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Tod, Erkenntnis, Heiligkeit

Es kann kein bloßer Zufall sein, daß wir, sobald wir mit unseren Worten in die Nähe des Todes kommen, phrasenhaft werden. Was ist »Phrase«? Doch nur der Versuch, eine Tatsache oder Erkenntnis zu umfassen mit Worten, die nicht fassen und binden. Wenn schon das schärfste, echteste, wahrste, phrasenfernste Wort nicht auf immer faßt und nicht aus tiefstem Grunde bindet, so schlottert die Phrase nur aufs Ungefähr und trifft, wie es trifft. Ihre innere Überflüssigkeit, ihr Über-flüssig-Sein ist nichts als ein Hohn auf die ordnende Institution der Sprache. Warum aber bekommt selbst die Rede des Sachlichsten dieses Phrasenhafte, sobald sie das Gebiet des Todes berührt? Weshalb nirgends, auf keinem Friedhofe der Welt eine »echte« Grabschrift? Weshalb auf allen Leichensteinen bloß die stereotype Wiederholung der ohnmächtigsten Redensarten und nie auch nur die kleinste wesenhafte Beziehung zu dem nicht-stereotypen Menschen, zu dem niemals sich wiederholenden Individuum, dessen »Hülle« unter dem mit Phrasen beschmierten Grabsteine liegt?

Sollte es unmöglich sein, etwas Wesentliches über den Tod zu sagen? Ist es unmöglich, ihn zu begreifen, und daher auch unmöglich, ihn auszusprechen? Soll ein mehr oder weniger gutes Bild, wie das eines zerbrochenen Schlüsselringes, wobei die aufgereihten Schlüssel das überlebende, der Ring das vernichtete Teil bedeuten, alles sein, was uns zu sagen bleibt? Wenn aber das Aussprechen bereits unmöglich ist, wie sehr dann erst das Deuten? Wie schwer das Einordnen dieser ungeheuren Erscheinung in unser Dasein? Nur »ungeheuer« diese Erscheinung? Nicht vielmehr alles deutend, alles bedeutend?

Wie soll der Mensch sich nach dem Tode, nach dem ewig sicheren, richten, richten nach Maß und richten nach Gerechtigkeit, wenn man diesen doch nicht fassen kann – ja nicht einmal anders suchen kann als durch leere, haltlose, schattenhafte, ausgesogene Worte, Phrasen, weit haltloser und ausgesogener und schattenhafter als er selbst es ist, der Tod?

Ist der Tod mit unserm Denkvermögen deshalb nicht erfaßbar, weil die Grundlage jeder Denktätigkeit das Lebensgefühl ist? Ist dieses Bewußtsein des Lebens die Grundkategorie, die conditio sine qua non? Soll es heißen: Sum, ergo cogito? Ist aber dieses Axiom wahr und nicht das berühmte cogito, ergo sum des Cartesius, dann dürfen wir nie erhoffen, vom Tode Wesentliches im Gedanken zu erfassen. Dann müßten wir uns mit der Phrase genug sein lassen. Ist also dieses sum ergo cogito wahr, dann wird alles Denken nur Obertöne des immer schwingenden Lebensgefühles oder kontinuierlichen, fließenden Lebensbewußtseins geben. Da aber dieses Grundtönen während der Dauer des Daseins nie aufhören kann zu fließen, sich fortzusetzen, weiterzuspinnen, dann wird auch keine Gedankenzucht, keine logische Schule uns das Nicht-Sein begreiflich machen. Wir müßten uns dann damit abfinden, daß wir eine Grundtatsache des Daseins niemals durch-denken, höchstens an-denken werden. Nämlich: daß die Welt weiter besteht, wir aber nicht mehr in ihr.

Bei oberflächlicher Betrachtung erscheint zwar nichts leichter als das: sich die Welt in ihrem gegenwärtigen Bestand geistig vorzustellen, sich dabei aber auszunehmen. Dann hätte man also den eigenen Tod begriffen und die Lücke erkannt, die man hinterlassen wird, und in diesem Sinne hätte man seine eigentliche, seine zwingende Bestimmung begriffen, das, was man Schicksal nennt. Dieses »Sich-selbst-dabei-Ausnehmen« ist aber nicht möglich. Ist doch die »Vorstellung der Welt in ihrem gegenwärtigen Bestand« nichts anderes als die überströmendste, prachtvollste Manifestation des »Ich selbst«. Ist doch das Weltbild, wie es eben gedacht wurde, ein souveräner, ein fürstlicher Zeugungsakt dieses »Ich selbst«, und welcher Zeugungsakt könnte ohne das Ichselbst vor sich gehen? Ohne dieses Individuum, das sich eben von der Welt fortgedacht zu haben glaubt? Vergebliches Beginnen! Eher springt einer über den eigenen Schatten. Physikalisch ist dieses über den eigenen Schatten Springen ein lösbares Problem, ein durchaus vorstellbarer Vorgang. Es muß sich ein Körper nur schneller fortbewegen, als es die Sonnenstrahlen tun. Ist dieser Körper, etwa ein kreisender Ionenkern, behend genug, die Lichtgeschwindigkeit in der Zeiteinheit zu schlagen, dann kann er aus seiner Stellung fort, ehe die nächste Lichtwelle eingetroffen ist, er ist daher über seine trägen Schatten gesprungen. Daß aber ein kontinuierlich denkendes, ein kontinuierlich existierendes Wesen sein Nichtexistieren sich durch irgendeinen Kunstgriff sollte vorstellen können, das ist grundsätzlich unmöglich.

Diese Erkenntnis nimmt uns den Mut zu vielen anderen, dennoch ist sie nicht ohne Tröstung.

Vor allem haben wir das subjektive Unsterblichkeitsgefühl. Können wir uns den eigenen Tod nicht vorstellen, dann kann er in unserem Geiste, in unserer tieferen Wirklichkeit auch nicht bestehen. Wir können den Tod aller Menschen, nur uns selbst ausgenommen, per analogiam aussprechen, ihn praktisch »als ob« packen, aber er wird im Grunde nicht faßbar sein, und hier berührt sich das praktische Denken mit dem rein erkennenden.

Daraus, daß uns der Tod verschlossen ist und daß uns seine Erkenntnis auch trotz der »Erbsünde« verschlossen bleibt, haftet unserm Denken freilich ein gewaltiger Mangel an, es fehlt uns, und zwar auch den klarsten, ehrlichsten, deutlichsten und am tiefsten deutenden Geistern unter uns, eine Dimension. Wir sind gespenstisch. Wir erwecken nur den Anschein einer vollen Lebensfülle, können dieser Lebensfülle aber nicht Genüge tun. Der Degen der Wirklichkeit geht durch uns hindurch wie durch Luft. Daher das biblische Wort von der Eitelkeit. Gespenster sind wir in ganz anderm Sinne, als Ibsen es meinte. Ibsen hat gerade das Nichtgespenstische unserer Existenz als Gespenst in seinem Theaterstück (eine Tragödie ist es nicht) auftreten lassen. Nämlich, daß im Sohne die Wirklichkeit, die Schicksalsfügung des Vaters noch einmal heraufkommt und leibhaftig über der Erdoberfläche wandelt und daß sein, des Vaters, küssehungriges Herz mit den Lippen des Sohnes noch einmal küßt – dies ist das Anti-Gespenstische, denn es bringt die irdische Unsterblichkeit, das Nichtabreißen des gesponnenen Fadens, das Nichtaufhören des Fließens, die große Kontinuität der Fruchtbarkeit und somatischen Vererbung zum Ausdruck. Was soll daran gespenstisch sein? Viel eher wäre der Geist von Hamlets Vater ein Gespenst, denn es ist der Geist eines tatendurstigen, männlich gesammelten, der Wirklichkeit urverwandten Mannes, der nach Rache schreit, der mit der äußersten Hartnäckigkeit sich nach oben drängt und sich nicht vertreiben läßt, auf seinem Willen besteht – alles Eigenschaften, die nicht auf seinen Sohn Hamlet gekommen sind. Er hat sich also nicht vererbt und wird nicht wieder erscheinen, sein Pochen unter der Erde ist vergebens, er wird nicht erhört werden, er wird nur Unruhe stiften, aber Entscheidendes nie veranlassen, er wird immer Erscheinung, seelische Kulisse, nie aber »letzte Wirklichkeit« sein.

Die Tatsache, daß die großen, ehernen Wesenheiten des Daseins, also Tod und Ende, Schicksal und Bestimmung – sie alle ein unzertrennliches Ganzes –, uns geistig nicht zugänglich sind, hat sich vielen Denkenden der gegenwärtigen und der früheren Zeit erwiesen. Diese Erkenntnis aber könnte von der höchsten Glücksbedeutung für uns sein. Wüßten wir genau, was wir der Welt bedeuten und wessen wir würdig sind, das Nichtswürdige könnte nicht so mächtig in uns wuchern. Wenn aber einer weiß, er ist nur Spreu, Abfall und Asche, ein Moskito in den Mangrovendickichten, ein in Milliardenzahl wucherndes, summendes und bald krepierendes Insekt, wird es ihm schwer, das Niederträchtige in seiner Seele zu zügeln. Das Minderwertigkeitsbewußtsein macht noch minderwertiger. Die Todesstrafe, die auf die gemeinsten Verbrechen gesetzt worden ist, bestärkt den wahren Verbrecher nur noch mehr in seinen bösen Neigungen. Sie ist keine Strafe, sondern eine vorzeitig mit ± abgeschlossene Rechnung, denn niemand kann sagen, welchem schrecklicheren Schicksal er durch die Hand des Henkers entgangen ist – dann war der Henkerstod eine Belohnung. Eine Sühne ist er nie. Noch ein Grund mehr gegen den Vollzug einer Hinrichtung, die außerdem das deutlichste Schwächebekenntnis des Staates darstellt, der damit zugibt, er wisse nicht, wie er sonst des Verbrechers anders Herr werden und die Gesellschaft vor ihm schützen solle. Sehr richtig daher, daß der moderne Staat sich wenigstens seiner Hinrichtungen schämt und sie abseits der Öffentlichkeit in einem Gefängnishofe hinter hohen Mauern vollziehen läßt. Ein gutes Gewissen beweist dies nicht.

Aber man muß gar nicht bis zu dieser extremen Konsequenz gehen, um zu begreifen, wie ungeheuer wichtig es für den einzelnen wäre, zu wissen, »wie weit er in der Welt steht«, was sie, die Welt, ihm gerechterweise geben, was sie ihm billigerweise verweigern darf. Nicht ohne Grund ist das Andenken eine der stärksten Stützen der Sittlichkeit bei allen großen Kulturen, besonders den östlichen. Es ist als Moralbegriff weit wertvoller als der in unserer Kultur sehr mißbrauchte Begriff der Ehre, der ganz auf das Individuum zurückgeht, und auch bei der Ehre (und den Interessen!) einer Nation ist es oft weiter nichts als ein ungemessen aufgeblähter Massenegoismus. Das Andenken eines Mannes oder Volkes aber ist der Schatten, den sein Dasein auf das Leben und Streben seiner Nachkommen wirft, also etwas sehr Greifbares, mit Rechten wie mit Pflichten Versehenes. An dem Andenken eines Mannes könnte man die innere Dauer eines Daseins messen. Maß aber ist die herrlichste, die einzig stetige und dauernde Stütze im Dasein des einzelnen und der Gemeinschaft. Es wäre wohl des Nachdenkens wert, sich darüber klar zu werden, ob die Lehre des Christentums in Kirchen, Gebeten und Werken angebetet wird oder das Andenken eines Heilands, eines göttlichen Menschen, eines Überlebenden.

Den Menschen auf das höchste ihm erreichbare Maß zu bringen, das ist das Streben nach Heiligkeit. Im Heiligen soll das Andenken schon zu Lebzeiten wirksam, aktuell, heilwirkend und beispielgebend sein. Echte Heiligkeit und echter Tod sind daher zwei unvereinbare Begriffe, Antinomien. Wie steigert man das Maß des Menschen zur Heiligkeit? Die christliche Lehre versuchte es (nun nicht mehr) durch die Steigerung der von dem Heiligen für andere Menschen erduldeten Qualen und Leiden. Nur hat dies große Schwierigkeiten. Dieses Leiden setzt, und das schon beim ersten Heiligen der Kirche, Christus, die Schuld der Nebenmenschen voraus, für die doch der Heilige gelitten haben soll. Der Heilige bringt also den Nebenmenschen dazu, seinen bösen Kern wuchern und ausschlagen zu lassen, will ihn dadurch dennoch liebend läutern – ein Widersinn, an dem mehr als ein großer Nachbeter des Christentums, Dostojewski unter andern, gescheitert ist. Dazu kommt, daß keine Lehre der Welt auf tätige, männliche, über die natürliche Lebensdauer hinaus wirkende Menschen verzichten kann. Wie soll aber der, dessen Stärke im Ertragen und Enden besteht, wirken? Und wenn schon ein Tod, sagen wir, der erste, beispielgebend sein soll und sich in der Umwandlung der schauerlichen Welt ausgewirkt haben soll, was sollen dann die Schreckensberichte über die furchtbaren Leiden der nachfolgenden Märtyrer? Sie sind denn auch aus dem europäischen Bewußtsein mit Recht verschwunden. Geblieben ist nur der heitere und positive, unchristliche Franziskus.

Andere Geister, andere edle Naturen haben versucht, den Tod und die Vergänglichkeit, das unzureichende Maß der menschlichen Seele auf andere Weise zu überwinden. Die indische adelige Lehre Buddhas lobt die Einsamkeit, die Bedürfnislosigkeit, die Milde, die Meditation, den möglichst leeren und ruhigen »seelischen Raum«. Mir erscheint es aber nicht wahrscheinlich, daß man sich durch Einsamkeit, Gedankenversenkung oder durch völlige Körperruhe (Jooghi) den großen Wesenheiten, dem wahren Bilde von Tod und Leben, mehr nähern könne als sonst. Zwar fallen die Weltlichkeiten, die irdischen Wünsche, die Überschätzungen, die Eitelkeit und die Ironie fort. Für den, der zu seinem wahren Ich zurückstrebt, gibt es keine Phrase, keine gut geprägte, aber falsche Münze des Weltlaufes. Aber damit ist der Effekt auch an sein Maximum gelangt. Denn in demselben Maße, als die »weltliche Hülle«, der Schleier der Maya abfällt von dem sinnenden, in sich versunkenen Buddhisten, desto stärker tritt der Grundton des vorhin geschilderten unbewußten Lebensgefühls, das kontinuierliche Daseinsgefühl in den Vordergrund. Gerade in der tiefsten Einsamkeit wird dieser Grundton, da die Obertöne schweigen, noch stärker, dominierender. Die Kontinuierlichkeit, das unaufhaltsame Weiterfließen, wird dem Isolierten zum Grunderlebnis. Diese Kontinuität ist die Ewigkeit im Zeitlichen. Es bleibt dem Isolierten, dem Büßer in seiner Zelle, dem Asketen auf seinem Blätterlager nichts übrig, als daß er die Wirksamkeit, das Ordnen, das Bauen, das Richten und Aufrichten andern überläßt. Auch das Zeugen. Wenn aber auch die Menschheit – und das wäre dann das Ideal – ausstürbe, was wäre getan? Wäre im Kosmos viel geändert? Auch das Menschengeschlecht ist und bleibt ein vergängliches Produkt. Verurteilen wir es zum Tode – kann dadurch wirklich die anscheinend fehlerhafte Anlage der Welt geändert sein? Ebensowenig geändert wie durch Vollzug eines Todesurteils der schuldige Verbrecher. Gewiß, Gerechtigkeit vor allem. Dann erst Gnade. Über allem aber Erziehung mit Hilfe aller großen Gaben des Menschengeschlechtes, aufgerufen gegen seine bösen Gaben. Auch der Buddha erzieht; aber er erzieht nur die bereits ihm zugewandten Jünger, die seines persönlichen Einflusses als einer Gnade und auch sie nur in der Zeit teilhaftig werden. Das eremitisch Brütende, das buddhistisch Büßende aber kann, wenn es überhaupt im Ernst und in Wahrheit begonnen ist, nur mit praktischen Bestrebungen und Werken enden. Werk aber ist Welt. So endet es auch bei Buddha mit Abkehr von selbstquälerischen Hungerkünsten (Neumann legt dies in den Anmerkungen zu seiner herrlichen Buddhaübertragung sehr klar dar), er endet mit Abwendung vom Blute, mit Schonung und Liebe für das Tier, mit vorsorglicher Klugheit, Lebenskunst, taktvollem Benehmen, sozialem Verhalten und Höflichkeit des Herzens. Aber das alles sind Tugenden, die einer nur im Lauf der Welt bewährt, nicht in der stillen Felsenzelle, wo er über seinem Leibe »brütet«. Es ist sehr bezeichnend, daß Kipling in einer schönen Novelle seines »Neuen Dschungelbuches« einen Hindu-Weltmann der höchsten Kaste, der indisch-britischer Minister gewesen ist, nach Absolvierung seines höchst ehrenvollen Staatsdienstes in die Einsamkeit gehen läßt. Bis dahin ist alles mit »Ernst und Wahrheit« begonnen. Aber mit diesem Abseitsgehen ist kaum ein Kontrast des vergänglichen Ich zu dem unvergänglichen Sein gestaltet. Zur heiligen Tätigkeit kommt dieser starke und edle Mann erst bei einer Katastrophe, einem ganz und gar irdischen Ereignisse. Es ist ein Bergsturz, meisterhaft geschildert, in dem der Minister, ähnlich dem Helden einer japanischen Legende, die Gemeinde des bedrohten Ortes sammelt und rettet. Hier aber ist das reine, das ent-erdete Denken und heilige Handeln schon wieder ganz zum praktischen geworden. Der große Mann und sein größerer Schöpfer sind im Kreise gegangen, ohne es zu merken. Denn in demselben Sinne war das Leben des Hindu in den niederen Stufen seines Erdenlebens, in seiner amtlichen Ministerzeit, gerichtet gewesen, und über diesen Grad der höchsten Ausnützung angeborener Gaben durch Erziehung und durch Klarheit ist eben auch durch Isolierung, Kasteiung, »Weltabgeschiedenheit« keine weitere Steigerung mehr möglich. Man kann aus einem Menschen »mit Gewalt« keinen Gott machen, wohl aber kann man das Göttliche in ihm besonders stützen, pflegen und hegen und sich daran freuen. Diese Freude wird wohl die reinste Freude sein, die dem Menschen beschieden ist.

Ganz im Gegensatz zu diesem freudigen Erziehungswerke, im Gegensatz zu dieser »Güte als Freude an der menschlichen Erscheinung« ist durch das Christentum, in dessen welthistorischem Schatten wir heute noch leben, versucht worden, die Welt-bedeutung, die Welt-wesenheit des einzelnen durch das Leid und das Unglück zu erhöhen. »Unglück ist der Beruf zu Gott«, sagt Novalis in einem Briefe. Nun gibt es aber kein Leid, kein Unglück auf der weiten Welt, das den Betroffenen nicht mit der äußersten, unwiderstehlichsten Gewalt zu sich und zwar in die engsten Grenzen dieses Ich-Selbst zurücktriebe! Nie erlebt ein Mensch sich stärker, niemals wird er sich selbst unentrinnbarer als im Leide. Der Tod erlöst, wenn einen, dann nur den Sterbenden, und zwar von sich. Hier ist die Kontinuität zur Starre geworden, das weltliche Herz zum Stein, der fließende Atem zum ewigen Winde. Daher in der Geschichte der Märtyrer aller Zeiten und Zonen so viel Ichberauschung bis zur Weltvergessenheit, Unduldsamkeit, Härte, Winter der Seele.


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