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Conrad

In den letzten Jahren haben wir zwei große virile Erzähler kennengelernt, Jack London und Robert Louis Stevenson, zu ihnen tritt jetzt als der größte, der männlichste, Joseph Conrad. Dieser Dichter, geboren 1857, gestorben 1924, ist in jeder Hinsicht eine der merkwürdigsten Erscheinungen; der Rasse, dem Beruf, der Eigenart seiner Kunst nach, der Verteilung von weiblichen und männlichen Elementen der Seele nach. Man kann ihn als Menschen nicht sehen, ohne seine Werke mit zu sehen, und jedes Werk spricht nicht nur von ihm, diesem Joseph Conrad, sondern auch mit kunstvollst verteilten Stimmen aus ihm, nie war die Einheit zwischen Mann und Werk größer – und nie rätselhafter zugleich. Sein eigentlicher Name (wenn wir ihn nicht als Verloc und Stevie in einer Person [»Der Geheimagent«], als Kapitän Giles und der ›neue Kapitän‹, [»Die Schattenlinie«] und als Flora de Barral und Kapitän Anthony [»Spiel des Zufalls«] ansehen wollen), sein eigentlicher Name war Joseph Conrad Korzeniowski. Er ist Pole, im kontinentalsten Lande des Kontinents, in der unabsehbaren Ebene der slawischen Welt ist er geboren. Mit fünfzehn Jahren wandert er zum erstenmal von seiner gegebenen Existenz in eine andere aus, er will Seemann werden. Die englische Rasse, die seefahrende Nation lockt ihn bis zum Zwang. Mit siebzehn Jahren atmet Korzeniowski in Marseille, seinem ersten Hafen, den ersten, hier noch unreinen und getrübten Duft der See. Er legt seinen Namen ab, als Joseph Conrad nimmt er Dienst auf einem englischen Dampfer – befährt Jahrzehnte lang südliche und östliche Meere. Er will in seiner zweiten Existenz heimisch werden, er nimmt den maritimen Dienst auf sich, besteht Prüfungen, nicht der »Laufbahn« wegen, nicht aus Abenteuersucht, nicht aus Gier nach Geld. Ein Menschenalter fast trägt er dies zweite Kleid, die Uniform der englischen Handelsmarine, bis er auf Borneo einen Weißen kennenlernt, der, ebenso wie er, aus seiner ersten Existenz ausgewandert ist. Es ist ein Engländer, der sich selbst deklassiert, ent-engländert hat, da er sein Blut mit einer farbigen Frau vermischt hat. An dieser seiner metaphysischen Spiegelfigur wird Conrad zum Schriftsteller. Dies ist seine dritte Inkarnation, die umfassendste, die definitive. In dieser Inkarnation konnte er allen Widersprüchen seines Innern gerecht; werden, soweit ein Mensch, ein Dichter, ein Genie sich selbst: gerecht werden kann. Die Widersprüche kennzeichnen diesen Dichter, wenn irgend etwas. Aus Widersprüchen sind seine Werke, soweit sie sich in der deutschen Übertragung übersehen lassen, aufgebaut. Sie sind nicht aufgebaut auf Widersprüchen, die einander gegenseitig stören, sondern auf solchen, die sich richtig auf Tod und Leben, das heißt bis aufs letzte und auf immer gegenüberstehen. Hier die eine, dort die andere Seite der Welt. Beide Teile sind kämpfend aneinandergepreßt. Stirn an Stirn, Hirn an Hirn, Herz an Herz ... dauernd in Bewegung, unerschütterbar im Rhythmus. Wenn man diese sonderbaren, in ihrer Vollendung kaum beschreibbaren Gebilde Conrads mit etwas vergleichen sollte, müßte man sie mit einem Kreiselkompaß vergleichen, der in sausender, rasender Bewegung, nur durch den eigenen Rhythmus gebändigt, Schwingung im elektrischen Stromkreis, dennoch in unverrückbarer Treue den Lauf der Sterne, den geographischen Ort der Dinge dieser Welt anzeigt. Auf Widersprüchen ist auch jedes humoristische Werk aufgebaut, als erstes und herrlichstes der »Don Quichotte«. Bei Cervantes prallen die polaren Gegensätze in jeder Sekunde einmal zusammen, der Funke der »niedrigen Stromspannung« läßt uns lachen und doch fühlen, hier ist das Herz der Dinge angerührt und unseres, das meine. Bei Joseph Conrad nichts davon. Seine Bücher sind ernst, unpersönlich, verschlossen – sie sind männlich in der düstersten Bedeutung des Wortes, sie nehmen das schwerste Gewicht fast wortlos auf die Schultern. Übermenschlich wäre es, unter einer erdrückenden Last noch Kraft aus Eigenem, aus der »Anmut des Herzens« zu einem echten Lachen zu finden. Dies ist einem Manne unserer glaubenslosen Zeit vielleicht für immer versagt. Es wird so sein, daß die Größten unserer Zeit, wenn sie lachen sollen, das seiende, »das wahre Gesicht der leidenden Welt«, wie es Conrad nennt, verleugnen, verkleinern, zerspötteln müssen – oder sie gehen den Weg, den Conrad gegangen ist, den der Sachlichkeit, einer atemberaubenden Sachlichkeit, nicht weniger dämonisch und geisterfüllt und geisterhaft als die Erdtraumphantasien Poes, ja, noch aufwühlender in ihrer Breite, in ihrer Besessenheit von der Welt. Etwas von einem Besessenen ist in Conrad. Er ist von seinem Selbst besessen, welches das Gegenselbst vernichten will und nie kann – denn Tod ist immer Leiden und nie Tat. Hier gibt uns das äußere Schicksal dieses Mannes, der vergeblich sich selbst entfliehen will, die Leitlinie an, nicht den klaren Weg, die reine Anatomie der dem Genius angeborenen Widersprüche, wie etwa Rousseaus »Confessions«, sondern nur die weichende, lautlose, astronomische Schattenlinie. Man wird in den Werken des Conrad viel von Meeren, von Küsten, von Schiffen, Stürmen und Landschaften des Orients finden, aber eigentlich nur Schattenlinien. Es sind Menschen nebeneinander, aber nie Gesellschaft. Ehe ist keine Ehe (»Spiel des Zufalls«). Es sind Reisen, gewiß, es sind Erlebnisse der Fremde, wie sie zwingender eine andere Feder nie nachgezeichnet hat, aber alle diese Reisen enden am Nordpol der Seele, vorausgesetzt, daß sie nicht auch schon von dort ihren metaphysischen Ausgang genommen haben. In dem Roman »Der Geheimagent« soll das von einem Agent provocateur verursachte Dynamit-Attentat geschildert werden. Auch die Schiffe haben bei Conrad oft »Sprengstoffe« an Bord. – Im »Geheimagent« soll es sich »um einfache Zerstörung« handeln. »Da Bomben zu ihren Ausdrucksmitteln gehören«, sagt der Auftraggeber des Attentats zu dem Geheimagenten Verloc, »so wäre es tatsächlich vielsagend, wenn er eine Bombe in reine Mathematik werfen könnte ... Was denken Sie davon, die Astronomie anzupacken?«

Die eisige Annäherung an das Humoristische wird an solchen Stellen deutlich. Wollte man diese »Schattenlinie« etwas vergröbert nachziehen, dann käme man zu der ersten wahren Umwertung aller Werte, der Relativitätstheorie, zu dem physikalischen Anarchismus, hier vorausgeahnt durch einen extraterritorialen Polen unbestimmbaren Alters, von genialem Tiefblick, namens Conrad. Aber man wird ihm gerechter, wenn man seiner genau vorgezeichneten Spur folgt. Gerade darin, in dem genau Vorgezeichneten und dennoch ganz Erdenfernen ist er unnachahmlich. Seine ganze souveräne Sachlichkeit dient nur dazu, einer ebenso souveränen Phantasie die Mittel in die Hand zu geben, ihre kühnsten Extravaganzen zu Ende zu gehen. Keine Überraschungen des unberechenbaren Gefühls. Keine hohen Ideen. Keine Anspielung auf Christus, wie sie der ebenso gern mit Dynamit spielende (oder operierende) Dostojewski nicht missen mag. Keine Rassenfrage, ja, im Grunde nichts, was innerhalb der »alltäglichen Leidenschaften der Menschen« liegt. Also auch kein Mitleid, sondern nur »Eintragungen«. Im Grunde sind Conrads Romane nur »Reiseprotokolle« der Seelen mit ihrem Widerspruch – ungestört durch das Jammern der unseligen »Wilden« (»Das Herz der Finsternis«). Zu diesen Eintragungen braucht der dämonische Dichter Ruhe. Für diese Ruhe nimmt er die klösterliche Einsamkeit der Schiffskabine auf sich. Er trägt das Kleid der Armut, den Namen der Namenlosigkeit (ein Mensch wie mein früh verstorbener Freund Franz Kafka lebte und starb ebenso). Er sieht, er beobachtet, er hat den Blick und das Glück, er hat das Wesen der Sache erfaßt. Man wird seine Schilderungen in ihrer schmucklosen Überfülle nicht mehr ganz vergessen können, wenn man sie einmal begriffen hat. Schmucklose Überfülle, auch hier der Gegensatz, die contradictio in adjecto. Aber das gerade macht die ungeheure Wirkung aus, nicht seine Exotik. Es gibt im Grunde im neunzehnten Jahrhundert keine weißen Flecken mehr auf den Landkarten der Erde, nur auf den Landkarten der menschlichen Seele. Die Bücher Conrads sind ungeheuere, von Einzelheiten strotzende Protokollberichte. Jede kleine Nebenfigur ist ein Roman. Jede Augenblickslandschaft, zum Beispiel die Insel Koh-Ring im Chinesischen Meer, von der »man nicht los kann«, ist mit wenigen Strichen derart suggestiv hingestellt, daß man nachts erwacht, die unentrinnbare Vision dieses großen schwarzen, wie emporgeschleuderten Felsens vor Augen. Die seelenlose, albern flache See, die nicht der geringste Windhauch bewegt: dies auf der einen Seite. Der übergroße, überkonturierte, allzu ausdrucksvolle, sich stets vordrängende, »stechende« Felsen auf der andern, wer das einmal gelesen hat, wie es Conrad schildert, vergißt das winzige Detail ebensowenig wie die ungeheuren seelischen Umstürze und Gigantenkämpfe, diese in Wochenfrist zusammengedrängten Existenzen, diese stärksten, und, warum es leugnen, giftigen Extrakte des menschlichen Daseins und Dortseins, in denen Conrad Meister ist. Humor ist ihm, dem Sohne der glaubenslosen Zeit, versagt. Der Kampf gegen Heuchelei, den der ihm und Kafka verwandte Dickens aufgenommen hat, kann ihn nicht mehr fesseln, Heuchelei wie Geiz, die beiden verwandten Laster, sind zu sehr »alltägliche Leidenschaften«. Was ihn, Conrad, spannt, ist die Spannung an sich. Eine solche Spannung, wie sie Conrad erzeugt, wie er sie aufrechterhalten kann, eine so qualvolle, grausame Spannung hat nur ein Genie unter seinen Mitteln ... Man sieht des spannenden Bogenschützen Gesicht nicht. Man hört nur das knisternde, unheimliche Geräusch, mit dem sich der Bogen krümmt, einmal ist es die Sehne, die metallisch klingt, einmal ist es das Holz, das knurrend sich bäumt. Kein Menschenfreund, der diese »spannenden« Romane schrieb. Man wird keine holde Menschenblüte, weder Mann, noch Frau, noch Kind hier finden. Selbst in dem gütigsten, warmblütigsten Geschöpf, das Conrad (ja, das irgendein neuerer Dichter) geschaffen hat, selbst im Herzen des blonden, zarten Knaben mit dem goldigen Flaum auf den Wangen, selbst in dem Jungen Stevie fließt unter Millionen Tropfen gütigen Blutes auch ein Tropfen giftigen Extraktes, »der eigenen Machtlosigkeit« und ihres Widerspruches, des Verbrechens. Stevie sieht, wie ein Pferd schwer mißhandelt wird. »›Arm, arm!‹ stammelte Stevie«, heißt es im »Geheimagent«, »und er stieß im Übermaß seines Mitleids die Hände tief in die Taschen. Er konnte nichts sagen; denn seine Zärtlichkeit für alle Mühseligen und Beladenen, seine Sehnsucht, die Pferde glücklich und den Kutscher glücklich zu machen, hatte sich bis zu dem lächerlichen Wunsch gesteigert, sie mit in sein Bett zu nehmen ...«

Aber: »Die Zartheit seines umfassenden Mitgefühls hatte zwei Seiten, die so unlöslich miteinander verbunden waren, wie die beiden Seiten einer Medaille. Der Schmerz maßlosen Mitgefühls wurde durch den andern einer unschuldigen, doch unbarmherzigen Wut abgelöst ...« Genug. Kein Wort weiter. Die Peripetie, der Umsturz, der Wandel, die Wandlung im Dunkeln. – Denn Stevie ist es, der die Bombe in Händen trägt, um das Attentat gegen den Längengrad von Greenwich, den Längengrad o auszuführen, und der als das einzige Opfer dieser metaphysischen Bombe in tausend Stücke zerrissen wird, so »daß er mit einer Schaufel aufgelesen werden muß ...« In dem rätselreichen Werke des Joseph Conrad ist hier vielleicht ein Selbstbildnis, ein Steckbrief der eigenen Seele, ein Motiv für die ewigen Reisen des genialen Erzählers ins »Außer-Ich«.


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