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Die Kunst des Erzählens

Noch hat ein Kind die Sprache in Worten nicht verstehen gelernt, und schon beginnt es zu erzählen. Der zahnlose Greis, der neues zu lernen, neuen Sinn zu fassen nicht mehr fähig ist, noch immer kann er vom Erzählen nicht lassen, mit schmal gewordenen, blassen Lippen murmelt er Undeutliches der Aussprache nach; wenn aber jemand die Worte als solche richtig zu hören vermag, dann kann er meisterhaft Erzähltes aus einem Munde aufnehmen, der sonst scheinbar schon allem Leben, aller Liebe abgewandt ist. Denn einem Geiste, längst dem tätigen Dasein entfremdet, kann immer noch eine klare, reine Quelle entspringen; das Gedächtnis, dem die jüngsten, wirklichsten Ereignisse entgleiten, hält immer noch die ältesten Bilder in unverbrüchlicher Treue und Liebe fest.

Wilde Völkerschaften, wie Südseeinsulaner, Eskimos und Lappen, erzählen schlechthin vollendet. Viele gebildete, geistig hochstehende Menschen aber bringen kaum die kleinste, schlichteste Erzählung zustande. Können sie es aus dem Grunde nicht, aus dem sechzehnjährige Jünglinge das Malen und Zeichnen verlernt haben, das ihnen mit vier Jahren, zum Staunen aller Erzieher, wie durch Gnade angeboren war?

Man hat ein Recht anzunehmen, ein jeder Mensch könne »von Natur« erzählen. Man kann daher das Erzählen nur, wie der vierjährige Knabe das Malen, verlernen.

Hört man die Marktweiber unter dem Baldachin ihrer Schirme, zwischen ihren Körben mit Obst, ihren Käfigen mit Hühnern, hinter ihren Krügen mit Bauernblumen sich die Zeit der ganz frühen und der späten Marktstunden mit Gesprächen vertreiben, oder läßt man vor Gericht dem Angeklagten, dem Zeugen, besonders aus den unteren Schichten, freien Lauf mit ihren Berichten, ihren Ausbrüchen, Eindrücken und Abenteuern, da hört man oft das Leben selbst sprechen. Werden aber diese Menschen aufgefordert, das eben in vollster Lebensblüte Erzählte niederzuschreiben, dann ergibt sich meist nichts anderes als ein flaches, sentimentales, ödes Gespinst.

Es scheint, daß hier der Grad der Naivität entscheidet. Naiv, das heißt ganz absichtslos, ohne Rücksicht auf den Zuhörer und bisweilen ohne Rücksicht auf den Sinn, erzählt nur das Kind. Das Kind und der Wilde haben reine Freude am Klang, am Lärm, an dem fragenden Zögern, an der aufreizenden Pause, am ruhig weitergezogenen, drei- und unendlichemal wiederholten Pendelschlag der Erzählung. Eine etwas wehmütige Freude hat auch der Greis. Er empfindet den Durst, nochmals zu leben, in dem Augenblicke, da er nochmals sich reden hört. Er erzählt, solange er atmet. Solange er atmet, solange er lebt.

Sollte man nicht annehmen, jeder Mensch könne wenigstens einen guten Bericht schreiben, nämlich den des eigenen Daseins und Dagewesenseins? Aber es sind autobiographische Bücher von Wert noch größere Seltenheiten als wertvolle Bücher überhaupt.

Es muß also doch eine eigenartige Kunst des Erzählens geben. Oder es muß die angeborene, aber wieder verlernte Kunst der Darstellung aller Bildung, allem Schulwissen zu Trotz wiedergefunden werden können. Man muß erzählen, naiv wie ein Kind, wissend und im Feuer geläutert wie ein Greis, aber das alles mit dem glühenden Glauben des Jünglings und der großen, ruhigen, tragenden Kraft des Mannes. Die Vereinigung dieser Eigenschaften ist so selten wie die Vollendung bei einem irdischen Kunstwerk überhaupt. Regeln und Gesetze gibt es nicht, wie es auch in der Pädagogik keine festen Formen gibt.

Sich gerecht verteilen macht hier wie überall den Meister. Wer sich selbst zu sehr lauscht, der reißt wohl sein Werk von der Erde los, aber je höher er steigt, desto blendender, feuriger muß das Werk leuchten, sollen die Strahlen dann noch das Gewölke der Materie, den harten Urbann des Wortes durchbrechen, um über Zeiten, über Zonen heraus zu wirken. So sind Achill und Odysseus nicht einfach Figuren einer beliebigen Mythologie. Es sind Grundformen des menschlichen Wesens überhaupt, es ist Jünglingswelt in Achill und Manneswelt in Odysseus. Ob nun ein einzelner oder ein Volk bei diesen Gestalten mitgedichtet hat, sie sind nicht aus der Beobachtung der fremden Welt entstanden, sondern dem Flusse des eigenen Daseins entsprungen, dem Überflusse einer zweideutenden, einer umfassenden Seele. Und sind die Buchstaben der homerischen Gedichte heute so weit verdunkelt, daß wir nicht mehr wissen, wie sie geklungen haben, hat sich der Sinn der homerischen Welt auch so weit verändert, daß uns die Worte Sieg, Tod, Kampf, Meer und Irrfahrt, Troja und Penelope ganz anderes bedeuten, als sie dem Schöpfer dieser Werke und ihren ersten Hörern bedeutet haben – so strahlt doch, eben über die Zone der griechischen Küste, über die Zeiten der heroischen Kämpfe, das Werk und mit ihm seine Helden, seine Meister. Denn was Homer gezeugt, getötet, lebendig gemacht, was er geschmäht und gerühmt hat, das geht tiefer als sein Gegenstand, es besteht länger als der Stein, aus dem die Statue gebildet war.

Ganz dem Zuhörer hingegeben sein, nur mit dessen Zunge zu reden, mit dessen Vernunft zu denken, mit dessen Waage zu wägen, das macht ein Werk verständlich, eingängig und einheitlich. Solch ein Werk widerspricht sich nie. Aber so erzählen, wie der Durchschnitt der Menschen denkt und bewußt erlebt, das heißt überhaupt nicht erzählen. Mit Rücksicht auf die Masse und deren Auffassung, Fassungskraft und schnell verflogene Liebe erzählen heißt mit einem Griffel in fließendes Wasser schreiben. Ganz ohne Sinn ist auch dies nicht. Es ist ein Geschäft, ein Beruf, und wenn man daran denkt, einer großen Anzahl von Menschen nach ihrer Tage Arbeit und Mühsal ein wenig Unterhaltung zu gewähren, ist es sogar eine menschliche Berufung. In diesem Sinn soll man selbst den Kitsch nicht unterschätzen.

Aber die Generation, aus deren Durchschnittsgefühl heraus dieser banale Erzähler erzählt, geht dahin. Schon die kommende Generation versteht die Existenz, geschweige den Erfolg solcher Werke nicht mehr, ja, man begreift nicht einmal, was die frühere Generation Schönes an diesen Werken gefunden haben mag. Man versuche nur einmal, in diese »Sophiens Reisen nach Memel«, in die Romane der Spindler und Vulpius, von neuen Büchern dieser Art, wie sie in Zeitungen »unter dem Strich« laufen, ganz zu schweigen, einen Blick zu werfen. Man wird sich, wie von einem Massengrabe halbverfaulter Leichen, schaudernd abwenden. Solche Werke sind so tot, daß man nie ermißt, wie sie je lebendig gewesen sein sollen. Es ist nur der mechanische Abdruck, der letzte Abhub der Massen darin, das Gestaltlose, künstlerisch Unerfaßbare, das nie Organismus geworden ist und doch auch längst die Unschuld des rohen Stoffes eingebüßt hat. In diesem Sinne sind es traurige Momente der irdischen Vergeblichkeit, beschämend für den Sinn ihrer Zeit.


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