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Je älter man wird, desto deutlicher wird es dem Denkenden, dem Lebenden, dem Liebenden bewußt, daß in der Existenz jedes einzelnen ein Duell mit immer wechselnden Duellregeln, aber unweigerlich gleichem Ausgang seinen Ausdruck findet. Schon das Wort Existenz hat die Fechterattitüde, es ist ein Wort der notgedrungenen Verteidigung, der mühsam mit gestrecktem Handgelenk gehaltenen Auslage. Denn kein Lebender besitzt Sehnen, Knochen, Nerven, Adern, an die nicht der unsichtbare, aber immer gegenwärtige Gegner, spielend erst, aber dann mit dem äußersten, stillsten, unbeugsamsten Ernst rührt: gewillt und stark genug, um sie zu erschüttern, wankend, schwankend, sinken zu machen, Schicksal, Zwang, Tod.
Je älter man wird, desto deutlicher wird es jedem, welch unbeschreiblicher Fechter Goethe war. Ihm, sicherlich als Menschen, vielleicht auch als Künstler, ist das bessere Teil Faustens zum Segen geworden. Er hat zwei (mindestens zwei) »Vorteile« in seiner über fast ein Jahrhundert hin ausladenden Fechter-Attitüde sich gewahrt. Den ersten Vorteil: Goethe ist ohne schwerste Erschütterungen, einem edlen Baume gleich, alt geworden, nie der südlichen Atmosphäre heiterer, schmerzloser Liebe entratend, nie in seinem Wesentlichen, Wertvollsten, Unersetzbarsten verdorrend. Wenn je ein Mensch, dann war er zufrieden, er konnte das große Wort sagen: Ich tat nie Unrecht, erlitt es nie. Er hat das Wort Gegenwart seiner drohenden Medusafratze entkleidet und den blind versteinernden Blick der Dämonen ruhevoll ausgehalten. Gegenwart, ist in diesen zwei kaum zu vereinbarenden Worten nicht schon der ganze tragische Konflikt des einzelnen mit dem unerfaßbaren Ganzen zusammengefaßt, der Kampf des schönen Augenblicks mit den trotzig aufgetürmten Zeiten, die, bröckligen Pyramiden gleich, den armseligen Erdensohn zu verschütten drohen, kaum daß er nur dagegen atmet?
Goethe ist kein tragischer Mensch. Jede Tragik war ihm fern. Das wußte er, mußte er, wollte er.
Und dies ist sein zweiter Vorteil, sein zweiter Segen, eine nicht niederzuschlagende Parade des Fechters. Aus Wissen, Wollen, Müssen, aus diesen dreifach gewebten, verworrenen Zügeln, die das unselige Roß der Seele nach drei verschiedenen Richtungen reißen wollen, aus Müssen, Wollen, Wissen, woraus jedes Erdenkleid gesponnen ist, damit es zerfalle, woraus jedes Erdenbrot gebacken ist, damit es vergehe und schwinde, womit jede Erdenluft getränkt ist, auf daß sie uns einen Augenblick labe und im nächsten hungrig zurücklasse, so daß von uns keiner sich richtig eratmet, sich niemand richtig sättigt am guten Erdenduft, keiner sich geschützt und geborgen wähnen darf im Erdensturm – aus Wissen, Wollen, Müssen baute der Einzige sein Dasein, sein Dortsein auf, so wandelte er den Zwang zur Freiheit, die Not zur edlen Beschränkung, die enge Grenze zur hohen Form; so lebte er, biblisch in Frieden und Freude, starb des Lebens satt. Er, der Einzige seit Menschengedenken, von dem man es weiß.
Er war der greise Faust, der den Stern der Dämonen unter sich trat, er, der klügere, der stärkere. Nie schlug das infame Weltgetriebe ihm den Degen aus dem spielend beweglichen, aber stählernen Handgelenk.
Er betrog den Teufel um seinen Lohn. Er stieg gemessenen Schrittes, nichts fürchtend noch hoffend, nicht heimlich, nicht höhnisch, nicht verzweifelt, auch nicht versöhnt, nur befriedigt und ruhevoll die Treppe zur Unterwelt hinab, wie den altgewohnten Weg über die italienische, breit und edel schweifende Treppe seines Hauses. Er starb nicht wie Moses, das Gelobte Land bloß mit den leeren Blicken ewig ungesättigter Sehnsucht umfangend. Er hatte es längst besessen, längst verlassen. Seitdem Menschen sich der Menschen erinnern, von jeher war er der einzige, der bewußt verzichtete, der Ungeheures preisgab, nicht einmal preisgab, sondern es einfach entschwinden ließ, um scheinbar Selbstverständliches zu gewinnen. Napoleon, sein Zeitgenosse, war gierig, was Goethe nie war, war stets berauscht von seinem Schatten, ja, immer im Wettlauf mit seinem Schatten begriffen, wie ein bodenscheuer Gaul. Napoleon war der Schwächere: Er zahlte seinen Lohn, nicht seiner Idee zu Ehren, aber er zahlte doch im Ernst, im heiligen Punkt besiegt. An den Grundfesten der Welt, an den uns unvereinbaren Säulen des Daseins den Kristall seiner unerhörten Existenz zerschmetternd, ein Degen, Napoleon, der gegen die Felsen von Sankt Helena ficht, Meer und Himmel und Hölle zwischen sich und seinem Feind. Tragisch endete auch Napoleon nicht. Aber tragikomisch. Goethe endete nie. Er entschwebte mühelos, mit dem zartesten Druck seiner Ferse den Erdball mit seinen Himmeln, Gründen und Abgründen zurückstoßend ins Nichts.
Freude und Gerechtigkeit, niemand außer Gott hat Arme, stark genug, euch beide zu umfassen. Aber in der fernen Ahnung des sonnengleichen Genius findet ihr euch, nicht versöhnt zwar, aber ohne klirrenden Kampf, ohne Klage, ohne Vernichtung: Auge in Auge, Brust gegen Brust, nebeneinander, wenn auch nicht ineinander. Ihr blickt aus Goethes Seele nicht so groß, wie Gott euch schuf. Die Freude Goethes war nicht die Freude des sommerberauschten, ekstatisch flirrenden Insektes, nicht die Freude des Trotz-allem-Beethoven im Finale der achten Symphonie. Die Gerechtigkeit Goethes war nicht die des Hiob, kaum die des reichen dunklen Salomo. Aber Goethe war der erste ganz große Mann, der sich wissend klein machte, das erste Genie, das praktisch lebte.
Unmöglich kann der säkulare Mensch in der vergänglichen Welt sich zu Ende leben. Er muß gegen sie leben, denn sein Wissen um die Welt, sein Wollen, und darum auch sein Müssen, sind tiefer als die Welt war bis vor ihm. Aber es gibt eine Möglichkeit des »Doch-Noch«, eine Gnade der praktischen Weltauffassung, die in dem Geheimnis Goethes beschlossen ist und die wir kaum ergründen.
Vergebens stellen wir ihn den tragischen Genien Kleists und Beethovens entgegen. Vergebens spiegeln wir die vollen Linien seines Seins und seiner Kunst in dem blinden, namenlosen, aber das Universum umfassenden Spiegel Shakespeares. Wir werden Goethe nie mit irdischen Maßen messen können; nie mit einem andern Maße als mit Goethe.
Das deutsche Volk, die gesamte Menschheit ist gesegnet mit seinem Andenken. Er ist aber kein Dom, darin zu beten, kein Stab, sich darauf zu stützen, kein Ohr, sich hinein zu ergießen mit der ganzen Torheit unseres Schmerzes, mit der ganzen Vergeblichkeit der menschlichen Existenz. Er ist ein Sternbild, größer als alle Sonnen, aber fern wie der am weitesten fortgescheuchte Atem aus Gottes Mund. Er ist der Punkt, der zeigt, wie weit es die Menschheit gebracht hat. Das tröstet uns nicht.
Wo die Welt stünde, hätte er, der Halbgott, den Giganten, Lapithen und Zentauren gleich, den Kampf gegen das Unentrinnbare aufgenommen, wäre er, der Gegennapoleon, auch der Übernapoleon geworden, der er war, von Gottes Gnaden oder Gottes Fluch – denn glücklich wird immer nur der Gemeine und das Gemeine in uns sein – wäre der Genius Goethe ein tragischer Held geworden oder ein tragikomischer ... niemand denkt diese Möglichkeit zu Ende.
Gesättigten, freudigeren Zeiten wird dieser Mann die tiefste Bestätigung sein dafür, daß menschliches Glück irdisch möglich ist. Mehr als das, daß ein praktisches Dasein den größten Geist erfüllen, befruchten kann. Unsrer ungesättigten, verzweifelten Zeit ist er ein Stern, dessen Licht wir dankbar trinken. Wissend, es sei vor tausend Jahren schon von dem Urgebild entsandt, nicht uns, den damals noch Ungeborenen zugedacht und zugesegnet. Aber wenn der Sirius eben leuchtet, leuchtet er kommenden Geschlechtern voraus, glücklicheren, so hoffen wir. Denn was uns adelt, im Guten und Bösen, uns alle, die wir heute leben, das ist das Wissen, kein Geschlecht der erdenbewohnenden Menschen war so sehr erdenbeweinend wie wir.