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Den größten Meisterwerken aller Zeiten und aller Völker scheint eine kaum beschreibbare Ruhe eigentümlich zu sein. Ist diese nur mit der Seele zu erfühlende, nie mit dem Verstande nachzurechnende Wirkung der Ruhe ein echter Beweis dafür, daß ein Mensch in einer bleibenden Leistung sich über sich selbst erhoben hat, daß er, der persönlich Unheilige, mit seinem Werk leise in den Bereich des Heiligen getreten ist?
Gerade in einer Epoche wie der unsrigen, in der sich die Menschen bis ins Innerste ihres Innern mit Schande bedeckt haben, gerade in solchen Zeiträumen tut es not, die jungen, die kommenden Geschlechter auf jene Werke hinzuweisen, die nicht nur den Adel einer Nation prägen, sondern darüber hinaus den Anspruch unseres ganzen, elenden Geschlechtes auf Heiligung rechtfertigen. Es ist unser unverbrüchlicher, wenn auch mit Worten nie zu beweisender Glaube, daß diese Werke, und als dieser Werke höchster Gipfel, eben diese unbeschreibliche Ruhe, zwingend dartun, daß aus unserem zu reinstem Segen und furchtbarstem Fluch begnadeten Wesen die Schöpfung des Herrlichsten entsprießen durfte, die Schöpfung des Schöpfers, die liebevolle Zeugung des großen Ahnen durch den armen Sohn.
An eine Entwicklung im Sinne der Darwinschen Naturwissenschaft zu glauben und eine Stufe lebender Kreaturen als rohen Stoff gegen eine höhere auszuspielen ist mir fremd. Aber wenn diese in niederem Sinne optimistische Entwicklungslehre uns seelisch so weit entfremdet ist, daß wir die Gedanken der letzten Generation vor uns nur nachzurechnen, aber nicht mehr nachzufühlen imstande sind – an einem Sinn über die irdische Erscheinung hinaus, an einer Gemeinschaft über die Familie und die Nation hinaus werden wir nicht verzweifeln. Was ich die Ruhe nenne, ist vielleicht nur ein Zeichen und nicht das tiefste, nicht das klarste, nicht das letzte Zeichen, aber eines, das sich vielen zeigt, wenn auch wenige es nennen mögen und niemand es ganz deuten kann.
Dieses Merkmal der Ruhe ist der Malerei des Grünewald nicht fremd. Doch ist es nicht deutsch. Eigen ist es auch den großen Götterbildern der Chinesen, jenen Statuen, die, nur aus Lehm gebildet, vor einigen Jahren aufgefunden wurden, in Berghöhlen, tief in den Schluchten, in der Stille der Wälder; Lohans, Götterbilder, Zeugen nicht minder einer großen Kunst als Zeugen des unbesieglich hohen Optimismus dieser großen Nation. Welcher Grad von Glauben gehört dazu, die letzte Offenbarung einer Gott suchenden Seele, das stärkste und in seiner Namenlosigkeit doppelt erschütternde Standbild eines transzendenten Lebens einem so gebrechlichen Stoffe anzuvertrauen, der beinahe schneller zerfällt als die Hand, die es eben gebildet hat? Wie ist dies ganz anders als die ephemeren Bildwerke des glaubenlosen Europas aus der Zeit 1870–1914, das ihre Nichtigkeit in das schwerste Material, in Marmor, Bronze gekleidet und die leeren Augen ihrer Statuen mit echten Edelsteinen geschmückt hat.
Was sich in diesen großen stillen Götterfiguren Chinas, den Lohan ausdrückt, spricht zu uns auch aus Mozarts Werken. Mehr als aus denen des Bach. Das scheinbare Tändeln, die Rosenketten in der Hand des tanzenden göttlichen Kindes Mozart dürfen nicht täuschen. Dies ist nur die äußere Erscheinung, mit ihnen ist Mozart nicht erschöpft. Wie bei den Götterfiguren Chinas tut die Vergänglichkeit des Lehms nichts zur Sache. Es muß etwas Mystisches und im letzten nie ganz zu Begreifendes am Werke sein, wenn ein Mensch mit all seinen Menschlichkeiten Göttliches schafft, wenn er über seine Nation, über seine Generation, über alle Grenzen hinaus auch in anderen, Späteren dieses Göttliche zur Gewißheit erweckt.
Was ich Ruhe nenne, scheint mir der Weltrhythmus zu sein, der nur scheinbar längst geordnete und befriedigte Rhythmus der weitesten Sterne, der hier sich in den reinsten Verhältnissen auf das Maß des einzelnen Kunstwerkes überträgt.
Alles kann bleiben, wir wollen nicht ändern, wir fühlen eine Welt (nur eine kleinere, nicht eine niedrigere), völlig einer andern (nur einer höheren, nicht einer fremderen) hingegeben. Es ist gemußt von oben, gewollt von unten, aber dies widerspricht sich nicht, sondern es versöhnt.
Daß zwei Welten harmonisch wenigstens in einem Atom Zeit und Raum ineinander klingen, ist ein unabänderliches Gesetz und ein tröstliches, bei aller Furchtbarkeit der einzelnen Erscheinung. Wir wissen es, wir fühlen es mit letzter Gewißheit. Mit unserer ganzen Erbärmlichkeit gleiten wir an diesen gottgewollten Werken herab auf unsere Knie: Wir begreifen, daß wir sterben und verenden können an ebendieser Vergänglichkeit, daß wir ersticken in den Netzen dieser unserer Grenzen. Aber ein Leben steht hinter diesem Leben. Ein hoher Sinn hinter der Erscheinung. Wir sind verworren, wir wissen es in diesem Augenblick. Das höchste des Daseins ist Klarheit. Der reinste Sinn die Gewißheit. Dies ist die Ruhe, darin liegt der Trost.
Nicht Frieden, nicht Sättigung, nicht Stille ist es, was sich in solcher Stunde zwingend gegen jede Wahrscheinlichkeit, was sich überzeugend ohne Gründe offenbart. Friede ist nur der in die Zeit gebannte Ausgleich der auf Erden doch nie zu vereinenden Gegner. Die Ruhe aber ist der Gegensatz, der durch die ganze wild bewegte Welt geht. Aber dort müssen wir den Gegensatz erfassen, wo er nicht mehr schneidet, dort die Feindschaft erfühlen, wo sie nicht mehr scheidet, dort die Schwere des Lebens auf uns nehmen, wo sie schon ohne Bitterkeit ist. Die Welt begreifen, ja, aber dort, wo eines das andere hebt, wo das eine auf die Stufen des anderen steigt, Sinnbild des nie mit leiblichen Augen zu Sehenden, Beweis des nie Erlebten.
Wenn Grünewald im Isenheimer Altar den in die höchsten Sphären auferstehenden, wachsenden, blühenden Heiland zeichnet, wenn seine Regenbogenfarben in ihrer gesammelten Vielfalt sich auflösen in den aufgeblätterten Falten seines schon ins Unabsehbare verwehenden Göttergewandes, wenn dieser heilende Heiland seine Handflächen vor sich hinhält und wenn diese Hände, ebenso wie sein Angesicht, aus dem Überirdischen her freudig zu strahlen beginnen, wenn Jesus schon die Erde mit ihrem Schmutz, ihrem Schmerz, ihrer Schuld und Schande vergessen hat, vergessen bis zur völligen, bis zur ewigen Vernichtung dieses Schmerzes, dieser Schuld, dieser Schande – ist dann der Gegensatz zwischen Gott und der Welt befriedet? Ist der Schmerz besänftigt? Ist der Abgrund ausgeglichen? Gesteigert ist er, unabänderliches Muß ist er geworden, so tief ist er unabänderliches Müssen geworden und zartester Trost zugleich, daß das Christushafte in uns selbst sich erhebt. Gewaltsam anschwellend, in der schwersten, tiefsten Blüte steigt es auf. Wille und Zwang, Muß und Wollen, Trost und Leiden, Schuld und Versöhnung: Ruhe in der Kunst, nicht mehr im Maler, nicht allein im Heiland, nicht mehr im schweigenden Beschauer, über uns allen, uns alle deutend, uns alle bedeutend, das Wesenhafte von uns allen fassend und vernichtend, tötend zugleich und heiligend.
Alles ist ruhig, da alles unabänderlich ist. Gewollt von oben, gemußt von unten.
Deshalb ist es tragisch. Wie soll vor diesem Christus einer von uns sich halten, bewahren, schützen? Wie soll er angesichts dieser höchsten, reinsten, alles umfassenden Erscheinung seine umgrenzten Sorgen, seinen vergänglichen Namen, seine Nation, wie selbst seine Schuld und Sühne einem Überaugenblick wie diesem entgegen werfen?
Wir müssen erblassen, wir fühlen uns aufgelöst, ausgelöscht. Und darin, in dieser Auflösung genießen wir eine Entzückung, wie man sie sonst auf Erden nie erlebt, wir wissen mit der innersten Bewußtheit, mit der sanftesten Gewißheit, daß es notwendig ist zu ruhen, daß es selig ist: zu vergehen.
Laßt König Lear seinen Jammer in der vom Novembersturm an allen vier Enden aufgehobenen Gespensterheide aus sich herausschreien und seinen Jammer doch nie erschöpfen! Wenn wir ihn hören, begreifen wir nicht die Verknüpfung zwischen Schuld und Strafe, nicht das furchtbare Band zwischen Torheit und Wahnsinn, nicht das Ringen von Tier und Gott im Menschen. Was wir begreifen, ist einzig allein das in das Dasein von uns namenlosen, schwachen, vergänglichen, erbärmlichen Menschen hereinragende, hereinrasende Weltall mit seinen bösen und seinen tröstenden Dämonen. Wir wollen Lear nicht retten. Wir sind töricht wie er, ungerecht in Liebe und Haß wie er, wahnsinnig wie er, verworren wie er. Retten ließe sich nur einer, dessen Leben nichts als das Leben dieser irdischen Erde ist. Dieses aber geht über die irdische Sphäre hinaus. Hier in der Wahnsinnsszene ist die Welt in Teilen erfaßt, so weit sonst voneinander entfernt, daß sie eines Menschen Hand nicht zusammenhalten könnte. Hier ist der Gegensatz erfaßt, wo er nicht mehr schneidet, hier die Feindschaft erfühlt, wo sie nicht mehr scheidet. Seht ihn, den unseligsten, wirklichsten aller Leidenden, er hat die Schwere der Welt auf sich genommen, und wir mit ihm, wo sie schon ohne Bitterkeit ist. Lear ist Sinnbild des mit leiblichen Augen nie zu Sehenden. Wer einen Beweis des Sinnes will, hier ist ein Beweis des irdisch nie zu Erlebenden.
Dem hier sind wir wirklicher als in unserem zufälligen, vergänglichen Leben. Hier, wo wir wirklich sind, sind wir über die Erde mit allem ihrem Ehrgeiz, mit ihrem Neid, mit ihren Machtinteressen, ihren Ohnmachtsklagen, ihrem Hunger, ihrer Liebe und ihrer Sättigung weit erhoben. Hunger kann uns niemals tiefer als bis zu den Eingeweiden packen, Durst wird nur an unserer Kehle würgen. Aber über allem Sagbaren gibt es noch eine Welt, die wirkliche, die zeitlose; zeitlos, weil sie ebenso schnell rollt wie das Rad der ewig bestehenden, ewig vergehenden Sterne.
Daß wir nur in dieser Welt und – gleich ob mit oder gegen unseren Willen – notwendig leben, das fühlen wir. Sie, die andere, die fremdere, die ruhige ist unser besseres, unser einzig bleibendes Teil. Wir sagen es im Schweigen, wir deuten es mit ruhenden Händen, wir leben es über das Dasein unserer siebzig biblischen Jahre hinaus.
Es gibt eine Zeit, da wir uns ganz loslösen vom Zwang. Es ist ein Ort, wo wir ganz aufgehen in der heiligen Ruhe. Wir erwachen einmal noch in der frühesten Frühe. Das Irdische faßt uns nur, es hält uns nicht. Wir sterben. Eines in uns bleibt. Eines bleibt.