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In dem Gymnasium, das ich besuchte, gab es einen Festsaal, den die Schüler nur in seltenen Augenblicken, bei besonderen Feierlichkeiten, bei Dankgottesdiensten und bei dem Abiturientenexamen betreten durften. Der Saal, in körnig-kalkigem Weiß, die hohen, strengen Säulen kanneliert, ab und zu eine feine Linie edles Gold, alles Würde, alles Zeichen des Bestehens, der Autorität, des ernsten, aber nicht gehässigen und jugendfeindlichen Geistes, in dem die Schule gefühlt wurde. Vielleicht ist durch den Geist dieses Saales mehr an Erziehungsarbeit geleistet worden als durch viele Unterrichtsstunden.
Was an Idealen in dem jungen Menschen sich entwickeln soll, wird hier gesät, der künftige Sportsmensch, der Fußballenthusiast ist der Vertreter der einen Richtung, der Ehrgeizige, der Autoritätsmensch, der an die Sendung der Menschheit Glaubende ist der andere Typus, und der dritte ist derjenige, der die wirklichen Werte des Lebens, Geld und Macht, Auftreten und Besitzen schon in der Schule und gegen die Schule erfaßt. Denn in der Schule wird man keineswegs zum praktischen Leben und zur realen Auffassung der wünschenswerten Dinge in der Welt erzogen. Wie könnte denn auch dies in einer Anstalt geschehen, wo man von der Macht des Geldes nie etwas erfährt, wo Mathematik und Griechisch gelehrt werden, aber nicht die Kunst, mit Menschen zu sprechen, noch auch die größere, Menschen anzuhören, und am wenigsten die größte, ihnen seinen Willen aufzuzwingen und sie dabei in dem Glauben zu lassen, es wäre der ihre? Die Schule hat ihre eigenen Ideale, und der Festsaal ist der heilige Ort, wo diese in Schweigen zwischen edlen weißen Mauern thronen.
Es gibt noch heute Menschen, die in ihrem ganzen Leben diesen Idealen, das heißt diesen Träumen und Illusionen nachjagen und die in einer doppelten Art von Heldentum ihre eigentliche Sendung, ihren Beruf und ihre Würde, vor allem aber ihre Freude finden. Doppelt deshalb, weil die Intensität ihrer Lebensführung die Riesenausnahme der genialen Natur verrät, und dann deshalb, weil das, was sie anstreben, so ganz verschieden ist von dem, was allen anderen als Lebensziel vorschwebt. Doppelt sind sie deshalb vereinsamt und ihre einzige, aber nie zu erschütternde Stütze haben sie an ihrem blinden, weltabgewandten Glauben an sich und an die unbedingte Notwendigkeit ihrer Ziele.
Wenn es ein Zeichen einer hohen Liebe ist, in ihrem Gegenstand das Unabwendbare, das Muß zu sehen und den sonst nur äußerlich empfundenen Zwang der Natur als innere Notwendigkeit zu fühlen, dem Schwung der Welten sich nicht zu widersetzen, sondern ihn zu überflügeln in dem unbeschreibbaren Rausch des Wirklichen – dann hat der vor einiger Zeit heroisch gestorbene Forscher Sir Ernest Shackleton, der Entdecker des Südpols, in dem edelsten Rausch des Wirklichen gelebt, geschaffen, gelitten und geendet. In einer Zeit, in der ganze Völker sich um niedere Interessen wie die Tiere und ärger als die bestialischsten aller Bestien zerfleischten, hat dieser in seinem Willen und Können unbeirrbare Held und Dichter das letzte Beispiel einer höheren Auffassung des Daseins gegeben. Er hat sich an der Chimäre gefreut, ist ihr bis in den geheimnisvollsten Winkel der unbewohnten Erde gefolgt, und in den Tatzen dieser Chimäre, die halb zärtlichste Mutter, halb blutdürstende Tigerin ist, hat er sein sterbliches Teil gelassen.
Man wird dem Film viel verzeihen, wenn man ihm dafür danken kann, daß er uns die Möglichkeit gab, den großen Abenteurer, den größeren Entdecker und den ewigen Jäger der Chimäre von Angesicht zu sehen. Der Film wurde so angekündigt:
»Shackleton, Südpolexpedition.
Ein naturgeschichtlicher Meisterfilm.
Ein lebendes Dokument.
Eine wahrheitsgetreue Schilderung eines ruhmreichen
Unternehmens.«
Gibt es also noch andere Unternehmungen auf unserer unseligen Erde außer der Eroberung der Märkte? Gibt es noch einen Ruhm, der nicht in achtstelligen Zahlen erschöpfend ausgedrückt werden kann? Gibt es noch Menschen und Werke, die nicht von einer sonst völlig unbeteiligten Nation zum Plakat ihrer Fabrikate herabgewürdigt werden können? Lebt der Geist des Festsaales noch in einigen, in wenigen, und sei es selbst in einem einzigen Menschen? Nein, er lebt nicht mehr. Der große Mann ist tot.
Das Klischee, das dem Film, nicht dem Mann zur Reklame dient, zeigte Ernest Shackleton ganz schlicht, in Straßenanzug mit weißem Umlegkragen, mit sorgfältig gekämmtem Haar. Ohne Orden, ohne Walfischjägerpelz, nicht auf der Kommandobrücke; sondern nur gepanzert mit dem Zug des großen Wollens in dem edlen Gesicht, dem man jetzt die Bestimmung eines sehr frühen Todes anzusehen glaubt. Dieses im Äußern bürgerliche Wesen steht in einer romantischen Umgebung. Ein zackiger, zerrissen aufgetürmter Felsen im Hintergrunde, ein schräg zwischen Eismauern eingezwängtes kleines Schiff mit kahlen Masten, leeren Rahen, ein Himmel, der in sinnlosen grauen Zickzacklinien die Öde der unendlichen arktischen Himmel bezeichnet.
Begraben liegt dieser große Mann in einem kleinen Walfischfängerhafen Südgeorgiens. Man überführe die Leiche nicht in das Pantheon, nicht in die Westminsterabtei, nicht in einen der vielen Tempel, wo Asche von Asche angebetet wird. Man streiche nicht aus den Lehrbüchern der Geschichte die Berichte der Erbfolgekriege und vieler unsinniger Siege und noch unsinnigerer Friedensfeste, um statt dessen das Leben, Werden und Sterben Shackletons in die leer werdenden Seiten der hohlen, unmenschlichen Historie einzufügen. Man lasse die Leiche dort, wo sie ruht.
Dieser Mann war groß. Dieser Mann hatte die physische Kraft, im Jahre 1916 (was tat Europa zu dieser Zeit?), während einer vierzehntägigen Reise in offenem Boote in arktischer, eisstarrender Luft, bloß zwei Freunde an seiner Seite, in den Hafen zurückzukehren, er hatte die physische Kraft, ohne Ruhe dann in Parforcemärschen das vergletscherte Gebirge zu überqueren, nachdem er auf offener See schon 1000 Kilometer zurückgelegt hatte, und jetzt, nach diesen wahrhaft übermenschlichen Anstrengungen ohne einen Augenblick der Ruhe, trotz der tiefsten Erschöpfung eine Rettungsaktion für seine auf der Elefanteninsel zurückgelassenen Gefährten ins Werk zu setzen.
Dieser große Mann war nicht glücklich. Er hat den Südpol, dem er sich mehr als ein Mensch vor ihm genähert hatte, nicht erreicht. Alle seine Unternehmungen standen unter bösen Sternen. Er sah diese Sterne, denn er war ein Mann des Lebens, er kannte die Wirklichkeit, er liebte sie. Er fürchtete sie und wagte dennoch alles. Der Held ist das quand même, das allen zum Trotz, das unpraktische, das heroische, das dichterische.
Sir Ernest Shackleton schrieb noch kurz vor seinem Tode einige Zeilen: »Nach dem furchtbaren Sturm ist es wieder ruhig und still geworden. So fängt das neue Jahr« (diese Tagebuchnotiz stammt vom 1. Januar 1922) »gut für uns an. Es ist doch merkwürdig, welche Rolle gewisse Tage in unserem Leben spielen. Während der fürchterliche Sturm am Weihnachtsabend tobte, glaubte ich nicht, daß das Schiff diesen überwinden würde, und die Angst grub sich tief in meine Seele, weil bis zum Schluß des Jahres mir so vieles fehlgegangen war. Die Maschinen waren nicht zuverlässig, wir hatten zu wenig Wasser mitgenommen, die fürchterlichen Stürme nahmen kein Ende.« Am 2. Januar: » Wieder ein herrlicher Tag! ... Um 1 Uhr passierten wir den ersten Eisberg, und der wohlbekannte Anblick weckte in mir Erinnerungen, welche die letzten anstrengenden Jahre bereits hatten verblassen lassen. Die blauen Klüfte des Eisberges leuchteten weithin, und im Meer ließ der Eisberg eine grüne Spur hinter sich. Wieviel Jahre sind vergangen, seitdem ich in meinen besten Mannesjahren zum Kampf auszog! Ich bin alt und müde geworden, muß aber doch weiterarbeiten.«
Welch ein Zeichen hoher Liebe, in ihrem Gegenstand das Unabwendbare, das Muß zu sehen, den sonst nur äußerlich empfundenen Zwang der Natur als innere Notwendigkeit zu fühlen, dem Schwung der Welten sich nicht zu widersetzen, sondern ihn zu überflügeln im unbeschreiblichen Rausch des Wirklichen!
Des großen Mannes letztes Wort, einige Stunden vor seinem Tode: »Wieder ein wunderbarer Tag ... Das Glück scheint uns im neuen Jahr treu zu bleiben ... Endlich haben wir an einem friedevollen, sonnigen Tag in der Grytbucht in Südgeorgien Anker geworfen. Der Geruch der Wale durchdringt alles ... In der Dämmerung des Abends sah ich einen einsamen Stern sich wie ein Edelstein über die Bucht erheben ...«
In dieser Bucht liegt Shackleton begraben. Von den Sternen des südlichen Poles überschimmert, starrt in Eis und Frost das Grab des letzten großen Europäers.