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Kleist

»Dem Königl. Capitain Herrn Joachim Friedrich von Kleist vom Prinz Leopold von Braunschweigschen Regiment wurde hierselbst von seiner Ehegattin Juliane Ulrike geb. von Panwitz am 18. Oktober 1777 Nachts ein Uhr ein Sohn geboren, welcher in der heiligen Taufe am 27. dess. Mts. u. Jhr. die Namen

›Bernd Heinrich Wilhelm‹

erhalten hat.

Solches wird hiemit auf Grund des hiesigen Garnisons-Kirchenbuches amtlich attestiert.«

Dies das Dokument seiner Geburt. Märkische Provinz. Alter Adel. Offiziersfamilie. Ältester Sohn, zur Einsamkeit verurteilt gegenüber den Eltern; zum schnell erlernten Gehorsam gezwungen gegenüber den Stärkeren; zur Veneration gegenüber der Macht des Bestehenden, des Staates, der Armee, des Königs. Vater und Mutter, liebenswerte, aber schwache Gestalten, starben früh, es blieben nur Geschwister, eine herzensnahe Schwester Ulrike, an der Kleist zeit seines Lebens hing. Mit vierzehn Jahren ist Kleist Gefreiter-Korporal in Potsdam; unter dem Kommando General von Kalckreuths gehört er der Truppe an, die 1797 Mainz belagert. Es ist der denkwürdige Feldzug, den Goethe beschrieben hat. Kleist ist ein zwanzigjähriger Leutnant, Goethe ein Minister; dieser ein Kind in altpreußischer Montur, jener ein europäischer Mann auf der Höhe des Lebens. Goethe lockte damals den jungen Offizier nicht, wohl aber die exakte und die metaphysische Wissenschaft auf der Universität. Das Lehrgebäude der irdischen Physik, gestützt auf die Methode der kosmischen Philosophie. Hier ist der erste Sprung in der Lebensgestaltung des Kleist; und wie das Wort Sprung geheimnisvoll doppelsinnig einen Aufschwung und eine Zerstörung bezeichnet, so sieht man diesen sonderbaren, einmaligen inkommensurablen Menschen sein Leben nur noch mehr sprunghaft fortsetzen bis zu seinem frühen Tode. Er selbst nennt sich den »Unaussprechlichen«. So tief er bewußt ist, daß er niemals das Aussprechbare, also das Sichere und Unumstößliche unter den Füßen finden werde, so treibt ihn sein Genius ohne Aufhören dazu, das Unmögliche möglich zu machen, das irdisch Unüberwindliche dennoch kosmisch durch die Gnade seiner Kraft zu überwinden. Er hat den Erzherzog Karl später in einem Gedichte so genannt: Überwinder des Unüberwindlichen. Denn sein Wunschtraum war die Auflösung seines inneren Widerspruchs. Je unbändiger die Wünsche, desto zarter das Innere, desto leichter verwundbar das arme Herz, das keusche; desto schwerer die Persönlichkeit durch Reserve, Stolz und Einsamkeit zu schützen. Weder die militärische noch die dynastische Ordnung hatte ihn befriedigen können. Als ihm sein König kühl begegnete, schleuderte er ihm das kühne Wort entgegen: »Wenn er meiner nicht bedarf, bedarf ich seiner noch weit weniger.« Als er aber dem geistigen Monarchen seiner Zeit, Kant, näherkommen soll, schaudert er zurück, wie später sein Prinz von Homburg: Die Welt in ihrer ganzen unbarmherzigen Unerkennbarkeit und unverrückbaren Trägheit auf sich zu nehmen, fühlte er sich zu schwach, zu vergänglich, zu verlassen. Er ist dem Individual-Nihilistischen der Philosophie Kants nicht gewachsen, »tief in seinem heiligsten Innern davon verwundet«, nennt er sich, stößt alle Bücher von sich und wiederholt nur das eine jammervolle Wort: »Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe nun keines mehr.« So muß sich alles, von außen zurückgedämmt, in das Innere stürzen, und dieses Innere erweist sich zu seiner unnennbaren Freude als gewaltig genug, die von allen Seiten, von Himmel und Hölle, Tod und Teufel heranbrausende Allwelt aufzunehmen, seine Seele wird übermenschlich groß, sein Widerstand gegen die doch nie aus der Welt zu schaffenden Gegensätze und Widersprüche übermenschlich stark, und was ein Napoleon in seinen Taten, Schlachten und Gesetzen, diesen nicht minder als jenen, zu Ende lebte, lebt der preußische Aristokrat, faustisch durch die Musik seiner Phantasie, in den vier Wänden seines Inneren aus. So gibt es auch hier ein Austerlitz, ein Waterloo und ein Sankt Helena zum Schlusse. Äußerer Erfolg (er war nie da) hätte ihn nach diesem Augenblicke nie mehr glücklich machen können, aber Hindernisse konnten ihn nicht nur hemmen, sondern mußten ihn zerstören, alle Gewalt gegen sich selbst richten. Er nannte, was andere Menschen zeit ihres Lebens erstreben: »Bettel von Glück«. Die exakte Wissenschaft konnte ihn nicht halten, ihn in seinem wichtigsten »heiligsten« Punkte nicht stützen: »Die Menschen sprechen mir von Alkalien und Säuren, indessen mir ein allgewaltiges Bedürfnis die Lippen trocknet.« Immer noch wäre in der religiösen Konfession, in dem Ausschütten der selbstzerstörenden Seele an den Stufen des Altars eine Rettung gewesen für ihn. Aber dazu hatte ihn das Schicksal zu wahr geschaffen. »Auch nur ein Tropfen Vergessenheit, und mit Wollust würde ich katholisch werden.« Wohin also mit dem Tatendrang der ungeheuren Seele? Wohin mit einem geistigen Stolz, der menschliches Maß weit überschreitet? Fast dieselben Worte, die einige Jahre später Napoleon zu Metternich sagt vor der Schlacht bei Leipzig, sagt dieser namenlose, dickliche, stotternde, bettelarme Offizierssohn zu seiner Braut: »Ihr ... versteht in der Regel ein Wort in der deutschen Sprache nicht, es heißt Ehrgeiz! Es ist nur ein einziger Fall, in welchem ich zurückkehre, wenn ich der Erwartung der Menschen ... entsprechen kann. Der Fall ist aber nicht wahrscheinlich. Kurz, kann ich nicht mit Ruhm im Vaterlande erscheinen, geschieht es nie. Das ist entschieden, wie die Natur meiner Seele.« Nur eine Stätte gab es, wo solche Kräfte sich entfalten konnten, in der schöpferischen, unerschöpflichen Seele. Nur ein Mittel gab es, dies durchzuführen, die Kunst. Noch wartet er, gibt sich selbst nicht Raum, zügelt sich, versucht sich ein anderes, ein bürgerliches Gesetz zu diktieren, sich mit milderer Medizin zu heilen. Er will Bauer werden, studiert landwirtschaftliche Werke, macht sorgsame Rechnung, um mit seinen wenigen Pfennigen zu reichen. Aber da »quillt es wieder unter dem Stein hervor«, die Kristallisation der gegeneinander wogenden Massen geschmolzenen Gesteins muß auch gegen die bewußte Absicht beginnen, und in der kurzen Zeit von 1802 bis 1811 entsteht Werk auf Werk. Dies »auf« ist wörtlich zu verstehen. Wie den Ossa auf den Pelion und wieder den Pelion auf den Ossa, um einen Vergleich Kleistens aus der »Penthesilea« zu wiederholen, türmt dieser mit scheinbar unerschöpflichen Kräften und mit übermenschlichem Mute begnadete Mann ein grandioses Kunstwerk auf das andere, er entfaltet sich nicht in einer linearen Kurve, nicht in der Ebene, sondern im Räume, mittels einer brisanten Raumkurve die Grenzen des Erreichbaren schon beim ersten Sprunge streifend. Er kontrastiert nicht Menschen gegen Menschen, also nicht einen Don Carlos gegen einen Großinquisitor, sondern einen Mikrokosmos, eine Urschöpfung gegen eine andere, einen Sirius gegen einen Uranos. Mit dem Siegel der Vollendung ward Kleist geboren. Unter ungeheurem Druck ward ihm dies Siegel aufgepreßt, und er ist immer ebenso stark ein Gezeichneter wie ein Zeichnender geblieben. Vollendung der Form hatte er in seinem ersten Wort, das Kleistisch war und blieb wie sein letztes. Sonst wäre ihm nicht einmal der Versuch derartiger Schöpfungen geglückt. Mit dem unerhörten Elan eines ungebrochenen Naturgeschöpfes macht er sich an die Arbeit, in weniger als zehn Jahren entstehen (wenn man solches Schaffen mit dem Worte entstehen fassen kann) Werke wie: Familie Schroffenstein, Robert Guiskard (dieser für sich schon ein Lebenswerk, von dem uns nur dürftigste Ruinen erhalten geblieben sind), Amphitryon, Der zerbrochene Krug, Penthesilea, Käthchen von Heilbronn, Herrmannsschlacht, Prinz von Homburg, die kleineren Erzählungen und der Michael Kohlhaas. Dazu der verlorengegangene Roman, dazu die ungezählten Pläne und die begonnenen, mit Herzblut genährten Entwürfe, von denen nichts geblieben ist. Dazu die Begebenheiten eines ewig liebesehnenden Herzens, die Erschütterungen eines oft verwirrten und daher scheinbar verwirrenden Gefühls (wie es Goethe nannte), dazu eine niemals endende Not, Mißverstand der Zeit, Taubstummheit der zeitgenössischen Kritik, kaum ein tröstendes, niemals ein aufrecht haltendes Wort, höhnisches Zischen und blödes Lachen der Wiener beim »Prinzen von Homburg« und, das Wichtigste: bei jedem Atemzuge der innere Sprung, der Widerspruch an sich und in sich. Dies war nicht Zufall und nicht nur Tücke, sondern tiefer und wahrer, es war der niemals zu überbrückende leere, schnöde Raum, der durch die ganze Schöpfung geht, soweit der Sterbliche sie zu erkennen fähig ist.

Muß man einen so ungeheuren Willen zum Dasein, zum Mehrsein und zum einfachen Großsein nicht anbeten? Unsere Zeit nennt den Namen Kleists oft. Innerlich ist sie ihm fremd wie nie eine andere vorher. Unsere Zeit ist klein, liebt den spöttelnden, vergnügten Geist, freut sich an Shaw. Mit solchen Gestalten hat Kleist nie etwas gemein gehabt. Er war dem Großen, dem Größten, dem Unerreichbaren und daher auch Unverlierbaren immer und ewig zugetan, sei es, daß er es liebend umfassen konnte, sei es, und auch darin zeigte sich der Sprung seiner Seele, daß er es erwürgen wollte. Groß war er in allem. Auch in seinem tragischen Widerspruch. Kleist nahte sich Goethe auf den »Knien seines Herzens«, Kleist nahte sich Goethe, um ihm den Kranz von seiner Stirn zu reißen. Er nahm mit tödlicher Entschlossenheit den Kampf auf mit dem Liebsten, was auf Erden war. Ob er siegte, ob er unterlag, verloren war er auf jeden Fall, gesiegt hatte er auf jeden Fall. Menschen seiner Art hat es auch nachher, wenn auch nicht in seinem grandiosen Ausmaß, gegeben. Georg Büchner, Friedrich Hebbel und der große, nun schon halb vergessene Wedekind. Dies teilt Wedekind mit Kleist, daß er sich nur am Größten, am Blühendsten entflammt, daß er und seine Gestalten herrlich leben, indem sie herrlich untergehen. Immer auf den Knien. Auf den Knien, um von untenher anzubeten, auf den Knien, um von obenher zu segnen oder zu töten, in brisanter Feuerwerkskurve aufzuflammen und zu enden auf jeden Fall.

So sucht er nur einen festen Altar für sein Gefühl. Nichts aber ist auf Erden wert, daß sich ihm ein Irdischer ganz bis zum letzten ergäbe. »Wie gebrechlich ist der Mensch, ihr Götter!« ist das Schlußwort der Penthesilea und könnte das Schlußwort der »Lulu« sein. Gebrechlich ist die Gerechtigkeit der Menschen, sagt Kleist im »Michael Kohlhaas«. Wohin soll sich dann das ungeheure Gefühl ergießen, wenn nicht in den Tod? Den Tod als Tat. So sieht es »Penthesilea«, so sieht es Effi in »Schloß Wetterstein«. Hier ist der einzige, der ewig schwebende, ewig weichende, ewig sich neu erhebende Urgrund menschlichen Gefühls. Wenn sich hierher seine Seele ergießt, so wird sie rein wie das Reinste in seinem heroischen männlichen Dasein. Von der Penthesilea sagt er: »Mein innerstes Wesen liegt darin, der ganze Schmerz zugleich und Glanz meiner Seele.« Nicht in dem täuschenden, verwirrend verwirrenden Gefühl der Liebe zwischen dem männlichsten Mann und der weiblichsten Frau, sondern in dem Zug zum großen Untergang, dem alles lösenden, auch den großen Sprung überfliegenden. Wenn je ein Mann seinem Willen, nicht zur Macht, aber zur Größe, gerecht geworden ist, Kleist ist es. »Der Mensch wirft alles, was er hat, in eine Pfütze, nur nicht sein Gefühl.«

So sieht man Kleist untergehen. Im Herbste geboren. Im Herbste gestorben. Vor einem geliebten Menschen (nicht einem geliebten Weibe) kniend und dieses Wesen im Knien ermordend. Selig? Unselig? Geliebt? Gehaßt? Längst den irdischen Sphären enthoben, ein Wesen aus einer fremden Welt, dem auf Erden nicht zu helfen ist, weil es der Welt widersteht. Größer als das Maß der Welt, wie wir es gewohnt sind, schöner als die Welt sich uns zeigt und unser schwaches Auge es erträgt. Vergehen wird Heinrich Kleist für seine Nation niemals. Aber fremd ist er ihr, wenigstens in unserer Zeit, und gerade das, was das Unverlierbare war an ihm, ist uns Nachgeborenen nie Besitz geworden, wie es den Mitgeborenen niemals Besitz gewesen ist. So richten sich die Worte, die er beim Tode der geliebten Königin Luise aussprach, auch an ihn selbst und umfassen auf magische Art sein Leben, Leiden und Sterben, seinen hohen Aufgang und seine Unsterblichkeit:

Wir alle mögen, Hoh' und Niedere,
Von den Ruinen unsers Glücks umgeben,
Gebeugt von Schmerz, die Himmlischen verklagen,
Doch du Erhabene, du darfst es nicht!
Denn eine Glorie, in jenen Nächten,
Umglänzte deine Stirn, von der die Welt
Am lichten Tag der Freude nichts geahnt:
Wir sahn dich Anmut endlos niederregnen,
Daß du so groß wie schön warst, war uns fremd!


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