Edgar Wallace
Das Gesicht im Dunkel
Edgar Wallace

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22

Die Zeitungen berichteten eingehend und wahrheitsgetreu über das Ereignis der vergangenen Nacht, und der ›Globe Herald‹ fügte hinzu:

»Die Polizei steht vor einem fast unlösbaren Rätsel oder vielmehr vor einer Reihe von Rätseln, die wir hier aufzählen wollen:

1. Wie gelangte Marshalt in das sorgsam behütete Haus dieses Sonderlings? Da er seinen Nachbar so sehr fürchtete, daß er Privatdetektive mit seinem Schutz betraut hatte, muß er starke Beweggründe gehabt haben, um sich zum Betreten des geheimnisvollen Hauses zu entschließen.

2. Auf welche Weise wurde Marshalts Leiche aus Nr. 551 entfernt?

3. Wer tötete den Bedienten Tonger, und warum wurde er überhaupt getötet?

4. Wo ist Malpas? Ist er etwa auch in die Hände der gespenstischen Verbrecher gefallen?«

Dick nickte anerkennend, als er diesen Artikel las. Daß bei aller Genauigkeit mehrere wichtige Punkte übersehen worden waren, konnte ihm nur lieb sein. Gleich morgens um zehn Uhr hatte er die Köchin Marshalts verhört. Die Frau wußte jedoch nur auszusagen, daß ihr Herr um halb acht abends das Haus verlassen hätte, und daß Tonger gut mit ihm gestanden hätte und ein nüchterner Mann gewesen wäre. Nur in der letzten Zeit hätte er angefangen zu trinken und zu seinen Mahlzeiten statt der Zitronenlimonade alkoholhaltige Getränke verlangt.

All dies sagte Dick nicht viel, und er beschloß, Audrey aufzusuchen, um zu sehen, ob sie vielleicht eine der Lücken ausfüllen könnte. Er fand sie in dem leeren Speisesaal, wo sie ein spätes Frühstück einnahm.

»Ich habe die Zeitungen schon gelesen«, sagte sie. »Sie sind recht gut unterrichtet.«

»Ja«, bestätigte er und holte den auf dem Schreibtisch gefundenen Bogen hervor. »Ist das vielleicht einer von den Briefen, die Sie für Mr. Malpas geschrieben haben?«

»Es ist meine Handschrift. Besinnen kann ich mich nicht darauf. Ich schrieb die Sachen immer ganz mechanisch ab, weil sie mir teils sinnlos, teils wunderlich vorkamen. Übrigens – was soll ich mit dem Geld machen, das er mir gegeben hat?«

»Heben Sie es für seine Erben auf«, erwiderte er finster.

»Er ist doch nicht etwa tot?«

»Genau sieben Wochen nach dem Tag, an dem ich ihn fasse, wird der alte Teufel tot sein!«

Er fragte sie noch einmal, wie Malpas aussähe, und notierte sich ihre Beschreibung. Es war der Mann, dessen Gesicht er durch das Oberlichtfenster gesehen hatte!

Als Dick gegangen war, legte sich Audrey wieder zu Bett, denn die Ereignisse des vergangenen Tages hatten sie sehr angegriffen und erschüttert. Sie mußte wohl eingeschlummert sein, denn plötzlich fuhr sie erschrocken in die Höhe.

Ihre Tür war nur angelehnt, und sie wußte genau, daß sie sie vorher geschlossen hatte. Wer hatte sie geöffnet? Sie trat auf den Korridor hinaus, aber es war niemand zu sehen. Sollte sie sich doch getäuscht haben?

Im nächsten Augenblick sah sie einen Brief am Boden liegen, bei dessen Anblick ihr fast der Atem verging. Er kam von Malpas. Mit zitternden Fingern riß sie den Umschlag auf und schaute auf das unordentliche Gekritzel:

»Lacy und sein Untergebener sind tot. Sie werden denselben Weg gehen, wenn Sie mich verraten. Erwarten Sie mich heute abend um neun am Eingang von St. Dunstan, Outer Circle. Wenn Sie zu Shannon darüber sprechen, soll es Ihnen schlecht bekommen.«

Sie durchflog die Zeilen noch einmal. St. Dunstan, das Heim für blinde Soldaten, lag weit draußen in einer einsamen Gegend. Sollte sie Dick zu Rate ziehen? Ihr erster Gedanke war, ihm von dieser Nachricht Mitteilung zu machen, aber ihr zweiter galt seiner Sicherheit. Sie durfte ihn nicht einweihen, denn er suchte nach Malpas, und dies konnte seinen sicheren Tod bedeuten.

Den ganzen Tag über beschäftigte sie sich mit dem Problem, und dabei hatte sie ständig das dunkle, quälende Gefühl, daß sie bewacht und beobachtet wurde. Wer war nur dieser rätselhafte Mann – dieser graue Schatten, der ungesehen kam und ging?

Sie hoffte immer noch, daß Dick nachmittags oder zu Tisch erscheinen würde, aber der Captain hatte keine Zeit. So zog sie sich denn nach dem Essen auf ihr Zimmer zurück, um einen Plan zu entwerfen.

Erstens wollte sie all ihr Geld im Safe des Hotels zurücklassen, zweitens einen recht kräftig aussehenden Chauffeur wählen und sich keinen Schritt von der Autodroschke entfernen. Sie hätte gern einen Revolver mitgenommen, aber sie besaß keinen und verstand auch kaum, damit umzugehen.

Sie mußte lange warten, bis endlich ein passender Chauffeur von der nötigen Größe und Stärke des Weges kam.

»Ich habe eine Verabredung mit einem Herrn im Outer Circle«, sagte sie hastig. »Und ich – ich möchte nicht mit ihm allein gelassen werden – verstehen Sie?«

Er verstand durchaus nicht. Sonst pflegten solche junge Damen ganz entgegengesetzte Wünsche zu haben.

Es schneite und stürmte, und die Straßen wurden leerer und dunkler. Es war eine lange Fahrt, aber endlich hielt das Auto am Bordstein.

»Hier sind wir bei St. Dunstan«, sagte der Chauffeur und blieb neben der Tür stehen. »Es ist aber niemand hier.«

Aber im nächsten Augenblick glitt ein langes Auto heran und hielt dicht hinter ihnen. Audrey sah, daß eine gebeugte Gestalt mühsam ausstieg, und wartete gespannt, was folgen sollte.

»Audrey!«

Die Stimme war unverkennbar.

»Bitte, kommen Sie hierher«, sagte sie.

Er kam langsam auf sie zu – sie erkannte das lange Kinn über dem weißen Schal und die große Nase.

»Kommen Sie her, und schicken Sie Ihre Droschke fort!« rief er ungeduldig.

»Nein, der Chauffeur bleibt hier«, erklärte sie fest. »Ich habe nicht viel Zeit. Wissen Sie, daß die Polizei nach Ihnen sucht?«

»Schicken Sie das Auto fort!« wiederholte er heftig. »Sie haben jemand drin – der Teufel soll Sie holen! Ich schrieb Ihnen doch –«

Sie sah glitzernden Stahl in seiner Hand und wich zurück.

»Ich schwöre Ihnen, daß niemand anders als der Chauffeur bei mir ist.«

»Kommen Sie her!« befahl er. »Steigen Sie in mein Auto.«

Sie wollte sich umdrehen, glitt aber in dem nassen Schnee aus. Rasch packte er sie an beiden Armen und stand nun hinter ihr.

»Nanu – was soll denn das?« brüllte der Chauffeur ihn an und näherte sich in drohender Haltung.

»Halt!« Eine Revolvermündung brachte ihn zum Stehen.

»Fahren Sie fort! Hier!«

Eine Handvoll Geld flog ihm vor die Füße, und als er sich bückte, es aufzuheben, sauste der Revolverkolben auf seinen Hinterkopf nieder. Er fiel um wie ein schwerer Klotz.

Das geschah, bevor sich Audrey der großen Gefahr bewußt wurde, in der sie schwebte. Sie fühlte, daß der Mann sie aufhob.

»Wenn Sie schreien, schneide ich Ihnen die Kehle durch!« zischte er ihr ins Ohr. »Sie sollen denselben Weg gehen wie Marshalt und Tonger – den Weg, den auch Shannon gehen wird, wenn Sie nicht tun, was ich will –«

Er preßte eine Hand auf ihren Mund und zerrte sie auf sein Auto zu. Aber dann ließ er sie plötzlich los, und sie stürzte halb ohnmächtig zu Boden. Bevor sie wieder ganz zu sich kam, schossen die Lampen von Malpas Auto an ihr vorüber. Sie sah drei Leute laufen, hörte Schüsse knallen und wurde auf die Füße gestellt. Der Arm, der sie umfaßt hielt, gab ihr ein sonderbar beruhigendes Gefühl, und sie schaute in Dick Shannons Gesicht.

»Sie unartiges Kind!« sagte er streng. »War das ein Schreck!«

»Haben Sie – haben Sie ihn gesehen?«

»Malpas? Nein, nur seine Scheinwerfer, aber es ist ja immerhin entfernt möglich, daß sie ihn an irgendeinem Tor anhalten. Mein Mann hatte Sie aus den Augen verloren, und es war ein reiner Glücksfall, daß er Sie bei Clarence Gate wiedersah. Er rief mich in Marylebone an – nun, wir wollen froh sein, daß alles so gut abgelaufen ist.« Er schauderte. »Hat der Kerl etwas von Belang gesagt?«

»Nein, er stieß nur eine Menge ungemütlicher Drohungen aus, die hoffentlich nicht in Erfüllung gehen. Dick, ich kehre zu meinen Hühnern zurück.«

Shannon lachte leise.

»Selbst das grimmigste Ihrer Hühner würde nicht imstande sein, Sie jetzt zu beschützen. Malpas hält es aus irgendeinem Grund für notwendig, Sie zu beseitigen. Übrigens habe ich Sie Tag und Nacht von zwei eifrigen Leuten bewachen lassen. Haben Sie das nicht bemerkt?«

Nachdem er sie ins Hotel zurückgebracht hatte, fuhr er nach Hause und stieß vor seiner Tür auf Mr. Brown.

»Warten Sie hier auf mich?« fragte er.

»Ja, seit einigen Minuten. Haben Sie ihn gefaßt?«

Dick fuhr herum.

»Wen?«

»Nun, natürlich Malpas! Sie vergessen, daß Ihre Kanonade die friedlichen Bewohner von Regent's Park in fürchterliche Angst versetzt und lebhafte Reklame für Ihren Kampf mit dem Teufelskerl gemacht hat.«

»Teufelskerl? Kennen Sie Malpas?«

»Sehr genau, und Lacy Marshalt auch – noch besser als den verstorbenen Laker.«

»Kommen Sie mit mir hinauf«, erwiderte Dick, und Mr. Brown folgte ihm so lautlos, daß er sich umdrehte, um sich zu vergewissern, ob er auch hinter ihm wäre.

»Sie sprachen eben von Laker: wer ist das?«

»Ein Dieb und Trunkenbold. Obwohl er Malpas kannte, war er unvorsichtig genug, ihn in berauschtem Zustand zu besuchen – infolgedessen wurde seine Leiche kürzlich aus der Themse gefischt.«

»Meinen Sie den Mann, der am Embankment ins Wasser geworfen wurde?«

»Ja, das war Laker. Wundern Sie sich, daß es sogenannte Teufel in Menschengestalt gibt, die sich durch Mord einen Ausweg aus ihren Verlegenheiten suchen? Warum auch nicht? Begeht man einen Mord, ohne ihn zu bereuen, so sind alle weiteren nur eine natürliche Folge davon. Ich habe viele Mörder gekannt –«

»Gekannt!« wiederholte Dick bestürzt.

»Ja, ich habe lange Sträflingsjahre hinter mir. Mein eigentlicher Name ist Torrington, und ich war zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt, wurde aber begnadigt, als ich zwei Kindern das Leben rettete, und zwar den Kindern des höchsten Verwaltungsbeamten von Kapstadt. Aus diesem Grund hat man mir auch die Führung eines Passes unter falschem Namen gestattet.« Er lächelte flüchtig. »Ich gehöre sozusagen den privilegierten Klassen an. Und ich interessiere mich für Malpas, noch mehr allerdings für den verstorbenen Marshalt. Aber darüber brauche ich wohl keine weiteren Worte zu verlieren. Malpas ist gefährlich, Captain Shannon. Auf einen Mord mehr oder weniger kommt es ihm nicht an. An Ihrer Stelle würde ich ihn in Ruhe lassen.«

»Ein netter Ratschlag für einen Polizeibeamten!« meinte Dick lachend.

»Es ist ein guter Rat«, erwiderte Brown. »Wo mögen sie nur Marshalts Leiche hingebracht haben?« fragte er dann.

Dick zuckte die Schultern.

»Sie muß noch irgendwie im Haus versteckt sein«, entgegnete er ausweichend.

»Das glaube ich nicht. Ich habe einen Gedanken – aber ich habe schon zuviel gesagt. Kommen Sie mit und trinken Sie bei mir im Hotel noch einen Nachttrunk, Captain Shannon!«

Dick lehnte lächelnd ab.

»Aber dann bringen Sie mich doch wenigstens nach Hause?« fragte Brown. »Ich bin ein schwacher, alter Mann und bedarf des polizeilichen Schutzes.«

Dazu war Dick bereit. Unterwegs sah er, daß Mr. Torrington manchmal weniger hinkte. Es war, als ob er zuweilen vergäße, den Fuß nachzuschleppen. Schließlich machte Dick eine Bemerkung darüber.

»Ich glaube, das beruht auf Gewohnheit«, entgegnete Torrington unbefangen. »Ich hatte mir das Nachschleppen des Fußes so angewöhnt, daß es mir zur zweiten Natur geworden ist.«

Er spähte scharf um sich.

»Erwarten Sie, jemand zu sehen?« fragte Dick.

»Ja, ich sehe mich nach dem Schatten um. Er hat sich heute noch gar nicht blicken lassen.«

Shannon lächelte.

»Sie lieben es wohl nicht, beobachtet zu werden? Alle Achtung, daß Sie es bemerkt haben!«

Torrington schaute ihn groß an.

»Ach, Sie meinen den Polizisten, der mir folgt? Dort an der Ecke steht er. Nein, ich sprach von dem Mann, der auf Ihrer Spur ist.«

»Auf meiner Spur?«

»Wußten Sie das denn nicht? Du lieber Himmel, und ich dachte, Sie wüßten alles.«


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