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Der neue Roman

Wie der sagenhafte Überwinder Macbeths ist der neue Roman lebendig aus dem Leibe seiner Mutter geschnitten worden. Das heißt, daß er seiner Mutter, der großen, vom Abenteuer entzückten, von der holden Lüge berauschten epischen Dichtung des Mittelalters das Leben gekostet hat, um vom ersten Tage an, wie ein wahres Himmelswerk, ausgestaltet und vollkommen dazustehen in dem Don Quichotte des Cervantes.

Aber ebenso wie diesem Mörder des Mörders, dessen Schwert, aber nicht dessen Geist, den Macbeth um ein Leben bringt, das innerlich in seiner irdischen Form längst überwunden ist, ebenso war es diesem Neugeborenen bloß beschieden, einen König zu töten, nicht aber ein Geschlecht von Königen zu schaffen. Seine erste Tat blieb seine einzige wirklich vollendete. Es ist eigentümlich für die höchsten monumentalen Ausstrahlungen europäischen Geistes, daß sie unvollendet bleiben. Dort, wo ein solcher monumental gestaltender Geist sich mit seinem letzten Ernst, mit der freudigen Ruhe des männlichen Zeugens über seine Welt beugt, sich unter die Welt beugt, gebend und nehmend zugleich, die Zeit gestaltend und doch von ihr gebildet, dort bleibt er auch am deutlichsten hinter seinem Ideal zurück, nämlich ein plastisches, dreidimensionales, überlebendes Spiegelwerk seiner Zeit und damit aller Zeiten zu sein.

Alle großen Würfe sind also Fragmente und der erste, der Don Quichotte ist es, ungeachtet seiner genialen Vollendung, auch. Der erste Teil, aus dem Geist des universalen Pamphlets entstanden, verlangt keine breitere Szene, kein weiteres Format. Er ist ein Ganzes, eine Hamletiade in Prosa, die blutigste Verhöhnung alles Unerreichbaren, aber mit unblutigen Mitteln!

Und gerade das ist sein reinster Wert, daß in dem Don Quichotte, erster Teil, weder getötet noch gestorben wird. So, wenn überhaupt, mag sich unsere armselige, schwankende Welt in den runden, großen Augen eines Gottes spiegeln. Wollte aber der Dichter Cervantes seine Idee in der schweratmigen Fortsetzung, dem zweiten Teil, bis ans bittere Ende treiben, seinen Helden bis ans Weißbluten demütigend erhöhen, dann wäre der einzig fruchtbare Augenblick derjenige gewesen, in dem Quichotte, vom Tode angeflutet, seinen Wahnsinn erkennt und in dieser lodernden Sekunde auch die ganze Welt in ihrem Wahnsinn und Widersinn erschaut und durchschaut. Dies ist aber eine Erkenntnis, der erst Nietzsche, und zwar von der Seite seiner Aphorismen und seiner frühen, durchaus apollinischen Ironie nahe gekommen ist, freilich nur, um sich nachher, von dem traurigsten Macht-, Gesundheits- und Schönheitsrausch im Engadin trunken geworden, so zu widersprechen, wie es nur ein betrunkenes Genie in der tiefsten Gosse des erbarmungslosen Daseins zu tun vermag. Darin, und nicht in der Gesamtheit seiner Lehre, scheint Nietzsche mir ein Symbol des grotesken Humors Gottes.

»Wilhelm Meister«, »Die Brüder Karamasow«, selbst »Der Grüne Heinrich« sind Fragmente geblieben.

Gustave Flaubert, der von den jüngeren Epikern unserer Zeit sehr Geliebte, hat in seinen schönsten Werken bewußt Fragmente gegeben, die nach Art des Degas und Manet durch den genialen Schnitt des Bildformates eine Vollendung dort vortäuschten, wo sie das Leben selbst nicht besitzt, nämlich in der erschöpfenden Darstellung des Tatsächlichen. Er ist in diesem Sinne ein starker Rückschritt hinter dem rücksichtslos die Welt auftürmenden und wieder zerschmetternden Cervantes, der in gewissem Sinne überhaupt ohne Nachfolger blieb: nämlich dort, wo er zufällige Kontraste (dick und dünn, Ritter und Plebejer) ins Gigantische steigert und dabei durch diese ungeheure Steigerung knapp noch das Maß der wirklichen Welt, wie sie durch Gott und den Satan geschieden, wie sie durch den Fleischmenschen und den Seelenmenschen belebt ist, erreichen kann. Flaubert macht sich die Sache schwer, wo sie für den einzigen Klassiker des Romans, Cervantes, selbstverständlich ist, im Stil. Die zweite Klippe, die Einbeziehung des ganzen menschlichen Wissens bewältigt Flaubert kaum noch; wenn er Wissenswertes und Wissensmögliches gibt, in »Salambo«, tut er es auf Kosten der menschlichen Seele und der tieferen, also nicht musealen Wahrheit.

So gewiß es ist, daß die Seligkeit des Künstlerischen nicht leichter verdient wird als die Seligkeit des religiös Strebenden, so gewiß ist es auch, daß sie nicht durch das nächtliche Studium von Atlanten, Akten und Fotografien (die in der Kunst eben Flaubert erfunden hat, obgleich sie in der Wirklichkeit damals kaum noch bestanden) errungen werden kann.

Goethe hätte sicher den Roman der Welt schreiben können, hätte er nicht, in seiner, der rein Goetheschen Heils- und Gesundheitslehre die Harmonie über alles gestellt: Harmonie am Beginn ist aber geradenwegs der Zeugung entgegengesetzt, denn, hätte Gott die Harmonie der Welt schon vor ihrer Erschaffung in seinen Schöpferhänden gehalten, dann hätte er die Welt nicht gezeugt. In seinem größten, tiefsten Roman, im »Faust«, der, übrigens Goethes ausgesprochenem Willen zuwider, auf der Bühne (unvollkommen) aufgeführt wird, hat Goethe eine epische Arbeit von nahezu geschlossener Vollendung geschaffen. Dies ist der größte moderne Roman. Daß er sich in Szenenform abspielt, ist eine Äußerlichkeit. Sie hat eine wesentliche Eigenschaft der weltgroßen Dichtung, nämlich den Humor. Noch tiefer wäre sie geworden, wenn eine Selbstverständlichkeit durchgeführt worden wäre, die doch unmöglich Goethe entgangen sein kann; die Figur Gottes, die, zwingend und herrlich bestimmend, im »Faust« das säkulare Werk einleitet, mußte auch in den anderen Szenen weitergeführt werden als unendlicher Kontrabaß einer unendlichen Harmonie: denn unmöglich kann der höchst unvollkommene Faust der Held des Werkes sein, denn er ist passiver als ein Stein, der von einem Dache fällt, er strebt um des Strebens willen, nicht aber um der Welt willen. Deshalb geht es ihm gut. Er leidet nicht, er trägt nichts, was ihn krönen könnte, wie den letzten Helden jedes echten Tragikers. Gott müßte aus ihm sprechen, der Satan mit ihm spielen, aber beide überlassen ihn ruhig seiner Fragwürdigkeit. Wahr, aber nicht tragisch. Daß Gott und alle Engelscharen am Schluß, oder besser gesagt, am Ende des Werkes erscheinen, kann nicht versöhnen, ja, das Werk im zweiten Teil löscht die Versöhnung aus, die der erste Teil selbst im stumpfesten Herzen und im blinden Auge erwirkt.

Hier schließt sich der Kreis Mephisto und Sancho Pansa, Don Quichotte und Faust. Daß es noch unzählbare Kreise gibt, außer diesen rein männlichen, wissen wir, aber keinen, der uns leichter zu schließen schiene als dieser, und den doch selbst die größten Genien der Menschheit, die reinsten Helden des vierten Zeitalters, zu schließen nicht die Kraft hatten.


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