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Aktualität

Alles, was sich auf dem Erdenrund, in seiner kosmischen Umgebung auf dem Sternenhimmel, in dem lebenden Herzen oder in den Eingeweiden seiner Bewohner, in den Träumen und Gedanken von Mensch und Tier jemals ereignen kann, ist aktuell, das heißt, es ist im Geiste möglich. Dieser Begriff der Aktualität ist einer der weitesten von allen, die der menschliche Geist geschaffen hat. Dieser Begriff entstand nicht wie der der Ewigkeit aus der einfachen linearen Verlängerung des Begriffes der Zeit, sondern der Begriff der Aktualität wurde geboren aus der Freude des Menschen am Spiel. Es gibt außer ihm noch einen Gedanken von ebenso unermeßlicher Tiefe, das ist der Begriff der Identität, und eng verschwistert mit diesem dann den der Evidenz.

Während der letzten drei Jahrhunderte ist dieser Begriff Aktualität aus den Studierstuben scholastischer Mönche, die mit ihm wie mit einem Rechenpfennig unschuldig spielten, in die Zeitungen und Tagesberichte hinübergewandert, und man nennt nun aktuell in der Sprache der Zeitung und der Zeit einfach das Interessante. Was ist aktuell? Oder was ist es, das den Zeitungsleser, den idealen Typus des Durchschnittsgeistes, interessiert?

Aktualität ist beides: Bewegung und Begegnung; und ein Drittes dazu, ein Geheimnis, der lebende Same des Daseins, das Encheiresin der Natur, der wehende Schleier der Maja, den niemand lüften kann, weil jeder in ihn verstrickt ist. In diesem Sinne ist es in der alten Sage sehr bezeichnend, daß, wer den Schleier dennoch lüftet, wahnsinnig wird, das heißt sich loslöst von sich selbst.

Die Frage der Aktualität ist also im letzten Grunde keine bloß praktische Frage, sondern eine Frage über Tod und Leben hinaus. Für den Reporter ist sie es nicht, für ihn ist sie weiter nichts als eine Begegnung zweier aktueller Menschen, zum Beispiel wäre aktuell eine Begegnung des entthronten Wilhelm des Zweiten mit dem König von England, oder der Zusammenstoß zweier Autobusse auf dem Potsdamer Platz, aktuell wären die ersten Goldmünzen, die ein europäischer Staat nach dem Kriege zu prägen beginnt, aktuell ist das Leben und Sterben der Masse, das Anwachsen und Sinken der Teuerungswelle, die Zahl der Arbeitslosen, die Arbeitsleistung eines Kohlenförderers im Ruhrrevier, die erste chirurgisch gelungene Herznaht, die Nummer des gezogenen großen Loses und der Name, Beruf und Geburtsort des glücklichen Gewinners – also ebenso alles, worin sich die Woge der flutenden Zeiten geradezu abspiegelt, jeder Zufall, Wetter und Wind, die Voraussagen des meteorologischen Büros, die letzten Kurse, die Berichte und Zeugnisse über Leben und Tod, alle Nachrichten von Vermählung, Tod, Geburt, Begräbnis.

Aktuell ist aber nicht allein das Ephemere. Auch Shackletons oder Amundsens Eroberung der vereisten Erdenpole, Enthüllungen über Bismarcks Sturz, über die Mörderverschwörung gegen Rathenau, Geheimnisse und Bekenntnisse eines Verurteilten aus der Zelle können aktuell sein, weil sie an das im menschlichen Herzen niemals und nirgends auslöschbare, an das seelisch Aktuelle ebenso wie an das historisch Weiterwirkende appellieren.

Wir lernen unaufhörlich, nur wissen wir nie etwas ganz. Wir wandeln uns unablässig, ändern uns aber im Wesensgrunde nie. Wir sehen ohne Unterlaß die Welt, erkennen sie aber nie »im Grunde«. Wie wäre es denn auch anders möglich? Im Grunde ist es dunkel. Nur dieser Umstand unterscheidet ihn von der Oberfläche. Eine Oberfläche, die dunkel wird, ist ein Grund, ein »im Grunde«. Und ein »im Grunde«, das klar wird, heißt Oberfläche. Die Aktualität ist die Brücke zwischen diesen Erscheinungen. Die Zeitung und der persönliche Verkehr von Mensch zu Mensch, für den der Ersatz oft die Zeitung ist, beide geben uns Lektionen und ausgewählte Kapitel. Glaubt nicht jedermann, wenn er »seine« Zeitung gelesen und gelernt hat, nun wisse er, wie es in der Welt und in seinem Kreise zugeht? In Wirklichkeit weiß er nur, was aktuell ist, er empfängt nur das, was ihn ohnedies interessiert, was er schon vorher, wenn auch vorerst unvollkommen, gelernt hat. Die aktuellen Namen hat man ihm mühsam genug in jahrelang wiederholten Lektionen eingeprägt. Man muß der Zeitung und dem landläufigen Verkehr das Verdienst lassen, daß sie von einer nie zu ermüdenden Geduld sind. Und wenn zwei Themen aus diesen vorbereitenden Lektionen sich auf dem aktuellen Schauplatz der Gegenwart begegnen, wenn das schon halb Geahnte sich im Augenblick, eben in der Aktualität, vollzieht, dann triumphiert das »sichere Wissen«, das Bewußtsein des Gewissens. Es ist der Irrtum des Gewissens: denn das Wesentliche ist nicht die beschränkte Erscheinung, sondern das durch Menschen nicht zu beschränkende und deshalb auch nicht erfaßbare All. Nicht der eine Fall ist zwingend, unbestreitbar, evident, sondern die Fülle des für Menschen nicht Vorstellbaren. Und für dieses Nichtvorstellbare hat bis jetzt nicht die Zeitung, sondern nur die Religion oder die religiöse Philosophie Symbole und Werte gefunden.

Der Mensch (außer allem, was er sonst noch ist) ist und bleibt ein schlecht erziehbares, faules Kind. Wäre dieser schlechte Schüler in geringerem Maße der Autorität und der Historie hörig, dann könnte sich die Religion täglich neu aus dem aktuellen Augenblick entwickeln. Es könnten der göttliche, helldunkle Dom und daneben die aus Beton und Eisen und Licht gefügte Montagehalle des stärksten Turbinenmotors der Erde (beides ist aktuell) eine Einheit werden, das heißt, man könnte in der Montagehalle Gott anbeten, und in der Kirche könnten der Ingenieur und der Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts im Angesichte Gottes bleiben, was sie sind.

Dann würde der Geist des Aktuellen, das Reich des einfach nur Möglichen den Geist der Religion, das ist: den Geist des Höchsten und Notwendigsten, befruchten. Nur in Verbindung mit dem metaphysischen Gehalt des Glaubens ist der Hunger nach dem Gewissen auf Zeit und Ewigkeit zu befriedigen. Eisenbahnfahrplan, Börsenbericht, Erlösungsgesang und Todesgebet würden auf der gleichen Seite stehen, Zeitung und Meßbuch würden das gleiche werden. Die Menschen des Ostens, die Chinesen, und in Europa die Mohammedaner waren von diesem Zustand einmal nicht allzuweit entfernt. Es ist bewunderungswert, daß diese Menschen sich aus praktischer Lebensauffassung (aus Amerikanismus, wenn man das Wort gebrauchen darf) eine übersinnliche und dennoch stets aktuelle Religion zu bauen verstanden. Das Europa von heute ist noch durch tausend Hemmnisse geschieden von diesen Zielen, aber es ist denkbar, es ist im Geiste möglich, es ist aktuell, daß Europa nach der Überwindung der jetzigen Periode geistiger Dürftigkeit die Kraft und den glücklichen Augenblick finden wird zu einer Hochzeit zwischen Hier und Dort, zwischen Aktualität und Gott.


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