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Big Bill war nicht sentimental, aber dieser Vorschlag ging selbst ihm zu weit.
»Das ist unmöglich. Bedenke doch, wenn sie gefaßt wird und uns verrät?«
»Das ist auch mein einziges Bedenken, und es ist nur gering«, entgegnete Dora.
Der große Mann starrte einen Augenblick vor sich hin.
»Das Ding muß unbedingt aus dem Haus«, sagte er dann. »Schließe die Tür zu, Dora!«
Sie gehorchte. Auf dem Kaminsims stand eine wunderschön emaillierte Uhr, die mit einer kleinen Faungestalt geschmückt war. Stanford hob den Faun und damit einen Teil der Uhr ab, die ruhig weitertickte. Ein leiser Druck auf eine Feder genügte, um eine Seite des Bronzekastens zu öffnen und ein genau hineinpassendes Stanniolpaket zu zeigen. Er legte es auf den Tisch, und als er es auspackte, flammten blaue, grüne und weiße Blitze blendend auf. Voll Bewunderung sah Dora auf die Steine.
»Hier liegen nun siebzigtausend Pfund«, meinte Stanford nachdenklich, »und daneben liegen zehn Jahre für irgendjemand – sieben für Diebstahl und drei für Majestätsbeleidigung.«
Der elegante Martin Elton schauderte.
»Schenke dir doch solche Bemerkungen. Es handelt sich jetzt nur darum, wer das Ding fortbringt.«
»Audrey natürlich«, erklärte Dora gelassen. »Kein Mensch kennt sie, und niemand verdächtigt sie. Und Pierre ist leicht zu erkennen. Aber dann ist auch Schluß mit diesen Geschichten, Martin. Du weißt, der Krug geht solange zu Wasser, bis –«
»Vielleicht macht Lacy Marshalt ihn zu einem Direktor«, höhnte Stanford.
»Ich kenne den Mann ja kaum«, entgegnete sie. »Ich erzählte dir, daß ich ihn auf dem Ball bei Denshores getroffen habe, Bunny. Er ist Südafrikaner und steinreich, aber unerhört geizig.«
Martin sah sie mißtrauisch an.
»Ich wußte nicht, daß du ihn kennst –«
»Zur Sache!« rief Stanford ungeduldig. »Was soll werden – wenn sie gefaßt wird? Elton, nach der Geschichte in Leyland Hall hast du den Kram doch durch einen Mann aus Bognor außer Landes schaffen lassen. Erinnerst du dich? Nun, mit diesem Freund aus Bognor hat sich Dick Shannon heute stundenlang unterhalten.«
Martins hübsches, blasses Gesicht wurde noch einen Schein bleicher.
»Er wird nichts verraten«, murmelte er.
»Wer weiß! Wenn einer ihn dazu bringt, ist es Shannon.«
»Der Schmuck muß weg«, sagte Dora. »Packe ihn wieder ein, Martin.«
Er machte sich an die Arbeit, wickelte die Kette in Watte und legte sie in eine kleine, flache Zigarrenschachtel, die er mit braunem Papier umhüllte und verschnürte. Dann steckte er das Päckchen unter ein Sofakissen und brachte die Uhr wieder in Ordnung.
»Plaudert deine Schwester aus, wenn sie gefaßt wird?« fragte Stanford.
Dora überlegte einen Augenblick.
»Nein, bestimmt nicht!« sagte sie dann und ging hinauf, um Audrey zu holen.
Als das junge Mädchen ins Zimmer trat, fiel ihr Blick zuerst auf einen großen, breitschulterigen Mann mit kurzgeschorenem Haar, der sie mit ernsten, strengen Augen ansah.
»Mr. Stanford«, stellte Dora vor. »Und dies ist mein Mann.«
Verwundert betrachtete Audrey den zierlichen, stutzerhaften Mr. Elton, dessen bleiche Gesichtsfarbe durch das dunkle Schnurrbärtchen und die kohlschwarzen Augenbrauen noch mehr hervorgehoben wurde. Das war also der vielgepriesene Martin!
»Sehr erfreut, dich kennenzulernen, Audrey!« sagte er und schaute sie begeistert an. »Du hast ja eine entzückende Schwester, Dora!«
»Ja, sie ist jetzt hübscher als früher«, erwiderte seine Frau kühl, »aber fürchterlich angezogen.«
Audrey wurde nicht leicht verlegen, aber der unverwandte Blick des großen Mannes, der sie geradezu durchbohrte und abschätzte, war ihr unbehaglich. Sie atmete erleichtert auf, als er sich verabschiedete. Martin begleitete ihn hinaus, um Dora Gelegenheit zu geben, ihre Geschichte vorzubringen.
Sie erzählte von einer mißhandelten Frau, die sich genötigt gesehen hätte, aus Angst vor ihrem brutalen Gatten das Land zu verlassen, und nicht einmal Zeit gehabt hätte, das Miniaturbild ihres Kindes mitzunehmen.
»Wir haben uns das Bild verschafft«, fuhr sie fort. »Nach dem Buchstaben des Gesetzes waren wir allerdings nicht dazu berechtigt, aber die arme Mutter tat uns so leid. Durch ein gutes Trinkgeld hat Martin einen Diener des Hauses bewogen, uns das Bild zu bringen. Nun scheint der Mann aber die Sache herausgebracht zu haben und läßt uns Tag und Nacht beobachten, so daß wir es nicht wagen, das Bild durch die bereits gewarnte Post oder durch einen Boten fortzuschicken. Heute kommt nun ein Freund der armen Lady Nilligan nach London, und wir haben verabredet, ihm das Bild auf den Bahnhof zu bringen. Nun fragt es sich – würdest du wohl so lieb sein, es hinzutragen, Audrey? Dich kennt hier niemand. Die Spione werden dich nicht belästigen, und du kannst einer bedauernswerten Frau einen großen Dienst erweisen.«
»Aber das ist doch eine sehr sonderbare Geschichte!« rief Audrey und runzelte die Stirne. »Könnt ihr denn nicht einen Dienstboten schicken? Oder kann der Mann nicht herkommen?«
»Ich sagte dir doch, daß unser Haus bewacht wird!« entgegnete Dora ungeduldig. »Aber natürlich, wenn du nicht willst –«
»Selbstverständlich werde ich es tun«, lachte Audrey.
»Wie nett von dir! Aber eins muß ich dir noch sagen: falls die Sache doch herauskommen sollte, darfst du unseren Namen nicht nennen. Ich bitte dich, mir bei dem Andenken an unsere tote Mutter zu schwören –«
»Das ist nicht nötig«, unterbrach sie Audrey kühl. »Ich verspreche es dir – das genügt.«
Aus dem kleinen Diner, von dem Dora gesprochen hatte, schien nichts geworden zu sein, denn um halb neun kam sie zu ihrer Schwester nach oben und übergab ihr ein längliches, fest verschnürtes und versiegeltes Päckchen.
Sie beschrieb ihr den geheimnisvollen Pierre genau.
»Vor allem aber kennst du mich nicht«, schärfte sie ihr noch einmal ein, »und du hast auch das Haus Curzon Street Nr. 508 nie in deinem Leben betreten. Und zu dem Mann sagst du weiter nichts als: ›Dies ist für Madame.‹«
Audrey wiederholte die Worte.
»Welche Umstände für eine solche Kleinigkeit!« meinte sie dann. »Ich komme mir fast wie eine Verschworene vor.«
Nachdem sie das Päckchen in einer inneren Manteltasche verborgen hatte, verließ sie das Haus und entfernte sich in der Richtung nach Park Lane. Martin folgte ihr, behielt sie im Auge, bis sie in einen Omnibus stieg, und fuhr dann in einem Mietauto hinter ihr her.
Vor dem Charing Cross-Bahnhof stieg Audrey ab und eilte in die große Halle. Dort wimmelte es von Menschen, und es dauerte eine Weile, bis sie Pierre entdeckte, einen untersetzten, flachsbärtigen Mann mit einem kleinen Muttermal auf der linken Backe, das ihr als Erkennungszeichen dienen sollte. Ohne weiteres zog sie das Päckchen aus dem Mantel, ging auf ihn zu und sprach ihn mit den verabredeten Worten an.
Er schaute sie forschend an und ließ das Päckchen so schnell in seine Tasche gleiten, daß sie seiner Bewegung kaum zu folgen vermochte.
»Bien!« sagte er. »Wollen Sie Monsieur danken und –«
Er fuhr blitzschnell herum, aber der Mann, der ihn am Handgelenk gepackt hatte, ließ sich nicht abschütteln. Im selben Augenblick wurde auch Audrey am Arm gefaßt.
»Kommen Sie mit, meine Liebe«, sagte eine freundliche Stimme zu ihr. »Ich bin Captain Shannon von Scotland Yard.«
Plötzlich stockte er jedoch und starrte entsetzt in ihr Gesicht.
»Meine Bettelprinzessin!« sagte er leise.
»Bitte, lassen Sie mich los!« Schreckliche Angst packte Audrey, und sie versuchte sich freizumachen. »Ich muß zu –« Noch rechtzeitig verstummte sie.
»Sie wollen natürlich zu Mrs. Elton«, ergänzte er.
»Nein, ich kenne keine Mrs. Elton«, erwiderte sie atemlos.
Er schüttelte den Kopf.
»Ich fürchte, darüber müssen wir noch genauer sprechen. Ich möchte Ihren Arm nicht festhalten. Wollen Sie mich so begleiten?«
»Sie – Sie verhaften mich?« keuchte sie.
Er nickte ernst.
»Ich muß Sie leider festnehmen, bis eine gewisse Angelegenheit aufgeklärt ist. Ich bin fest davon überzeugt, daß Sie in Unwissenheit gehandelt haben. Aber Ihre Schwester ist keineswegs unschuldig.«
Sprach er von Dora? Das Herz wurde ihr schwer, aber sie nahm sich zusammen.
»Ich will gern mit Ihnen sprechen und keinen Fluchtversuch machen. Aber ich komme nicht von Mrs. Elton, und sie ist nicht meine Schwester. Ich habe heute nachmittag geflunkert, als ich das behauptete.«
Er winkte ein Auto heran, gab dem Chauffeur Anweisung, wohin er fahren sollte, und half ihr beim Einsteigen.
»Sie lügen, um Ihre Schwester und Bunny Elton zu schützen«, sagte er unterwegs.
Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, aber eins wußte sie jetzt klar: es war kein Miniaturbild gewesen, das sie Pierre übergeben hatte. Es war etwas ganz anderes – etwas Entsetzliches!
»Was war in dem Paket?« fragte sie tonlos.
»Die Diamantenkette der Königin von Griechenland, wenn ich nicht sehr irre. Man überfiel sie und riß ihr das Kollier vom Hals.«
Audrey richtete sich auf, und ein schmerzlicher Ausdruck trat in ihr Gesicht. Dora!
»Sie wußten natürlich nicht, um was es sich handelte«, sagte er, als ob er zu sich selbst spräche. »Es ist in diesem Fall eine furchtbare Zumutung an Sie, aber Sie müssen die Wahrheit sagen – auch wenn es für Ihre Schwester ein Schicksal bedeutet, das sie längst erwartet.«
Das Auto schien sich im Kreise zu drehen. »Tu alles, was du kannst, für Dora . . .« Die beharrliche Mahnung ihrer Mutter dröhnte ihr in den Ohren. Sie zitterte heftig, und ihr Gehirn war plötzlich wie gelähmt. Sie wußte nur, daß sie verhaftet war – sie, Audrey Bedford!
»Ich habe keine Schwester«, log sie, und atmete schwer. »Ich habe die Kette gestohlen.«
Als sie sein freundliches Lachen hörte, hätte sie ihn ermorden mögen.
»Sie armes, liebes Baby! Der Überfall wurde von drei erfahrenen Banditen ausgeführt. Nun hören Sie einmal zu. Ich gestatte Ihnen nicht, daß Sie diesen tollen Plan in die Tat umsetzen und sich einfach für diese Leute opfern. Wußten Sie denn nicht, daß Dora Elton und ihr Mann zu den gefährlichsten Verbrechern Londons gehören?«
Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte.
»Nein, nein –« schluchzte sie. »Ich weiß nichts . . . sie ist nicht meine Schwester.«
Dick Shannon seufzte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sie anzuklagen.
Pierre war schon vor ihnen auf der Polizeistation eingetroffen, und Audrey sah entsetzt zu, als man ihn durchsuchte, das Päckchen öffnete und seinen blitzenden Inhalt auf dem Schreibtisch niederlegte. Dann nahm sie Shannon freundlich an der Hand und führte sie hinter die Stahlschranke.
»Name: Audrey Bedford«, sagte er. »Adresse: Fontwell, West Sussex. Sie wird beschuldigt, im Besitz gestohlenen Gutes gewesen zu sein und gewußt zu haben, daß es sich um gestohlenes Gut handelte. – Nun sagen Sie die Wahrheit!« flüsterte er ihr zu.