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An dem Nachmittag desselben Tages machte Audrey einen Spaziergang im Green Park, wo es um diese Zeit immer sehr still und leer war. Es wehte jedoch ein so eisiger Nordwind, daß sie mitten auf der Brücke plötzlich umkehrte. Als sie an dem See entlangging, kam sie auch an einer Bank vorbei, auf der eine Frau weit zurückgelehnt saß und mit hintenübergebogenem Kopf zum Himmel starrte. Ihre Stellung war so unnatürlich und sonderbar, daß Audrey unwillkürlich anhielt, als auch ein anderer Spaziergänger stehenblieb.
»Was mag mit der Frau sein?« fragte sie ängstlich.
Der Mann trat rasch auf die Bank zu, und Audrey folgte ihm.
Die Frau schien zwischen dreißig und vierzig Jahren alt zu sein. Ihre Augen waren halb geschlossen, Gesicht und Hände blau vor Kälte. Neben ihr lag eine kleine, silberne Reiseflasche ohne Stöpsel, aus der eine Flüssigkeit auf die Bank tropfte. Sonderbarerweise kam Audrey das Gesicht bekannt vor, aber sie konnte sich nicht darauf besinnen, wo sie die Frau schon gesehen hatte.
Der Mann hatte seine Zigarre weggeworfen und hob den Kopf der Unglücklichen behutsam empor. Im selben Augenblick kam auch ein Schutzmann herbei.
»Ist sie krank?« fragte er.
»Sehr krank, fürchte ich«, erwiderte der Mann ruhig. »Miß Bedford, gehen Sie lieber fort.«
Sie sah ihn verwundert an. Woher kannte er ihren Namen?
»Gegenüber von der Horseguard-Wache steht noch ein Polizist«, sagte der Beamte zu Audrey. »Würden Sie so gut sein und ihm sagen, daß er die Unfallstation anrufen und dann herkommen soll?«
Sie eilte davon, und erst als sie verschwunden war, erinnerte sich der Polizist an seine Vorschriften.
»Ich habe ganz vergessen, nach ihrem Namen zu fragen! Kennen Sie die Dame vielleicht?«
»Ja, es ist Miß Bedford«, erwiderte Slick Smith. »Ich kenne sie dem Aussehen nach. Wir haben eine Zeitlang im selben Büro gearbeitet.« Er griff nach dem silbernen Fläschchen, hob den Stöpsel vom Boden auf und schloß es sorgfältig. Dann überreichte er es dem Beamten.
»Sie werden dies brauchen«, sagte er und setzte bedeutungsvoll hinzu: »An Ihrer Stelle würde ich niemand einen Schluck daraus tun lassen, mit dem Sie es gut meinen.«
»Sie glauben, daß es Gift ist?« fragte der Mann erschrocken.
»Riechen Sie es denn nicht? Wie bittere Mandeln – die Frau ist tot.«
»Selbstmord?«
»Wer weiß! Schreiben Sie sich lieber auch meinen Namen auf: Richard James Smith, der Polizei als Slick Smith bekannt. Ich stehe in den Registern von Scotland Yard. «
Der andere Schutzmann erschien, und gleich darauf kam auch der Krankenwagen mit einem Arzt. Der Doktor erklärte sofort, daß die Frau durch Zyankali vergiftet und tot sei . . .
Dick Shannon hörte durch Zufall von diesem Ereignis, interessierte sich aber weiter nicht dafür, bis der mit dem Fall betraute Beamte zu ihm kam, um sich nach Slick Smith zu erkundigen.
»Ja, ich kenne ihn: ein amerikanischer Schwindler und Dieb«, sagte er. »Hier hat er sich aber noch nichts zuschulden kommen lassen. Wer war die Frau?«
»Unbekannt. Es scheint Selbstmord vorzuliegen.«
Abends warf Audrey einen Blick in die Zeitung und bemerkte eine kurze Notiz:
»Die Leiche einer unbekannten Frau wurde heute im Green Park gefunden. Man nimmt an, daß Selbstmord durch Gift vorliegt.«
Sie war also tot! Audrey überlief ein Schauder. Wer konnte es nur sein? Sie wußte doch genau, daß sie die Frau schon gesehen hatte . . .
Plötzlich fiel es ihr ein. Es war die Betrunkene, die neulich vor Marshalts Haustür solchen Lärm gemacht hatte . . .
Audrey stand auf, ging ans Telephon und rief Shannon an. Der freudige Ton seiner Stimme weckte ein warmes Glücksgefühl in ihrem Herzen.
»Wo sind Sie gewesen? Ich wartete schon dauernd auf einen Anruf von Ihnen . . . es ist doch nichts geschehen?«
»Nein, aber ich las eben von der toten Frau im Green Park. Ich war dabei, als sie gefunden wurde, und ich glaube, daß ich sie kenne.«
»Ich komme sofort zu Ihnen«, erwiderte Dick.
Kurze Zeit später saß er bei ihr, und sie berichtete ihm, was sie wußte.
»Sie erinnern sich doch, daß ich Ihnen von einer Frau erzählte, die an Mr. Marshalts Tür klopfte?«
Dick pfiff leise durch die Zähne.
»Ich möchte nicht haben, daß Sie bei dieser Affäre als Zeugin auftreten«, meinte er nach kurzem Nachdenken. »Das kann Smith tun – und mit Tonger werde ich heute abend sprechen. Übrigens – wann besuchen Sie Malpas?«
»Morgen.«
»Sie flunkern, meine Liebe. Sie wollen heute abend hingehen.«
Audrey lachte.
»Ja, allerdings. Ich dachte nur, Sie würden Umstände machen –«
»Das stimmt vermutlich. Zu wann hat er Sie bestellt?«
»Um acht soll ich kommen.«
Er sah nach der Uhr.
»Ich werde zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen«, entgegnete er. »Jetzt gehe ich zu Marshalt, und drei Minuten vor acht erwarte ich Sie an der Nordseite des Portman Square. Bitte, keine Einwendungen. Und geben Sie mir Ihr Wort, das Haus nicht zu betreten, bevor Sie mich gesprochen haben.«
Sie zögerte eine Sekunde, gab ihm aber dann das Versprechen und fühlte sich wesentlich erleichtert.