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Um vier Uhr morgens kehrte Dick nach Hause zurück, nachdem er Marshalt zu seiner Wohnung begleitet und sich an Stanfords Verlegenheit über diese unvermutete Auferstehung ergötzt hatte. In seinem Arbeitszimmer fand er zwei Herren: den übermüdeten, aber ausdauernden Willitt und –
»Mr. Torrington! Sie sind hier?«
Der Mann war vollständig verwandelt. Es war nichts mehr von dem leicht spöttischen Ton zu hören, in dem er sonst so gern sprach.
»Ich warte sehnsüchtig auf Sie, Captain! Meine Tochter ist verschwunden –«
»Ihre –?«
»Meine Tochter – Audrey. Ach, Sie wissen wohl nicht, daß sie meine Tochter aus zweiter Ehe ist?«
Dick starrte ihn entgeistert an.
»Audrey – verschwunden?«
»Gestern abend ging sie aus und kam nicht zurück. Ich sagte ihr, sie solle den Abend nach ihrem Belieben verbringen, weil ich eine Verabredung mit Elton hatte.« Er berichtete in kurzen Zügen über die Besprechung, die er mit Martin gehabt hatte, »Natürlich waren mir alle Tatsachen bekannt, und er war noch nicht zu Ende, als ich seine Absicht längst durchschaut hatte. Ich gab Auftrag, Audrey gleich nach ihrer Rückkehr zu mir zu bitten. Um elf war sie noch nicht zurück, und als ich um Mitternacht nach ihr fragen ließ, war sie auch noch nicht da. Nun weiß ich ja, daß junge Mädchen heutzutage bis in die späte Nacht hinein unterwegs sind, und machte mir keine Sorgen, bis es eins und schließlich zwei wurde. Dann rief ich Scotland Yard an, und als sie dort nichts von Ihnen wußten, konnte ich es nicht länger aushalten und kam hierher.«
»Wohin wollte sie denn gehen?« fragte Dick schnell.
»Ich weiß es nicht, und im Hotel hat sie auch nichts davon erwähnt.«
»Wir müssen in ihren Zimmern nachsehen«, erwiderte Dick und fuhr mit Torrington zu dem Ritz-Carlton zurück.
In Audreys Papierkorb fand er einen zerrissenen Brief, den er wieder zusammensetzte und las.
»Ich muß zu Elton«, sagte er dann kurz. »Sie brauchen nicht mitzukommen.«
Es dauerte ziemlich lange, bis Martin herunterkam. Er trug einen Schlafrock, aber Spuren von Zigarrenasche über einem Knopf verrieten, daß er nicht aus dem Bett aufgestanden war.
»Ist Ihre Frau auf? Ich muß Sie beide sprechen«, sagte Dick in befehlendem Ton.
Einige Minuten später erschien Dora.
»Sie wünschen mich zu sprechen, Captain Shannon?«
»Ich will wissen, wo Audrey Torrington ist.«
»Das weiß ich nicht –« begann sie.
»Hören Sie zu, Mrs. Elton. Ihre Schwester kam auf Ihre Einladung hin zu Ihnen. Sie ist gegen sechs hier eingetroffen . . .« Er unterbrach sich. »Rufen Sie Ihr Mädchen!«
Dora machte allerhand Einwendungen, aber Dick war unerbittlich, so daß Martin sich schließlich bequemte, hinaufzugehen und sie zu rufen. Zu seiner Verwunderung kam das Mädchen sofort vollständig angekleidet und in Hut und Mantel heraus.
»Nanu!« rief er verwundert, faßte sich aber sofort wieder. »Captain Shannon wünscht Sie zu sprechen. Er fragt nach der Schwester meiner Frau. Sie hat ja gestern abend hier gegessen. Sagen Sie ihm doch, daß Sie die ganze Zeit im Haus waren und gesehen haben, wie sie fortging.«
Sie folgte ihm schweigend.
»Weshalb sind Sie denn angezogen?« rief Dora ärgerlich, als das Mädchen eintrat.
Aber Shannon fiel ihr ins Wort.
»Bitte, beantworten Sie erst meine Fragen. Miß Audrey Torrington, die Sie als Miß Bedford kennen, war gestern zu Tisch hier?«
»Ich glaube, ja. Ich war nicht zu Hause, als sie kam, und ich habe sie auch nicht fortgehen sehen. Mrs. Elton schenkte mir ein Theaterbillett und entließ die Köchin, so daß nur drei Menschen im Hause waren: Mr. und Mrs. Elton und Miß Bedford.«
»Ich war nicht hier!« warf Martin ein. »Ich war im Klub.«
»Sie waren oben, aber hier im Haus«, erwiderte das Mädchen gelassen. »Ich habe Miß Bedford nicht fortgehen sehen, weil ich am anderen Ende der Straße mit einem unserer Leute sprach. Ich sah eine Droschke wegfahren, und als ich dann nach Hause kam, war Miß Bedford wohl wirklich fort.«
»Einer von Ihren Leuten –? Wie soll ich das verstehen?« fragte Dick.
Sie zog einen kleinen silbernen Stern aus der Tasche.
»Ich bin bei Stormer angestellt, ebenso wie das letzte Mädchen Mrs. Eltons. Ich erwartete Sie schon, aber ich kann Ihnen nur eins sagen: hier im Haus ist Miß Bedford nicht. Ich habe es bereits bis auf den letzten Winkel durchsucht. Als ich den Ecktisch abräumte, habe ich den Weinrest aus Miß Bedfords Glas in dieses Fläschchen geschüttet.« Sie reichte Dick eine kleine Medizinflasche. »Und dies fand ich nachher in Mrs. Eltons Schmuckkasten.«
Dora griff blitzschnell nach der blauen Phiole, aber das Mädchen war auf der Hut und legte sie in Dicks ausgestreckte Hand.
»Es riecht nach Butyl«, sagte sie.
»Sie hören, was diese Dame aussagt, Elton. Wo ist Audrey?« fragte Dick mit gefährlicher Ruhe.
»Wenn Sie das wissen wollen, müssen Sie dafür zahlen«, erwiderte Martin. »Nein, nicht Geld! Aber ich verlange vierundzwanzig Stunden für Dora und. mich, um England verlassen zu können. Wenn Sie mir das gewähren, will ich Ihnen sagen, wo sie ist. Und ich rate Ihnen, auf die Bedingung einzugehen, Shannon. Sie ist in größerer Gefahr, als Sie ahnen. Versprechen Sie es mir?«
»Ich verspreche nichts. Sie entkommen lassen? Nein! Nicht einmal, wenn Audreys Leben auf dem Spiel stände. Wo ist sie?«
»Bringen Sie das doch selbst heraus!« rief Dora höhnisch.
Dick sagte kein Wort, zog ein Paar Handschellen aus der Hüfttasche und legte sie um Martins Handgelenke. Elton leistete keinen Widerstand, aber sein Gesicht wurde plötzlich grau und alt. Im nächsten Augenblick war auch seine Frau gefesselt.
Als Dick die beiden nach der Polizeiwache gebracht hatte, wandte er sich noch einmal an die Agentin Stormers.
»Haben die zwei kürzlich Besuch gehabt?«
»Ja, Stanford war bei ihnen, und sie zankten sich.«
»Glauben Sie, daß Stanford damit zu tun haben könnte?«
»Ich weiß nicht recht. Gute Freunde scheinen sie nicht zu sein.«
»Hm! Als ich ihn diese Nacht sah, schien er mir jedenfalls nichts auf dem Gewissen zu haben«, meinte Dick und reichte ihr zum Abschied die Hand.
Dann ging er aber doch zum Portman Square, wo er lange klopfen und schellen mußte, bis Stanford schließlich in Person erschien und ihm aufmachte. Beim Anblick des Detektivs schrak er leicht zusammen.
»Wo ist Miß Bedford?« fragte Dick laut und schroff. »Überlegen Sie Ihre Antwort, Stanford! Eltons sitzen bereits im Loch, und für Sie ist auch noch in der Zelle Platz!«
Der Mann starrte ihn wie betäubt an und suchte nach Worten.
»Was ist denn mit Audrey Bedford?« erwiderte er schließlich mit stockender Stimme. »Und wie soll ich etwas über sie wissen? Ich war den ganzen Abend hier. Sie haben mich doch selbst gesehen. Und mit Elton hab' ich mich überworfen . . .«
»Wer ist da?« ertönte eine Stimme von oben, und gleich darauf kam Marshalt im Schlafrock die Treppe herunter.
»Audrey Bedford ist verschwunden«, entgegnete Dick. »Sie scheint betäubt und entführt worden zu sein, und ich habe Grund zu der Annahme, daß Stanford von der Sache weiß.«
Die drei Männer gingen zusammen nach oben, aber Stanford leugnete beharrlich.
»Ich kann Sie auch abgesehen von dieser Geschichte festnehmen!« drohte ihm Dick. »Sie haben den Lederbeutel gekauft, in dem die verschwundenen Diamanten lagen. Der Kaufmann Waller in der Regent Street hat das ausgesagt. Nun, wollen Sie jetzt sprechen?«
Marshalt machte ein erstauntes Gesicht.
»Antworten Sie jetzt, Stanford!«
»Ich habe nichts zu sagen. Was Sie da von dem Beutel erzählen, ist einfach Blech!«
»Kennen Sie Slick Smith?«
»Gesehen hab ich ihn mal.«
»Nun, wenn ich Sie brauche, werde ich Sie schon finden, und wenn es sich herausstellt, daß Sie an dieser Entführung beteiligt sind, sollen Sie es bitter bereuen!«
Trotz der kurzen Entfernung schlief Dick zwischen dem Portman Square und dem Ritz-Carlton fest ein und mußte von dem Chauffeur geweckt werden.
»Sie sind ja vollständig fertig!« sagte Torrington teilnahmsvoll, als er ihn sah.
Gegen fünf Uhr kehrte Dick völlig erschöpft heim, schlief ein paar Stunden wie ein Toter und ging dann um neun wieder zum Portman Square.
Seine Autodroschke war kaum um die Ecke gebogen, als aus einem gegenüberliegenden Portal Slick Smith heraustrat. Er mußte sehr vorsichtig sein, denn er wußte, daß sämtliche Polizisten Londons nach ihm Ausschau hielten. Aber er hatte Glück, denn eben kam ein Mietauto vorüber, und im nächsten Augenblick befand er sich auf Dicks Fährte. Sobald er sich davon überzeugt hatte, daß der Detektiv einen Besuch bei Marshalt machen wollte, stieg er aus und entließ den Chauffeur. Zwei Minuten später schlüpfte ein untersetzter Mann in das Hoftor des Malpas'schen Hauses, ohne daß die in der Hintergasse beschäftigten Kutscher und Chauffeure ihm irgendwelche Beachtung schenkten.
Unterdessen ersuchte der Detektiv Mr. Marshalt, mit ihm zu Malpas zu gehen und ihm an Ort und Stelle zu schildern, was ihm dort zugestoßen war. Dick hatte einen Schlüssel, und als sie eingetreten waren, schob er einen in der Halle liegenden Holzklotz mit dem Fuß unter die Haustür, um sie offenzuhalten. Oben bat er Marshalt, sich dorthin zu stellen, wo ihn der Schuß getroffen hatte.
Lacy ging auf die verhängte Nische zu.
»Hier stand Malpas, und ich stand dort, wo Sie jetzt stehen«, sagte er.
Im selben Augenblick fiel die Tür krachend ins Schloß.
»Was ist das?« rief Lacy.
Dick versuchte, die Tür zu öffnen, aber es gelang ihm nicht.
»Wo ist Stanford?« fragte er.
»Irgendwo in meiner Wohnung. Wer hat denn das getan?«
»Das werde ich heute noch feststellen, und Sie sollen mir dabei helfen. Ah, da geht sie schon wieder auf!«
Sie gingen ins Treppenhaus hinaus und schauten über das Geländer nach unten, aber es war nichts zu sehen. Als sie ins Zimmer zurückkehrten, zog Dick den Vorhang im Alkoven beiseite, fuhr aber mit einem Schrei zurück. Auf dem schwarzen Marmorsockel lag mit schlaff herabhängendem Kopf – Bill Stanford!
Dick neigte sich über ihn.
»Er ist nicht tot, aber es ist höchste Zeit, ihm zu helfen«, sagte er hastig.
Marshalt eilte in sein Haus zurück, um die Unfallstation anzurufen.
Dick untersuchte inzwischen den Unglücklichen und entdeckte drei Schußwunden: eine an der Schulter, eine dicht unter dem Herzen und die dritte am Hals. Der ganze Sockel war mit Blut überströmt, und Dick bemühte sich, den Bluterguß aus der Schulter zu stillen, als die schrille Klingel des Krankenwagens ertönte. Sanitäter kamen herauf und hoben den Bewußtlosen auf eine Bahre.
»Wie ist das nur zugegangen?« fragte Marshalt düster. »Ich verließ ihn in einer Vorratskammer, wo ich allerlei Sachen aufbewahre. Wir hatten einen Wortwechsel, weil er meiner Meinung nach etwas über Audreys Verschwinden weiß, und er sagte, er würde das Haus verlassen. Sicher ist er dort umgebracht worden, nachdem wir fortgegangen waren.«
»Haben Sie bemerkt, daß er keinen Kragen und Schlips trug?« fragte Dick nachdenklich.
»Ja, das fiel mir auch auf. Vorher hatte er beides an.«
»Zeigen Sie mir doch einmal, wo er war«, erwiderte Dick.
Die beiden gingen nach Lacys Haus zurück. In der Vorratskammer waren Stanfords Kragen und Schlips über einem Zapfen aufgehängt. Sonst konnte Dick nichts Auffälliges bemerken. Die Dienstmädchen sagten aus, daß sie Stanford kurz vor Dicks Ankunft in der Vorratskammer gesehen hätten. Auch eine Untersuchung von Stanfords bescheidenem Gepäck führte zu keinem Ergebnis.