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Dick Shannon saß in seiner Wohnung am Haymarket und blätterte in einem Briefordner. Er las einen der mit Maschine beschriebenen Bogen durch, um sein Gedächtnis aufzufrischen.
»Tonger trug einen grauen Anzug, schwarze Schuhe, blaugestreiftes Hemd und weißen Kragen. Taschen enthielten 27 £ und 200 Franken. (Notiz: Tonger fuhr am Morgen seines Todestages nach Paris, gab einen Brief an unbekannte Adresse auf und kehrte am selben Tag zurück); alte, goldene Uhr Nr. 984371, goldene Kette, zwei Schlüssel, eine Brieftasche mit einem Rezept für Bromkalium (Notiz: verschrieben von Dr. Walters, Park Lane, bei dem sich Tonger über Schlaflosigkeit beklagte) drei Fünfpfundnoten und ein dreikantiger Pfriemen . . .«
Dick schloß einen kleinen Safe auf, nahm eine Schachtel heraus und versenkte sich mit Hilfe einer Lupe in die Betrachtung dieses Pfriemens, der bereits von erfahrenen Technikern geprüft und gemessen worden war und viel Kopfzerbrechen verursacht hatte.
Das Instrument war etwa vier Zoll lang, hatte eine stumpfe Spitze und endete in einem Korkziehergriff. Kurz vor dem Holzteil wurde es stärker, und an dieser Stelle verriet sich selbst dem ungeübten Auge Dilettantenarbeit. Dick erinnerte sich der Schrauben und der Feilen im Vorratsraum und war davon überzeugt, daß dieses sonderbare Werkzeug dort verfertigt worden war. Aber zu welchem Zweck?
Mißmutig lehnte er sich zurück und grübelte, bis ihm wirr im Kopf wurde. Plötzlich schrak er zusammen. Wer warf denn Steinchen gegen sein Fenster? Er schaute hinaus, sah aber nur ein paar Leute mit aufgespannten Schirmen vorübereilen. Als er sich umwandte, klirrte es wieder gegen die Scheibe. Er rief seinen Diener, befahl ihm, sich zwischen das Fenster und die Lampe zu setzen, und ging leise zur Haustür hinunter. Behutsam öffnete er sie einen Zentimeter weit und lauschte angestrengt. Gleich darauf rasselte es wieder. Er stürzte hinaus und packte ein junges Mädchen im Regenmantel am Arm.
»Was soll denn das bedeuten?« fragte er streng, hielt aber ein, als er in Audreys lachende Augen schaute. »Was in aller Welt –?«
»Ich wollte Sie sprechen, und da Detektive niemals klingeln –«
»Was soll das heißen? Kommen Sie herein! Womit warfen Sie denn – mit Hühnerfutter?«
»Nein, die Hühnersache habe ich jetzt vollständig aufgegeben. Zum Glück kann ich ja ohne Ehrendame zu Ihnen kommen, da wir nun Kollegen sind.«
Sie traten in sein Zimmer ein, und als der Diener entlassen worden war, zog Audrey feierlich einen silbernen Stern aus der Tasche und legte ihn mit einer theatralischen Geste auf den Tisch.
»Stormer?« murmelte er, als ob er seinen Augen nicht trauen dürfte. »Aber Sie sagten doch, daß –«
»Mit Hühnern habe ich ein für allemal Schluß gemacht«, erklärte sie, während sie ihren triefenden Mantel auszog. »Die bringen mich nur in Schwierigkeiten. Aber wie ich sehe, sind Sie nicht an Damenbesuch gewöhnt, Captain. Das spricht entschieden zu Ihren Gunsten.« Sie klingelte. »Sehr heißen Tee und sehr heißen Toast, bitte!« befahl sie dem höchst erstaunten Chauffeurdiener. Als der Mann gegangen war, wandte sie sich wieder an Dick. »Wenn eine Dame zu Ihnen kommt, müssen Sie zuerst fragen, ob sie Tee haben möchte, zweitens, ob sie hungrig ist. Dann schiebt man den behaglichsten Lehnstuhl ans Feuer und erkundigt sich teilnehmend, ob vielleicht ihre Füße naß geworden sind. Ich möchte aber gleich bemerken, daß das bei mir nicht zutrifft. Sie mögen ja ein guter Detektiv sein, aber Sie sind ein schlechter Gastgeber.«
»Nun erzählen Sie mir aber, welche Abenteuer Sie inzwischen wieder erlebt haben«, bat er, nachdem er ihre Belehrung hingenommen und ihr so gut als möglich entsprochen hatte.
Sie berichtete ihm auch bereitwillig von ihren Erlebnissen.
»Ich habe also weiter nichts zu tun«, sagte sie zum Schluß, »als in einem netten Hotel zu wohnen und ein väterliches Auge auf einen sechzigjährigen Herrn zu werfen, der mich nicht einmal kennt. Er würde sonst wohl auch diese Bevormundung furchtbar übelnehmen. Aber es ist eine anständige Beschäftigung, und Mr. Stormer ist mir jedenfalls sympathischer als Mr. Malpas. Er ist auch bedeutend menschlicher.«
Sie unterbrach sich, als der Diener den Tee brachte und sich anschickte, den Tisch zu decken, was Dick jedoch für überflüssig erklärte.
»Ein Beruf ist es ja«, meinte Dick, »wenn auch kein angenehmer für ein junges Mädchen. Jedenfalls bin ich froh, daß Sie bei Stormer sind. Ich weiß nicht recht, was ich Ihnen nun raten soll. Einen Plan für Ihre Zukunft habe ich allerdings, und ich wollte, Sie fänden eine mehr erheiternde und ungefährliche Tätigkeit, bis ich mit diesem Portman Square-Rätsel fertig bin und Malpas hinter Schloß und Riegel habe. Dann –«
»Nun – dann?« fragte sie, als er verstummte.
»Dann werden Sie mir hoffentlich gestatten, mich um – Ihre Angelegenheiten zu kümmern«, entgegnete er ruhig.
Der Blick, mit dem er sie betrachtete, veranlaßte sie, rasch aufzustehen.
»Ich muß nach Hause – der Tee war köstlich.«
Er klingelte nach ihrem Mantel, der in der Küche trocknete.
»Was werden Sie sagen, wenn ich Ihre Zukunft in die Hand nehme?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich – ich weiß nicht . . . ich bin Ihnen ja sehr dankbar – für alles, was Sie getan haben –«
In diesem Augenblick brachte der Diener den Mantel, und Dick half ihr gerade hinein, als es schellte, und Steel eintrat.
Er verbeugte sich leicht vor Audrey und wandte sich dann an Dick.
»Was sind das für Dinge?« fragte er und nahm eine Handvoll gelber Kiesel von verschiedener Größe aus der Tasche. Einzeln legte er sie auf den Tisch.
»Das sind Diamanten – im Wert von etwa zweihundertfünfzigtausend Pfund«, erwiderte Dick langsam.
»Noch dreimal soviel liegen in Malpas' Zimmer«, fuhr Steel fort. »Der ganze Götze ist damit gefüllt! Ich entdeckte das Versteck zufällig, als ich mich ein bißchen langweilte und an den beiden Bronzekatzen herumtastete. Ich überlegte, ob sie wohl nur zum Schmuck dienten oder irgendwelchen Nutzen hätten. Und plötzlich drehte sich das eine Tier halb um sich selbst, und als ich mein Heil mit dem anderen versuchte, wiederholte sich die Geschichte. Ich muß wohl unbewußt eine Feder berührt haben. Mit einemmal öffnete sich die Brust des Götzen in der Mitte – ganz wie eine Flügeltür. Ich kletterte auf den Sockel und leuchtete mit meiner Taschenlampe hinein, und – ich schwöre Ihnen, der Körper ist bis zur Hälfte voll von solchen und teilweise noch größeren Steinen!«
Dick betrachtete die Diamanten. Jeder war mit einem kleinen roten Siegel versehen, der seinen Fundort bezeugte.
»Er wird sie nicht verkauft haben, weil die Diamantenpreise in den letzten Jahren wegen Überproduktion gesunken sind«, sagte er. »Sie haben die Tür in dem Götzen natürlich wieder geschlossen?«
»Selbstverständlich! Und glücklicherweise war ich auch allein im Zimmer, als ich die Entdeckung machte.«
Shannon schüttete die Steine in eine Zuckerschale und verwahrte sie in seinem Geldschrank.
»Die anderen müssen noch heute nach Scotland Yard geschafft werden«, ordnete er an. Dann forderte er Audrey auf, mitzukommen, nahm eine Ledertasche mit und machte sich auf den Weg.
Steel hatte zwei Leute in Malpas' Zimmer als Wachen zurückgelassen. Ein dritter befand sich in der Halle, und der Inspektor kam von oben herunter. Auf Dicks Wunsch wurde im Hinblick auf etwaige neue Zwischenfälle noch der Mann aus der Halle heraufgerufen. Dann ging Dick auf die Nische zu und zog den Vorhang beiseite. Sobald er das eine Katzentier drehte, setzte sich die Maschinerie in Bewegung. Dick stieg hinauf und nahm eine Handvoll Steine aus dem Versteck.
»Die Sache stimmt«, meinte er, als er wieder hinuntersprang und die Diamanten in die Ledertasche schüttete.
Im selben Augenblick hörte er ein Knacken und fuhr herum. Beide Katzen begannen sich langsam zurückzudrehen, und gleichzeitig gingen alle Lichter aus.
»Stellen Sie sich vor die Tür!« befahl Shannon rasch. »Einer von den Leuten soll sich zum Büfett hintasten und den Gummiknüppel dabei gegen die Täfelung drücken. Sobald sie sich bewegt, muß er zuschlagen. Wo sind die Taschenlampen?«
»Draußen auf dem Flur«, sagte der Inspektor.
»Holen Sie sie! Der Mann an der Tür läßt den Inspektor durch und gibt scharf acht, daß es auch wirklich der Inspektor ist, der zurückkommt.«
Audreys Herz schlug heftig, und ihre Hand tastete instinktiv nach Dicks Arm.
»Was wird geschehen?« flüsterte sie ängstlich.
»Ich weiß es nicht«, gab er leise zurück. »Bleiben Sie dicht hinter mir, und halten Sie meinen linken Arm fest!«
»Die Tür ist zu!« rief der Inspektor plötzlich.
Steel kroch am Boden entlang auf den Götzen zu.
»Hat nicht jemand ein Streichholz? Captain, haben Sie etwas gehört?«
»Es kam mir vor, als ob ich ein leises Wimmern hörte. Können Sie den Götzen fühlen?«
»Ich bin – o, mein Gott!«
Audreys Blut erstarrte bei dem Schmerzensschrei.
»Was ist los?« rief Dick.
»Ich berühre etwas Glühendes!« Steel stöhnte.
»Hier brennt etwas«, flüsterte Audrey. »Riechen Sie es nicht?«
Dick machte sich sanft von ihr frei.
»Ich muß einmal sehen, was geschehen ist.«
Im gleichen Augenblick flammte das Licht wieder auf. Allem Anschein nach hatte sich nichts bewegt. Steel befühlte seine Hand, deren innere Fläche einen roten Striemen aufwies.
»Eine scheußliche Brandwunde«, sagte er und biß die Zähne zusammen.
Dick rannte zu dem Sockel des Götzen und betastete ihn. Er war eiskalt.
»Ich glaube, es kam etwas aus dem Fußboden heraus«, meinte Steel, »eine glühende Schranke oder so etwas Ähnliches . . .«
»Erst wollen wir uns jetzt einmal die Steine holen!« erklärte Dick und drehte die Katzen. Die kleine Tür öffnete sich, und er stieg hinauf.
Aber als er die Hand hineinstreckte, fand er die Höhlung leer.