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[Robert Stevenson]

Robert Louis Stevenson wurde in Edinburgh im Jahre 1850 geboren. Seine Familie hatte bereits einen großen Mann hervorgebracht, Robert Stevenson, den Großvater des Dichters, einen berühmten Techniker und Ingenieur, der an der Nordküste Schottlands auf Beil-Rock einen gigantischen Leuchtturm unter Überwindung phantastischer Schwierigkeiten erbaut hatte. Das Technische, der Sinn für das Werkzeug, für den »kürzesten Weg«, für die geistreichste Lösung war dem Dichter angeboren, ebenso der Zug nach der Ferne und dem Abenteuer – gleichzeitig aber auch eine schwache Körperkonstitution, die Stevenson gehindert hat, Ingenieur zu werden, und die ihm auch die eingeschlagene Laufbahn als Jurist und Advokat versperrt hat. Um diese schwankende Gesundheit, diese »lockere Beziehung zum Leben« zu kräftigen, war Stevenson viel auf Reisen. Er hat Davos gekannt, hat Europa kreuz und quer durchstreift, immer mit hellen Ingenieursaugen, immer die Feder in der Hand, mühelos und heiter die Eindrücke seiner Reisen aufzeichnend; auf Reisen hat er seine Gattin kennengelernt und ist ihr dann nach Kalifornien gefolgt. Mit dreiunddreißig Jahren machte ihn die »Schatzinsel« berühmt. Fünf Jahre später wanderte er, um seine Gesundheit zu kräftigen, in die Südsee aus, er erwarb eine Besitzung namens Vailima in Samoa. Vier Jahre nach seiner Niederlassung starb er plötzlich, von den Eingeborenen wie einer der ihren geliebt und betrauert, auf dieser Insel und wurde auf dem Gipfel des Berges Vailima begraben. Dies der karge Bericht eines reichen Menschenlebens. In den wenigen Jahren seiner späten Jugend und des ersten Mannesalters hat er über fünfzehn Bände veröffentlicht. Aber dies ist, wie er selbst in einer Einleitung zur »Schatzinsel« schreibt, nur ein geringer Bruchteil seiner Werke. Wie der junge Balzac lebte Stevenson in einem ununterbrochenen Fieber der Erzählung. Sein Leben war im Persönlichen verborgen, in den Formen einer adeligen Höflichkeit zurückhaltend, verhüllt aus der Scham eines rein virilen, männlich-gesammelten Charakters. Im Künstlerischen war es von einer Fülle, einer Breite sondergleichen, große Romane, Balladen in Prosa, Gedichte für Kinder, Kritiken und Essays, Reisebeschreibungen von persönlichster Färbung und Tagebücher mehr der wandernden Erde als des wandernden Menschen, kleine, bis ins letzte Wort »echte« Bilder von bestrickendem Reiz, Werk auf Werk, so schuf dieser zarte, gebrechliche Mann, durch den anfänglichen Mißerfolg nicht gehemmt, durch den späteren Erfolg nicht verflacht, Arbeit auf Arbeit fast bis zum letzten Atemzuge: erzählend, berichtend, Fäden spinnend, ein Epiker von Natur. Ein unermüdlicher Schreiber, ein unermüdlicher Leser. Homers Ilias und Odyssee seine Lieblingsbücher, dann die antiken Philosophen. Von den neueren Schriftstellern liebte er Walter Scott und Alexander Dumas am meisten, es sind ihm diese zwei Autoren sicherlich Lehrer im Handwerklichen des Romans gewesen. Das Handwerkliche des Romans hat ihn, den Sohn von Technikern, immer als technisches Problem gereizt. Aber darüber hinaus ist es ihm leichtgefallen zu schreiben. Wenn es ein frommes Gebet der alten Römer war, sit tibi terra levis, die Erde sei dir leicht, wenn man den Toten diesen Segenswunsch als Reisespruch bei der Bestattung mit auf den Weg zum Hades gab – bei Stevenson konnte dies Wort auch für seine kurzen Erdentage gelten. Die Erde war ihm leicht. Er hatte Freude an seinem Dasein, und deshalb gibt er uns in seinen Büchern soviel Freude. Selbst wenn er gedankenvoll ist, wenn er sich nicht dem angeborenen Abenteuerdrang rückhaltlos überläßt, immer geht eine Lebensfroheit, eine Dankbarkeit gegen die schaffenden Kräfte des Lebens von ihm aus, etwas Kindliches bei aller Männlichkeit, und die Reinheit, die Güte, der hohe Adel seines Herzens verleugnen sich nie.

Das erste Buch, das den richtigen Stempel dieser einfachen, dabei aber doch nicht oberflächlichen und im Grunde sogar in ihrer ausgemessenen Harmonie sehr merkwürdigen Natur trug, war die »Schatzinsel«. Dieses Buch wurde mit Begeisterung aufgenommen, es hat in den fast fünfzig Jahren seiner Einzelexistenz nichts von dem unzerstörbaren Zauber verloren, den es gleich zu Beginn ausgeübt hat, als es noch im Werden war. Mit der ganzen schalkhaften Anmut, die ihm eigen ist, erzählt Stevenson den Roman dieses Romans in einer Einleitung zu diesem Buche. Er war nicht mehr Jurist und Advokat, war noch nicht Schriftsteller, wenn Schriftsteller sein heißt, berühmt sein, jede Zeile mit einem Pfund Sterling aufgewogen bekommen. Er war verheiratet, hatte Sorgen und Kümmernisse, den Kopf voller Gedanken, den Geist voller Phantasien, die ihn selbst nachts nicht verließen, ein unbeherrschbarer Drang, zu schaffen, neue Länder zu erforschen, Menschen seiner Einbildungskraft leben zu lassen, wirkte in ihm, machte ihn unruhig, unbefriedigt. Er hatte Stöße von beschriebenem Papier in den Läden seines Schreibtisches, aber nichts wollte sich schließen, nichts vollenden, und war etwas vollendet, dann war es so sehr fehlerhaft (nach der Ansicht seines bescheidenen Schöpfers), daß er, Stevenson, aller Not ungeachtet durch den Vater die Exemplare des verunglückten Werkes aufkaufen und vernichten ließ. Da gesellt sich zu dem unruhvoll durch die schottischen Moore Wandernden ein Schulknabe. Der kleine Junge, erzählt Stevenson, der »etwas Kniffliges zum Kopfzerbrechen« als Ferienbeschäftigung suchte, hatte endlich etwas Richtiges gefunden, nämlich mit Hilfe von billigen Wasserfarben, Tinte und Feder ein Zimmer in eine Bildergalerie zu verwandeln. Es war das Landhaus der seligen Miß Mack Gregor. Stevenson verbringt die ganze Zeit damit, in edlem Wettstreit mit dem Jungen bunte Zeichnungen zu entwerfen. Bei dieser Gelegenheit fertigt er eine Landkarte einer Insel an, ein Protokoll des Nicht-Daseienden, aber immer noch Möglichen, ein phantastisch-reales Gebilde, »in roter Tinte, mit Hügeln, Buchten, Einfahrten«, ein Werk, bei dem ihm der von gleichen Trieben beseelte Vater mithilft, die altertümliche Schrift eines alten Seeräubers mit kleinen klaren Lettern und Kreuzen an bestimmten wichtigen Stellen nachahmend, denn ein Inselplan aus dem achtzehnten Jahrhundert soll es sein, aus der letzten Zeit, dem letzten Termin, zu dem es noch ungehobene Schätze, blutige Seeräuber, unbetretbare Einöden, verlassene Gestade gab. Vater und Sohn sitzen bei prasselndem Kaminfeuer über der Zeichnung: Die bewaldete Insel mit neun Meilen Länge und fünf in der Breite ersteht mit ihren imaginären Buchten, den teils felsigen, teils sandigen Gestaden. Man zeichnet die Schemata – oder soll man sagen: Schemen? – zweier Segelschiffe in den Plan hinein, eines naht von Norden, das andere, mit üppigeren, glückhafteren Segeln geschwellt, kommt von Süden. Darunter steht: Treasure Island. Anno 1750. Ein noch genaueres Datum an dem Unterrande: 20. Juli 1754. »Die Gestalt dieser Insel«, sagt Stevenson, »befruchtete meine Phantasie. Da waren Hafenplätze, die mich entzückten wie Sonette. Man sagt mir, es gäbe Leute, die für Landschaften kein Verständnis hätten. Ich zweifle daran. Die Namen, die Formen der Wälder, der Lauf der Landstraßen und der Flüsse, die Fußspuren der Menschen früherer Zeiten, die sich noch deutlich hügelauf- und abwärts verfolgen lassen, die Mühlen und Ruinen, die Weiher und Furten, vielleicht der stehende Stein oder der Druidenkreis auf dem Heidekraut, hier bietet sich eine unerschöpfliche Fundgrube des Wissens für jeden, der Augen hat zu sehen oder soviel Phantasie besitzt, um Verständnis für diese Dinge zu haben. Man braucht nicht gerade ein Kind zu sein, um mit dem Kopfe im Grase liegend in den endlosen Wald hineinzuträumen und ihn mit luftigen Phantasiegestalten zu beleben. Etwas dieser Art begann sich bei mir bei der Betrachtung der ›Schatzinsel‹ zu regen, die künftigen Gestalten des Buches traten dort in phantastischen Wäldern in Erscheinung. Braune Gesichter und glänzende Waffen schauten mir aus den Schlupfwinkeln entgegen, ich sah sie im Kampfe und auf der Jagd nach dem Schatz sich auf diesen paar Fußbreit flachen Bodens tummeln ... eine Anzahl anderer Bücher habe ich angefangen und vollendet, aber ich erinnere mich nicht, daß ich mich zu einem andern mit größerem Wohlgefallen niedergesetzt habe. Ich hatte anfangs nur auf den Schulknaben als Zuhörer gerechnet und fand dann zwei Zuhörer: Mein Vater fing auf einmal Feuer mit der ganzen Romantik und Kindlichkeit seines Herzens.«

So bewährte sich der Zauber dieses Planes, die Nähe dieses dichterischen Genius schon in statu nascendi, als nur die Umrisse, die Kapitelüberschriften dieses Werkes feststanden und – der genaue Plan. Aber ist der Plan an einer Schatzinsel nicht das wichtigste? Die geographische Länge und Breite des Ortes, die Höhlen, wo die Seeräuber die alten Unzen, Ingots, Pfunde und Dublonen untergebracht haben, damit ein kleiner Junge und ein alter Seebär sie gewinnen können? Wer wollte sich dieser Jagd nach dem Glück nicht anschließen? Denn eine Jagd nach dem Glück ist es, nicht eine Jagd nach dem Golde. Was kann denn ein vierzehnjähriger Junge mit den Millionen beginnen? Es soll ja ein Buch »für Buben« sein und solche, die es bleiben ihr Leben lang. Geld ist hier nicht der Inbegriff der Herrlichkeiten des Lebens, nicht Ersatz für Schönheit, Mut, Ruhm, langes Leben, sondern Geld ist hier nur eine Art Murmelkugeln, Kinderspielzeug. Alles ist in diesem wundervollen Buche ernst genommen, mit homerischer Ruhe und Größe wird Leben und Sterben, Treue und Verrat der Schiffsbesatzung, Leben und Taten von Koch, Kapitän, Arzt und Junge geschildert, nur das Geld wird nicht ernst genommen. Geld? »Geld wie Heu«, schreibt Stevenson, »daß wir uns darin baden und lebenslang Murmel damit spielen können.« Wer ist der Entdecker dieses wunderbaren Eilands mit den Schätzen, aus denen er ein Spielzeug machen will? Ein Junge natürlich, ein findiger, heller Kopf, der vor etwas »Kniffligem zum Kopfzerbrechen« nicht zurückscheut, der Glück hat und ein gutes Herz. Es ist gerade sein Schicksal, auf Schritt und Tritt muß er es sein, der den Erwachsenen das Leben rettet; er ist eigentlich der Führer, der geborene »Mensch – voran«, er ist der Sieger über den Gegenhelden, den einbeinigen dämonischen Schiffskoch, John Silver. Es ist ein Zeugnis der Noblesse von Stevenson, wie er auch dem Teufel in Menschengestalt sein Recht läßt, wie er vor den echten Mannestugenden dieses Mörders, Lügners und Betrügers, vor seiner heroischen Todesverachtung, vor seinem klaren Geiste seinen Salut abgibt. Hier liegt auch ein Teil der unbeschreiblich faszinierenden Wirkung des Buches: daß es Licht und Schatten auf beide Seiten verteilt, daß es den Mutigen nicht gegen einen Feigen, sondern auch gegen einen Mutigen bestehen läßt, Knabengeist gegen Männergeist, junges Blut gegen altes Blut, Kraft gegen Kraft; und wenn John Silver nicht ohne Wert ist, dann ist der kleine Jim Hawkins auch kein fleckenloser Schulknaben-Engel. Er ist töricht, ungehorsam, »verrückten Einfällen« unterworfen; es ist bloß sein (und unser) besonderes Glück, daß seine Torheiten immer im Grunde unbewußt das Klügste sind, daß er dort, wo er den Erfolg zu verhindern scheint, ihn eigentlich erst ermöglicht. Es ist ein Mann in diesem Kinde Jim Hawkins, und so wird, wenn dieser Junge groß, berühmt und reich sein wird, auch ein Kind in dem Manne bleiben. Und nicht ein Mann gewöhnlicher Art: sondern ein Edelmann mit bürgerlichem Blut, das, was keine andere Sprache als die englische mit dem Worte Gentleman umrissen hat. Die »Schatzinsel« ist daher keine bloße Abenteuer- und Seebärengeschichte, sondern auch die Geschichte eines kleinen Gentleman unter wunderbaren tropischen Himmeln, unter den merkwürdigsten Menschen, die »nicht wiederkehren«. Mit der ersten dieser merkwürdigen Gestalten, dem ungebetenen düstern Gast im englischen Dorfwirtshause »Zum Admiral Benbow«, beginnt das Buch, und dazu erklingt wie der Orgelton der nie ruhenden Meereswogen der geheimnisvolle Kehrreim: »Fünfzehn Mann auf des toten Mannes Truh' – Jo-ho-ho, und 'ne Bottel voll Rum.« Meisterhafter wurde die ganze geistige und leibliche Atmosphäre eines Abenteuerromans von 1754 nie und nie auf kürzerem Räume zusammengepreßt wie auf der ersten Seite der klassischen »Schatzinsel«.

Aber man würde Stevenson Unrecht tun, wollte man ihn mit diesem Buche erschöpfen. Sein »Schwarzer Pfeil«, seine »Junker von Ballantrae« sind Meisterwerke einer in der Schule Walter Scotts groß gewordenen Erzählungskunst. Darüber hinaus, ganz eigenartig, ganz persönlich, eine Welt für sich, sind die »Südseegeschichten« Stevensons, Berichte seiner Südseereise.

Der Grund für diese Reise lag in der schlechten Gesundheit des Dichters. Oder war dies nur der Anlaß? Wenn man die Bände »Südseegeschichten« liest, die Novellen »Strand von Falesa« oder »Insel der Stimmen«, dann muß man sagen, daß dieser Archipel, dieser unter der Maske blühender Gesundheit dem Tode hingegebene Inselkreis auf den Dichter gewartet hat, der ebenso wie er den Hauch des Todes aus- und einatmete selbst in der blühendsten Stunde seines Lebens. Südsee und R.L. Stevenson, das war eine notwendige Begegnung und deshalb eine außerordentlich schöne. Dieses Auge und diese Landschaft gingen ineinander auf, die Herzen dieser Polynesier und die Seele des Dichters waren so sehr eins, als hätten sie einander entgegengelebt seit ihrer ersten Stunde; es war derselbe Stern, unter dem sie lebten. Man höre nur den Dichter selbst: »Fast zehn Jahre lang«, so beginnt er seine »Südseegeschichten«, »war es mit meiner Gesundheit ständig bergab gegangen; längere Zeit vor Antritt meiner Reise glaubte ich, daß es zu dem letzten Abschnitt meines Lebens gekommen wäre und daß nur noch Krankenschwester und Leichenbestatter meiner harrten. Man schlug mir vor, ich solle es mit der Südsee versuchen, und ich war nicht abgeneigt, gespenstergleich und unheilverkündend die Stätten aufzusuchen, die mich schon in Jugendkraft und Gesundheit gelockt hatten. Nur wenige Menschen, die diese Inseln besucht haben, verlassen sie je wieder, sie werden grau dort, wo sie ihren Fuß an Land setzten. Die Palmen beschatten und die Passatwinde umfächeln sie bis zu ihrem Tode. Ich weiß noch, wie ich um drei Uhr morgens erwachte und die Luft milde und balsamisch fand. Die lange Dünung schwoll in der Bucht, schien sie ganz anzufüllen und schwand von neuem. Sanft, tief und stumm rollte das Schiff, nur von Zeit zu Zeit knarrte das Seil an einem der Blocks wie ein Vogel. Meerwärts war der Himmel hell von Sternen und das Meer licht von ihrem Widerschein ... Aber der Sonnenaufgang, der mich am tiefsten bewegte, erstrahlte über der Bucht von Anaho. Die Berge ragen hier schroff über dem Hafen empor, in jedem nur möglichen Wechsel von Gesteinsbildung, Bekleidung, Wald und Fels. Jeder von ihnen trug die ihm eigene Schattierung von Safran, Schwefel, Nelken- oder Rosenfarben, und ihr Glanz war wie der von Atlas. Über den lichteren Tönen lag ein zarter Blütenschimmer, während die dunkleren Farben in satterem, feierlichem Blühen prangten.« Welch ein irdisches Paradies! Aber todgeweiht? Sich selbst dem Tode weihend? Den schauerlichsten Gebräuchen von Menschenopfer und Menschenfraß hingegeben? In der »Schatzinsel« ist an einer Stelle die Rede von dem Wrack eines Schiffes, das von der Fahrt um den Schatz nicht heimgekehrt ist. An der sandigen Küste des tropischen Eilands modert es, an den Wänden umfangen, verzehrt und vergoldet von wuchernden Pflanzen, die märchenhaften Glanz zur Schau tragen, »ich erinnere mich noch«, sagt der Dichter, »wie die letzten Sonnenstrahlen durch die Waldlichtung fielen und wie Edelsteine auf dem blühenden Mantel des Wrackes leuchteten«. Solch ein blühender Mantel auf einem Wrack ist die unbeschreibliche Natur auf den Marquesas, den Gilbertinseln, den Korallenriffen der Südsee, die so weit auseinanderliegen wie die Hauptstadt von Persien und die Hauptstadt von England. Was einer träumt, hier findet er es wieder: »Verloren in der Bläue von Meer und Himmel: ein Ring aus weißem Sande, grünem Unterholz, wehenden Palmen, juwelengleich an Farben, von einer feenhaften, überirdischen Anmut. Rings um das Eiland wogt weiß wie Schnee die Brandung, die sich an einer Stelle weit draußen im Meere bricht, an einer Untiefe, die in keiner Karte verzeichnet ist.« Hier wohnen Menschen, wohlgestaltet, sanft und dennoch Menschenfresser. Ein Kannibale geht in der ganzen brutalen Schönheit seines erzähnlich gleißenden Körpers über den Strand, über der Achsel trägt er den Arm eines erschlagenen Feindes. Die menschliche Hand, das geheiligte Symbol menschlicher Kunst, göttlichen Gebets sonst, hier dient sie als feinster Leckerbissen. Und doch nichts von Roheit; eher Verzweiflung, böse, drohende Gesichte bei Tag und Nacht, die blühende Natur von Dämonen überwölkt, von Gespenstern zischend durchhaucht. In den Seelen dieser Kannibalen eine unauslöschliche Trauer, eine Müdigkeit bis in den Tod. Denn dem Tode sind diese schönen Menschen geweiht, ebenso wie der junge schöne Dichter, der eben an ihrer Küste gelandet ist.

Man lese eine Schilderung einer Begegnung Stevensons mit einer Tochter dieses Landes: »Taris Schwiegertochter war ein hübsches, sanftes Mädchen, ernst mit ihren sechzehn Jahren ... das Enkelchen war noch ein winziges Brustkind. Als ich mich zu ihnen auf den Boden setzte, begann das Mädchen, mich nach England auszufragen. Ich versuchte, es ihr zu schildern und erklärte ihr, so gut es ging, durch Worte und Gesten die Übervölkerung, den Hunger, die ewige Mühe und Arbeit ... Sie verstand mich sehr gut und saß eine Weile in ernsten Gedanken über diesem Bilde ungewohnten Jammers. Ich bin überzeugt, daß ich ihr Mitleid erweckt hatte, denn in ihr wurde ein anderer Gedanke wach, der stets in jedes Marquesaners Brust wohnt. Mit lächelnder Trauer und mich mit ihren melancholischen Augen ansehend, begann sie das Sterben ihres eigenen Volkes zu beklagen: ›Ici pas de Kanaques‹, sagte sie. Und den Säugling von der Brust nehmend, hielt sie ihn mir mit beiden Händen entgegen: ›Tenez! Ein kleines Baby wie dieses hier; dann alles tot. Alle Kanaken sterben. Dann – nichts mehr.‹ Das Lächeln zu sehen«, sagt Stevenson, »und zu hören, wie diese mädchenhafte Mutter ihr eigenes Fleisch und Blut als Beispiel zitierte, rührte mich in seltsamer Weise, alles bekundete eine so stille Verzweiflung. Die Tore des Todes stehen weit offen: Im Jahre 1888 gab es im Bezirk von Hatiteu zwölf Todesfälle, aber nur eine Geburt ... Der Stamm von Hapaa soll 400 Seelen gezählt haben, als die Pocken ausbrachen und ein Viertel vernichteten. Sechs Monate später zeigte sich bei einer Frau Lungentuberkulose. Die Seuche verbreitet sich mit flammengleicher Geschwindigkeit im Tale, und nach weniger als zwei Jahren entflohen die letzten Überlebenden, ein Mann und eine Frau, aus dieser neu entstandenen Einöde.« Hier ein Mythos, dem von Deukalion und seiner Pyrrha in der griechischen Sage verwandt. Aber dort sind es die ersten Fackelträger einer aus dem Dunkel auftauchenden Generation, Begründer neuen Lebens, Stifter der wahren menschlichen Unsterblichkeit, auf den Südseeinseln sind es die letzten, die verwehenden Aschenreste von einst. Dieses Volk auf den Atollen der Südsee treibt, wie Stevenson sagt, eine liebevollste Verwöhnung der Kinder, eine Anbetung des Kindes an sich, von einer solchen Zartheit, wie sie der Dichter Peter Altenberg in Wien einst geträumt hat, das Kind ist eins und alles, »glücklich der Mann«, sagen sie, »der den Köcher voll davon hat«. Und doch Menschenopfer, immer noch. Ein Mann hat gesündigt, oder waren es zwei? Ihre Frauen werden getötet. Freiwillig folgen sie dem Henker in die Flut, lassen sich von ihm willig die Köpfe unter das Wasser tauchen. Der Kannibalismus lebt weiter, trotz Missionen und importiertem, manchmal auch nachgefühltem Christentum. Das liebevolle Herz des Dichters will den für uns unlösbaren Widerspruch zwischen Menschenfresserei und Kindervergötterung zurückführen auf die alles verschlingende Not. Der Hunger treibt die Menschen dazu, sich selbst nicht mehr »zu kennen«. Ist es möglich? Hat man Derartiges gehört? Leider kann der Zusammenhang nicht ganz geleugnet werden. In den letzten Jahren kamen ähnliche Nachrichten aus Südrußland, einem der fruchtbarsten Länder von einst. – In den wenigen Jahren seines Aufenthaltes auf den Südseeinseln hat Stevenson ein Denkmal dieser sterbenden Rasse gebaut, das nicht vergehen wird. Mit diesen Werken ist er auch selbst in den Kreis der irdischen Unsterblichkeit eingegangen. Noch nach vielen Geschlechtern werden seine Werke: »Die Schatzinsel«, das Abenteuerbuch seiner Jugend, und »Südseegeschichten«, die Berichte aus dem Seelenland und Todesriff seiner Mannesjahre, nicht vergehen. Er, Stevenson, hat am Schlusse seines Romans »Junker von Ballantrae« seinem Helden einen Grabstein gesetzt. Darf ich ihm den Text nachsprechen?

»R.L.St., Erbe eines schottischen Titels,
Ein Meister der Künste und begabt mit Anmut,
Bewundert in Europa, Asien, Amerika,
Im Krieg und in Frieden,
In den Zelten wilder Jäger und in den
Burgen der Könige,
Nachdem er so viel erlernt, vollbracht und erduldet,
Ruht hier vergessen.«

Ruht hier vergessen? Vergessen – nein, vergessen nicht von uns, die wir heute noch leben.


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