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Ordnung und Gerechtigkeit

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Wer wie ich überzeugt ist, daß diese unsere Höllenwelt von 1918 keineswegs mit dem Mobilisierungstag begonnen hat, wer mit mir in den letzten Jahren nur eine mystische Verwandlung der ewig über dem Dasein ruhenden bösen Mächte in sichtbare, greifbare, fühlbare sieht, der muß gesegnet sein mit einem aufrührerischen Optimismus, einem fanatischen Glauben an das Endlich-Gute. Denn sonst ertrüge er das Dasein nicht.

Mir schwebte schon vor Jahren vor, die Höllenkreise darzustellen, wie sie über die Oberfläche der Jahre 1910 oder 1911 dahinrollten. Ich sah nicht wie Dante die Hölle zugänglich gemacht durch eine moralische Stufenleiter, die im Dämonischen wurzelt und sich verliert ins Seraphische, seelisch Unbeseelte. Hölle war mir die Anschauungsart eines mit besonderen Sinnen Begabten, die Erlebnisform eines mit Gerechtigkeit Belasteten.

Wenn ich im Winter über die ausgefransten, mit Tod infizierten Korridore eines Wiener Hospitals zu fürchterlich der Welt Entgegensterbenden gehen mußte, konnte ich nicht mehr an eine letzte Erlösungsfähigkeit eines solchen Daseins glauben. Nach der Schlacht und dem Rückzug bei Rawa-Ruska war mein Gefühl: Nie kommt Gott, nie komme ich über dieses Rawa-Ruska, den Herbst 1914, hinweg, nie hinüber über den Saal 13 a, in dem die weiblichen Krebs-Pestkranken liegen, nie wölbt sich über uns der wolkenlose Himmel der klingenden Sphären.

Wo gibt es Freiheit für uns? Wo tagt der Gerichtstag, auf dem Gott ewig den Verteidigungsprozeß führt zugunsten der Welt und seiner selbst? Die Welt vor meinen Augen stand auf, die Welt vor meinen Füßen bäumte sich. Die Hölle um mich stieß durch die Feigheit meiner Seele, und Flucht sah ich nirgends. Ich war zu Hölle verdammt, während Amtsgenossen bloß einen »gewiß ja ein wenig strapaziösen Dienst machten, der aber nun doch einmal von jemand gemacht werden mußte«.

Es gibt unter allen eine große Zahl handfester Optimisten, die durchaus soldatisch empfinden, die das von ihnen stündlich Erlebte mit dem letzten Hauch der Seele glühend ableugnen, von sich fernhaltend alle pessimistischen und nervösen Herren. Die Stütze dieser Menschen ist durchaus nicht immer Macht (die schließlich jeder gewinnt oder besitzt, besonders über sich selbst, den er durch Verleugnen und »absichtlich blind sein« unendlich stärken kann), sondern Ordnung ist ihr Halt. Nicht die Erschütterbarkeit, das ist die Menschlichkeit, gibt ihnen Trost, Ruhe, Heiterkeit, sondern die Ordnung, das arithmetische Verhältnis der Existenzen zueinander, die kalte Relation, die blinde Zahl, der »Kopfstrich«, wie es in militärischen Haushaltungsbüchern genannt wird, ein senkrechter Strich in einer Rubrik, ein »Mann«, ein gottloses Phantom, seelenlos.

Was diesen Menschen aber unbegreiflich bleibt, vom ersten bis zum letzten Tag, was sie nie ahnen, was sie daher bewußt nie bekämpfen können, ist Gerechtigkeit.

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Ich stimme Romain Rolland in seiner Hoffnung auf eine Internationale des menschlichen Geistes, auf einen Bund menschlichster Gesinnung durchaus zu, wie ich jeder guten Hoffnung als einem vorwärtstreibenden, irgendwie Gott fördernden Motor zustimme, aber ich sehe gleichzeitig die Schwierigkeiten dieser Kristallisation: Ohne tiefste Verallgemeinerung wäre dieser Weltbund der Liebe machtlos, vergeblich, bloß ein Verein schöner Seelen. Geht man aber so weit, alle Menschen zu begnadigen, sie zu verherrlichen bis in ihre letzte Spur, sie in ihrer ganzen Wirklichkeit einzusetzen in den Schwung unserer Idee, sie zu verwirklichen, statt sie faustisch-sentimental auf das alte Später-Früher, Streben-Werden zu vertrösten, dann steht die nackte Hölle in unserem Bruder vor uns, gegen uns, über uns. Es ist ganz nutzlos, das gutklingende, leicht hingeschriebene und immer besänftigende Wort »Bruder« dorthin zu setzen, wo man sonst Konkurrent, Erbfeind, Idiot, Autokrat, Chauvinist, Wucherer, Blutsauger, Feind mit einemmal für allemal gesagt hat.

Hauptsache scheint mir: das Böse in den Mitlebenden, in allen Mitlebenden im tiefsten Herzensgrunde, also von Gott an, zu sehen, zu erkennen und trotzdem zu lieben oder ganz zu verzichten auf eine Verbrüderung hier oder dort. Was soll uns das »Liebet eure Feinde!«? Das Rufzeichen allein, das Kommando: seid voll Liebe, das könnte schon die Wolke des Segens, die sich auf das »Liebet« niedersenkt, verscheuchen mit böse funkelndem Gendarmensäbel, mit schwarz qualmenden Flammenwerfern. Aber daran allein liegt es nicht.

Der »Feind«, das ist die einer Verallgemeinerung, einer Weltvertiefung unzugängliche Perspektive. Der »Feind« ist das im schlechten Sinne Unverantwortliche. Der »Feind« ist der in böser Ordnung Eingeordnete, der Abgeurteilte. Von diesem Urteil bis zum Todesurteil ist ein weiter Weg, aber es ist doch ein Weg. Man muß tiefer gehen: Muß entweder Gott leugnend sich auf reine Zweckmäßigkeitsmaßnahmen beschränken, wissend, daß es bloß Zweckmäßigkeit, Polizeisinn ist, was sie diktiert. Dann ist eben der Feind bloß der Ruhestörer, der seinen geringen Spaß mit unseren teuren eigenen Interessen bezahlt, er ist der zufällig Böse, der schlecht befestigte Ziegelstein am Dach, der auf die Straße herabhängende, elektrisch mit 10 000 Volt geladene zerrissene Hochspannungsdraht: man komme mit Isolierhandschuhen heran, versorge ihn zweckmäßig, aber was soll Liebe einer Zufälligkeit gegenüber – hier schweige Gerechtigkeit. Oder muß man Gott als das Höchst-Denkbare, als das Höchst-Wünschbare mit dieser Höllenexistenz konfrontieren, man stelle sein Bild oder das eben für ihn gebrauchte Religionssymbol neben den Galgen, nicht aber auf den Richtertisch, trage es auf beiden Fronten entwickelten Schlachtlinien voran und pflanze es in Schützengrabennester, die mit Handgranaten ausgeräuchert werden, binde es an Tanks, die »erledigt« werden, statt es, wie bisher, bloß bei Soldatenvereidigungen und bei offiziellen Tedeums vorzubringen, denen doch nur die Gesundgebliebenen, also der Idee des Krieges widerrechtlich Entgangenen beiwohnen.

Ich glaube an die Möglichkeit einer neuen Menschheit unter einem neuen Gott. Soll aber Gott weiter existieren und endlich wirkend in uns werden, statt ewig widersprechend, soll er bei uns tagen, statt ewig isoliert zu starren, dann beginne die Revolution bei ihm. Statt Furcht und Demut: Freiheit und Liebe.

Ist aber Gott inkommensurabel, von ihm aus zu uns, dann sei er's auch, von heute an, vom Jahr der Hölle 1918, auch von uns aus zu ihm.

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Wenn wir Gott mit der von uns aus gesehenen, bewußt ganz anthropomorphen Gerechtigkeit konfrontieren, bäumt sich Ordnung auf: bürgerliche Ordnung, »göttliche Weltordnung. Man verweist bei den fürchterlichen Teufeleien der Welt auf die Harmonie der Gestirne, und wenn unsere Liebe zu Gott so groß glühend wird, daß sie gerecht zu sein beginnt und Gottes Wirklichkeit in die Wirklichkeit unserer liebenden Seele herüberträgt mit gewaltig schwingenden Armen, dann drängt man uns von der Erwirklichung Gottes fort zur Bescheidenheit, vergleicht das Menschliche mit dem vergänglichen Wurm (als ob man wüßte, was »Wurm« ist, und was die Vergänglichkeit für ihn), nennt mich eine armselige, menschliche Kreatur, mit Blindheit geschlagen, zur Vergänglichkeit bestimmt. Gut, zur Vergänglichkeit, aber lange noch nicht zur Vergeblichkeit. Für mich ist eben diese menschliche Kreatur das letzte, das denkbar Nächste, wenn auch nicht das einzig Denkbare. Und auf die Stelle, die meine Sehnsucht offen läßt, setze ich Gott, nicht als Herrn, sondern als Kameraden.

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Ordnung ist nur scheinbare Gerechtigkeit. Sie gibt dem durchaus Zufälligen, Ephemeren, den Thron der höchsten Gewißheit. Die »Familienordnung«, die »Schulordnung«, das sind die Fabriken der Liebe, die Fabriken des Geistes. Bürgerlicher Aufbau, scheinbar pyramidenhaft auf dem festesten Fundament fußend, im Innern ist er unwirklich, gehalten durch üble Worte, nicht durch Seele, sich neu gründend Tag für Tag, nicht auf Tat, sondern auf Arbeit, vermittelnd zwischen Ich und Du nicht durch Annäherung menschlicher Strahlung, also Glück, sondern wieder nur durch eine Ordnungsart, eine Kategorie der Macht, ein arithmetisches Gespenst, das in falscher Gleichung Glück bedeuten soll und Geld heißt.

Daß unser ganzes System auf einen imaginären Nullpunkt des Gefühls aufgebaut ist, den man Objektivität nennt, und der nie da war, und der dem Begriff der Menschlichkeit, also der Erschütterbarkeit direkt widerspricht, das fühlen wir heute besonders tief: da die streitenden Parteien den Frieden auf dem Boden der Objektivität, der »gerechten Interessen«, der »wirklichen Lebens- und Entwicklungsnotwendigkeiten« suchen, statt auf dem der Liebe um jeden Preis; jeder gute Friede müßte ein solcher um jeden Preis sein, denn die Gerechtigkeit selbst wirkt um »jeden Preis«, und das macht ihre Göttlichkeit aus, ihre Brücke zu Gott.

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Gerechtigkeit ist keineswegs der Versuch auszugleichen, unbekümmert, unbeteiligt, ungerührt mit harter Seele dazustehen, sich mühsam zu vereisen auf dem Nullpunkt des Gefühls. Gerechtigkeit ist vielmehr Parteinahme im tiefsten Glauben, durch den tiefsten Glauben an das Endlich-Gute. Zu lange hat man Gott entweder als Opfer eines Justizmordes gesehen und sich abgehärtet gegen die ewig mit dieser durch den Justizmord befleckten Welt, oder man sah Gott als Strafrichter, als Kriminalist, den die Tat erst als geschehene Tat angeht, der sieht, aber nicht spricht, der »objektiv« liebt und Ruhe und Neigung zu seelischen Versuchen und Versuchungen hat. Wir sehen Gott tiefer mit der Welt verwandt. Wir wollen nicht, daß die ganze Ungerechtigkeit des Daseins am Rücken des gegenwärtig Angeklagten zerbricht. Wir fühlen, und das ist der Kern unseres aufrührerischen Optimismus, daß die Entscheidung über die Welt nicht, noch nicht gefallen ist. Deshalb lehnen wir jedes Gericht von Grund aus ab und glauben, daß nie durch Mittel der Macht, nie durch ausgleichende Strafen, nie durch züchtigende Strafrute Gottes, diese Höllenwelt gerettet werden kann, sondern nur durch seinen Kuß, durch seine Kameradschaft, durch sein »Nebeneinander-Ineinander« im beschwingten Schweben der endlichen Zeit.


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