einige andere Arbeiter ihre Bemerkungen über den Fratzen machten, den ja jedermann kennen müsse. Er ging in der nächsten Stunde nicht besonders freundlich mit dem Prachtstück um, das er für die Bibliothek der Frau von Nowikoff fertig zu stellen hatte.
Camilla aber stiefelte nun in der That nach der Breitenstraße. Der Regen hatte merkwürdigerweise ein wenig nachgelassen, an einer schmutzig graugelben Stelle in dem riesigen Wolkenpflaster droben konnte man so etwas wie die Sonne vermuten. Das Haus Nummero zwölf, auf welches Camilla zuging, war durch einen breiten Garten mit alten Bäumen von der Straße getrennt und stach mit seiner schlicht altväterischen Bauart vornehm ab von den Handelspalästen neuester Mache, welche in ihrer aufdringlich überladenen Stilhascherei diese Hauptstraße entlang standen, wie durch Börsenschwindel emporgekommene Geldprotzen neben einem einfachen Großkaufherrn altgediegenen Schlages. Ein solcher Herr war der Kommerzienrat Wullenweber selbst, und wer seine Bibliothek aus eigener Anschauung kannte wie Karl August Holder, der konnte wohl auf den Gedanken kommen, ihm das Buch eines unbeachteten Lyrikers zum Kauf anzubieten. Der alte feingebildete Herr wußte auch in der Litteratur die preiswürdige Ware vom Schwindelfabrikat zu unterscheiden. Übrigens war er etwas unberechenbar, mit zunehmendem Alter zuweilen grillig und litt an vereinzelten Anfällen von Jähzorn, die ihn manchmal zu sonderbaren Thaten und Urteilen verführten.
Erst kürzlich war ihm ein Unglück dieser Art zugestoßen. Der staubaufwirbelnde Roman des berühmten und beliebten Erzählers, welchen der Kommerzienrat sich persönlich in der Holderschen Buchhandlung erbeten hatte, war richtig eingelaufen; es hatte gar nichts geschadet, daß dem Kommerzienrat der Name des Verfassers entfallen war; Herr Schwämmel hatte einfach alle die neuen Romane geschickt, deren Verfasser sich alljährlich vor Weihnachten einem staunenden Publiko mit einem unübertrefflichen Meisterwerk in empfehlende Erinnerung zu bringen pflegten. Da war natürlich auch der Gesuchte darunter, der Kommerzienrat erinnerte sich des Namens wieder und hatte sich eben behaglich zu seinem Sonntagnachmittagskaffee gesetzt und das Buch zur Hand genommen, um zu sehen, ob er nicht doch mit Unrecht sich bis dahin der Anbetung dieses Götzen geweigert habe. Da besuchte ihn ein Herr, ein gleichfalls vielgenannter Schreibekiel, vor dessen Urteil über Musik, bildende Kunst, Poesie und Damentoiletten alle Welt eine scheue Ehrfurcht hatte, weil er eben einmal, kein Mensch wußte warum, für eine unbedingte Autorität galt und mit seinen fünfzig Jahren schon einen sehr ehrwürdigen langen weißen Bart zu tragen im stande war. Der Kommerzienrat Wullenweber freilich zählte zu den wenigen, welche den Mann nicht leiden konnten und ihn für einen unverschämten Schwätzer, flachen Schmierer und charakterlosen Günstlingszüchter hielten. An jenem Sonntagnachmittag kam er, um den Herrn Kommerzienrat zum Ankauf eines Bildes zu bewegen, das ein frecher Pinsler der allerneuesten Schule mit verblüffender Wirklichkeitstreue auf eine unverschämt große Leinwand geölt hatte. Der alte Herr hörte die Auseinandersetzungen des Kunstrichters schweigend an, aber in seinem glatten Gesicht begann schon eine Röte sich zu bilden, welche Näherstehende als ein bedenkliches Wetterzeichen kannten. Als nun der Kunstpfaffe gegen das Ende seiner salböltriefenden Rede sich plötzlich unterbrach, nach dem Roman aus dem Tische des Kommerzienrates griff, einen Blick auf den Rücken des Einbands warf und in wohlwollendem Tone bemerkte: »ah, der Herr Kommerzienrat schwärmen auch für dieses gewaltige Werk!« – da brach bei dem Kommerzienrat jählings das Wetter los. »Herr,« fuhr er auf, »ich schwärme überhaupt nicht. Und wenn Sie – wenn Sie das ein gewaltiges Werk nennen, und dies in demselben Atem, in welchem Sie mir gemalten Pferdedünger in Überlebensgröße als Kunstwerk aufschwatzen wollen, dann soll der Teufel das Buch da lesen!« Sprach's, sprang auf und warf den Roman durch das offene Fenster in den Garten, wo gerade eine Freundin seiner Tochter lustwandelte, eine angegeistete verblühte Jungfrau; der fuhr das gewaltige Werk in das Blumengemüs ihres Kutschendeckelhutes, daß die Arme wie totgeschossen zusammenbrach. Dann lud Herr Wullenweber seinen Besuch mit einer so deutlichen Handbewegung zum Abmarsch ein, daß diesem nichts übrig blieb, als den Wink zu verstehen und sich hinfüro an dem Leumund des Kommerzienrates schadlos zu halten. Der geistreichen Jungfrau hatte der Roman zum Glück weder am Leib noch an der Seele geschadet, aber für den Kommerzienrat erwuchs aus der Sache eine böse gesellschaftliche Verlegenheit und der berühmte Verfasser des Romans war für ihn nicht mehr vorhanden. Das war noch nicht lange her und schon wieder drohte dem alten Herrn eine ähnliche Prüfung.
In dem Augenblicke, als Camilla auf das alte schmiedeiserne Thor losging, das den Wullenweberschen Garten gegen die Breitestraße abschloß, saß der Kommerzienrat am Fenster seines Arbeitszimmers, in Tabellen und statistische Aufzeichnungen vertieft. Es handelte sich um eine vielbesprochene neue Maßregel zum Besten des Standes der Lohnarbeiter; der Kommerzienrat stand derartigen Bestrebungen nicht nur wohlwollend gegenüber, sondern er beteiligte sich an ihnen mit Wärme und Hingabe, zugleich aber mit sorgfältiger Prüfung aller Einzelfragen. Er war der Meinung, es dürfen hier nicht zeitweilige Gefühlsaufwallungen entscheiden, nicht Furcht oder Hoffnung; vielmehr Recht und Billigkeit, Anspruch und Leistung müsse sorgfältig abgewogen werden, damit man zu dauernden Einrichtungen und Besserungen komme, statt Pflaster zu streichen, die nur ziehen aber nicht heilen. Und soweit er den berechtigten Wünschen der Arbeiter entgegenzukommen gewillt war, so haarscharf suchte er die Grenze zu ziehen, über welche hinaus das Aufgeben wohlbegründeter Rechte und Ordnungen gemeinschädliche Schwachheit wäre. Aber je mehr er sich in die Sache vertiefte, je gewissenhafter er nach jener Grenze forschte, desto mehr verwickelten und verknäuelten sich ihm die Fragen und er hatte Stunden, in denen er an einer gedeihlichen Lösung zu verzweifeln geneigt war und trübgestimmt in eine unklare Zukunft sah.
In solcher Stimmung war er auch jetzt. Mit halbem Ohr hörte er die schwere Gartenthüre gehen und wieder ins Schloß fallen; bald darauf hörte er einen zornigen Anschlag seines Hofhundes, dann den Aufschrei einer weiblichen Stimme, er erhob sich unwillig und schaute durchs Fenster und sah eben noch, wie die große Dogge auf ein Mädchen lossprang, das vergeblich den geöffneten Schirm vorhielt; der Schirm flog zerfetzt aus ihrer Hand und des Hundes Rachen fuhr nach dem Gesicht des Mädchens. Der Kommerzienrat riß das Fenster auf und ließ einen scharfen Pfiff ergehen: der Hund ließ für den Augenblick von dem Mädchen ab, dem schon das Blut über die Wange strömte. Der Kommerzienrat eilte hinunter in den Garten.
Auf einem Rasenfleck abseits von dem kiesbestreuten Hauptwege des Gartens war eine jener spiegelnden Glaskugeln aufgestellt, welche in der Regel im Winter aus den Gärten weggenommen werden, hier aber noch dem Novemberwetter ausgesetzt stand. Camilla, langsam und neugierig durch den Garten stapfend, hatte die Glaskugel bemerkt, war über den Rasen zu ihr getreten und hatte sich den Spaß gemacht, in den regenbetropften Spiegel Gesichter zu schneiden, nebenbei auch ihren Anzug ein wenig zu mustern, so verschoben sich dieser in der Kugel ausnahm. Dann hatte sie mit dem Griff ihres Schirmes einen koketten Stoß gegen ihr eigenes Gesicht geführt, der Stoß war ungeschickt und zu stark ausgefallen und die Kugel war klirrend vom Gestell gestürzt. In diesem Augenblick war der Hund, der sonst auf der Rückseite des Hauses angekettet lag, um die Ecke des Hauses gekommen und hatte in mißverstandenem Pflichteifer seinen Angriff auf die fremde Person unternommen.
Als der Kommerzienrat im Garten anlangte, waren schon der Kutscher und der Gärtner herbeigelaufen, der eine hielt den Hund am Halsband, der andere stützte die halb ohnmächtige Camilla, deren eine Gesichtshälfte eine klaffende Wunde aufwies. In des Kommerzienrats Gesicht waren die Zornadern geschwollen und mit Mühe und Not beherrschte er einen jähen Ausbruch. Sein erstes war, daß er dem Kutscher befahl, den Hund sofort totzuschießen, dann hieß er ein gleichfalls herbeigeeiltes Stubenmädchen Camilla ins Haus bringen und nach einem Arzte schicken. Während dies geschah, hatte der Gärtner schon seine Entlassung, weil er den Hund zur Unzeit von der Kette gelassen hatte; und nachdem ein zufällig auf der Straße vorübergehender Arzt rasch angehalten und zu der Verwundeten geführt worden war, stand der Kommerzienrat mit rollenden Augen am Fenster und sah zu, wie der Arzt die Wunde untersuchte und ihr die erste Behandlung angedeihen ließ. Noch immer war der alte Herr seines Zornes soweit mächtig, daß er ihn gegen nichts richtete, was mit dem Unfall nicht in nächster Beziehung stand. Aber sein Zorn wurde unterhalten und verschärft durch die naheliegende Erwägung, daß hier wieder einmal für gewisse Hetzer und Wühler ein Anlaß gegeben sei, über die herzlosen Reichen zu donnern, welche die Kinder der Arbeit durch ihre Hunde zerfleischen lassen. Daß der Arzt die Wunde Camillas nicht ganz unbedenklich nahm, gab diesem Gedanken Nahrung; der Kommerzienrat begann mit starken Schritten hin- und herzugehen, dann verließ er das Zimmer, in welchem die stöhnende Camilla verbunden wurde, und suchte das seinige auf. Kaum war er dort angelangt, so kam ihm das Stubenmädchen nach und brachte das regennasse, blutbetropfte Paket, in welchem Paulus Wikrams »Phaläna« stak. Camilla hatte es, bis sie hereingebracht war, krampfhaft festgehalten, dann war es auf einem Tische gelegen, dort hatte es das Stubenmädchen bemerkt, die Adresse gelesen und sich dienstfertig beeilt, ihrem Herrn den unschuldigen Anlaß des Unglücks auf sein Zimmer nachzutragen. Nun aber brach's bei dem Alten los. Einen Augenblick sah er starr auf die Adresse, welche zugleich einen Vermerk über den Inhalt trug; dann, als ihm der Zusammenhang aufzudämmern begann, schleuderte er das Paketchen auf den Boden und fuhr heraus: »also darum diese ganze heillose Geschichte! Die verdammten Buchhändler mit ihren zudringlichen Sendungen! Können die Kerle nicht warten, bis ich selbst etwas bestelle? – Und du, Gans – warum mir das jetzt unters Gesicht bringen? – Aufheben und sofort zurückschicken! – Sofort und gerade wie's ist!«
Das Mädchen gehorchte und eilte, die Thüre zwischen sich und ihren Herrn zu bringen, und der Kommerzienrat hatte wieder etwas, worüber er sich später schämte und ärgerte. Er hat nach Jahresfrist Paulus Wikrams neue Gedichte gekauft, gelesen und in Ehren gehalten; aber für diesmal war es der Poesie bös bekommen, daß sie am geputzten Kleide der Armut in das Haus des Reichtums gewandert war.
Camilla aber, welche unter den Händen des Arztes mit Stöhnen und Aufschreien und Abwehren sich ungeberdig genug benommen hatte, wurde ganz still, als sie bald darauf in das Spital geführt wurde. Das erste, was sie dort wieder sprach, war: »nun ist mein Gesicht hin.« Und man hatte Mühe, ihr das fortwährende Weinen zu wehren, welches die Ärzte nicht zuträglich fanden.
Kommerzienrat Wullenweber wies sofort der Familie Weiß eine Summe an, welche nicht nur die Kosten der ärztlichen Behandlung weitaus deckte sondern auch noch ein ganz erkleckliches Schmerzensgeld übrig ließ. Er und seine Familie kümmerten sich persönlich um das Ergehen der Kranken und bezeugten auch den Ihrigen alle Teilnahme, die in solchem Falle wohl thun kann. Trotzdem kam nach wenigen Wochen eine Entschädigungsklage auf den Plan, wonach eine ganz ungeheuerliche Summe gefordert wurde als Entgelt für – verlorene Schönheit. Denn Camillas Schönheit war allerdings verloren. Zwar heilte ihre Wunde ohne besondere Schwierigkeit, und daß der Hund nicht toll gewesen war, ließ sich sicher feststellen. Aber die Narbe der Bißwunde entstellte vom Auge bis zum Mund das Gesicht Camillas so gründlich, daß von Schönheit nun auch der begeistertste Liebhaber nicht mehr hätte sprechen können. Ein begeisterter Liebhaber jedoch war Ottomar Meyer nicht mehr. Zwar schützte er die unüberwindliche Weigerung seiner Eltern als Grund vor, warum er die Verlobung mit Camilla aufhob, aber es konnte keinem Zweifel unterliegen, daß seine ohnedies nicht eben markdurchwühlende Liebe zu Camilla eine ganz beträchtliche Abkühlung erhalten hatte. Fräulein Marguerite Schönfisch war ohnedies die bessere Partie. Die Wut der Frau Weiß über die fehlgeschlagene Spekulation mit Camillas Gesicht war grenzenlos, und ihr biederer Gemahl mußte schon um des lieben Friedens willen in die Anstrengung der Entschädigungsklage willigen, die eben in dem Rücktritt Ottomars schlagend begründet zu sein schien. So wenigstens meinte ein geriebener Advokat, der die Sache in die Hand nahm.
Der Kommerzienrat, der freiwillig für Camilla alles Erdenkliche zu thun bereit gewesen wäre, weigerte sich dieser Klage gegenüber, nur auch einen Pfennig zu zahlen, und ließ es auf den Prozeß ankommen. Der Aufsehen erregende Prozeß, der durch verschiedene Instanzen ging, endete geraume Zeit später mit einem mageren Vergleich; der Kommerzienrat ging ihn zuletzt ein, weil ihm der Handel zu ärgerlich wurde; Frau Weiß griff mit beiden Händen zu in weiser Beherzigung des Sprichwortes vom Spatzen in der Hand.
Von Camilla mochte bald niemand mehr reden. Mit ihrer Schönheit war auch ihr Stolz geschwunden, aber auf den Grundsatz, ohne Arbeit bequem leben zu wollen, hatte sie nicht verzichtet; und da dies so ziemlich ihr einziger Grundsatz war, so verschwand sie rasch in jenen unheimlichen Tiefen, aus denen nicht leicht eine wieder auftaucht.