Edgar Wallace
Das Gesicht im Dunkel
Edgar Wallace

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9

Dick Shannon bewohnte ein Stockwerk am Haymarket, und am Tag nach Audreys Entlassung aus dem Gefängnis waren Inspektor Lane, Steel und er selbst dort versammelt.

»Sie haben sie verfehlt?« fragte der Inspektor.

Dick seufzte und nickte.

»Aber da sie vorzeitig entlassen wurde, muß sie sich melden, und das wird man mir sofort berichten. Lassen wir das einstweilen. Wie steht es denn mit Malpas?«

»Er bleibt nach wie vor ein Rätsel«, erwiderte Lane. »Und sein Haus ist ein noch größeres Geheimnis als er. Er bewohnt es ununterbrochen seit Januar 1917, und kein Mensch hat ihn gesehen. Seine Rechnungen bezahlt er prompt, und gleich nach seinem Einzug hat er viel Geld für allerlei neue Anlagen ausgegeben: elektrische Leitungen, Alarmapparate und dergleichen Finessen. Eine große Turiner Firma hat das Haus ausgestattet.«

»Hat er keine Dienstboten?«

»Nein. Das ist das Seltsamste an der Geschichte. Nahrungsmittel kommen nicht ins Haus, woraus hervorgeht, daß er entweder verhungern oder ausgehen muß. Ich habe es von vorn und von hinten beobachten lassen, aber keiner meiner Leute hat den Mann zu sehen bekommen, obwohl sie sonst verschiedene sonderbare Dinge bemerkten.«

»Bringen Sie jetzt das Mädchen herein, Steel«, sagte Shannon, und gleich darauf schob sein Assistent eine stark gepuderte junge Dame ins Zimmer, die sich mißmutig auf einem Stuhl niederließ.

»Miß Neilsen, Berufstänzerin ohne Anstellung?« fragte Dick.

»Ja.«

»Erzählen Sie uns von Ihrem Besuch in Portman Square Nr. 551.«

»Hätte ich gewußt, daß ich gestern nacht, als ich so mitteilsam war, mit einem Detektiv sprach, dann hätte ich nicht soviel gesagt«, entgegnete sie unwillig. »Der alte Mann verlangte von mir, daß ich nebenan bei Mr. Marshalt Spektakel machen und schreien sollte, daß Marshalt ein Schuft wäre. Dann sollte ich ein Fenster einschlagen und mich verhaften lassen.«

»Einen Grund dafür gab er nicht an?«

»Nein. Die Sache paßte mir nicht, und ich war heilfroh, als ich wieder draußen war. War das ein scheußlicher Kerl! Und das Zimmer ganz dunkel! Ein richtiges Gespensterhaus! Türen, die von selbst aufgehen – Stimmen, die von nirgendwoher kommen – ich dankte meinem Schöpfer, als ich wieder auf der Straße stand.«

»Woher kannten Sie denn den Mann?« fragte Dick mißtrauisch.

»Er hatte meinen Namen in den Inseraten gelesen – bei den Stellengesuchen.«

Da weitere Fragen ergebnislos blieben, wurde sie wieder entlassen, und nun berichtete Lane weiter.

»Der Steuerbeamte beschwerte sich, daß er Mr. Malpas nicht zu sehen bekäme. Man glaubte, daß er zu wenig Einkommensteuer zahlte. Als er aber vorgeladen wurde, kam er nicht selbst, sondern sandte statt dessen einen Erlaubnisschein zur Einsicht in sein Bankkonto. Es war das einfachste Konto von der Welt: fünfzehnhundert Pfund jährlich bar eingezahlt und fünfzehnhundert Pfund im Jahr ausgezahlt. Keine Geschäftsquittungen. Nichts weiter als Abgaben, Grundsteuer und größere Summen für laufende Ausgaben.«

»Und Besuch kommt nie ins Haus?«

»Nur zweimal im Monat, gewöhnlich an einem Sonnabend. Wie es scheint, ist es jedesmal ein anderer Mann. Die Leute kommen immer erst nach Einbruch der Dunkelheit und bleiben nie länger als eine halbe Stunde. Einmal war es ein Neger, und einer meiner Leute machte sich an ihn heran, konnte aber nichts aus ihm herausbringen.«

»Malpas muß schärfer beobachtet werden«, befahl Dick, und der Inspektor machte sich eine Notiz. »Nehmen Sie einen dieser Besucher unter irgendeinem Vorwand fest und durchsuchen Sie ihn. Vielleicht stellt sich dabei heraus, daß Malpas nur Almosen verteilt – oder auch nicht!«

*

Audreys kleiner Geldvorrat schwand dahin, und es war ihr noch nicht gelungen, eine Anstellung zu erhalten. Am ersten Weihnachtstag bestand ihr Frühstück nur aus einer trockenen Brotscheibe und kaltem Wasser.

Am folgenden Dienstag erhielt sie jedoch zu ihrer größten Überraschung einen Brief, der nur aus zwei mit Bleistift geschriebenen Zeilen bestand:

»Kommen Sie heute nachmittag um fünf zu mir. Ich habe Arbeit für Sie. Malpas, Portman Square Nr. 551.«

Sie runzelte die Stirne und starrte auf den Zettel. Wer war Malpas, und wie hatte er von ihr erfahren?

Aber Not kennt kein Gebot, und zur angegebenen Zeit stand Audrey, durchnäßt vom Regen, vor dem Haus und klopfte leise mit den Fingern an, da sie keinen Klopfer fand.

»Wer ist da?«

Die Stimme schien aus dem Türrahmen zu kommen.

»Miß Bedford.«

Nach einer kurzen Pause öffnete sich die Türe langsam.

»Kommen Sie herauf – das Zimmer im ersten Stock«, sagte die Stimme.

Die Haustür schloß sich wieder hinter Audrey. Von unerklärlichem Grauen gepackt, wollte sie entfliehen und suchte nach dem Türgriff, aber sie entdeckte keinen. Schließlich bekämpfte sie ihre Angst und stieg die Stufen hinauf. Im ersten Stock bemerkte sie nur eine Tür und klopfte nach einem kleinen Zögern dort an.

»Herein!« Diesmal kam die Stimme von oben.

Einen Augenblick brauchte Audrey noch, um Mut zu sammeln, dann trat sie durch die nur angelehnte Tür ein.

Die Wände des großen Raums waren so dicht mit schwarzem Samt verkleidet, daß man nicht sehen konnte, wo sich die Fenster befanden, und wo die Decke anfing. Der dicke Teppich verschlang jedes Geräusch ihrer Schritte.

Am entfernten Ende des Zimmers saß an dem Schreibtisch eine merkwürdig widerwärtige Gestalt. Das Licht einer Stehlampe, die von einem grünen Schirm bedeckt war, warf einen fahlen Schein auf sie. Der Kopf war kahl, das bartlose Gesicht von tausend Falten bedeckt, die Nase dick. Und das lange, spitze Kinn bewegte sich fortwährend, als ob der Mann mit sich selbst spräche.

»Setzen Sie sich auf diesen Stuhl«, gebot die dumpfe Stimme.

Audreys Augen hatten sich an das Dunkel gewöhnt, und sie nahm zitternd hinter dem kleinen Tisch Platz.

»Ich habe Sie kommen lassen, um Ihr Glück zu machen«, murmelte die Stimme. »Schon viele haben auf dem Stuhl dort gesessen und sind als reiche Leute fortgegangen. Sehen Sie, was auf dem Tisch liegt?«

Er mußte wohl auf einen Knopf gedrückt haben, denn plötzlich flammte über ihrem Kopf ein strahlend helles Licht auf, und sie sah ein Bündel Banknoten auf dem Tisch.

»Nehmen Sie es!« sagte der Mann.

Sie streckte zitternd die Hand aus und ergriff das Paket und einen Schlüssel. Das Licht erlosch langsam wieder.

»Ihr Name ist Audrey Bedford, nicht wahr? Nach neunmonatlicher Haft, die Sie wegen Mitschuld an einem Juwelenraub verbüßt haben, sind Sie vor drei Wochen aus dem Gefängnis entlassen worden?«

»Ja, ich mache kein Hehl daraus. Ich hätte es Ihnen auf jeden Fall gesagt.«

»Sie waren natürlich unschuldig?«

»Ja.«

»Sie sind schlecht angezogen . . . das verletzt mein Schönheitsgefühl. Kaufen Sie sich gute Kleider, und kommen Sie nächste Woche zur selben Zeit wieder. Der Schlüssel öffnet alle Türen, wenn die Sperrvorrichtung ausgeschaltet ist.«

Endlich erholte sich Audrey von ihrem Staunen.

»Ich muß aber wissen, welche Pflichten ich zu übernehmen habe«, sagte sie. »Es ist sehr großmütig von Ihnen, mir so viel Geld anzuvertrauen, aber Sie werden einsehen, daß ich es unmöglich annehmen kann, ohne zu wissen, was Sie von mir verlangen.«

»Ihre Aufgabe besteht darin, einem Mann das Herz zu brechen!« lautete die Antwort. »Gute Nacht!«

Sie fühlte einen kühlen Luftzug und drehte sich um.

Die Tür stand offen, und Audrey wußte, daß sie entlassen war.

Hastig eilte sie die Treppe hinunter. Als sie den Schlüssel in das winzige Loch stecken wollte, entglitt er ihren zitternden Fingern und fiel zu Boden. Sie suchte danach und fand dicht daneben einen nußgroßen Kieselstein, an dem ein Klümpchen roten Siegellacks mit dem deutlichen Abdruck eines Petschafts klebte. Sie nahm sich vor, den sonderbaren Gegenstand nächste Woche wieder mitzubringen, und steckte ihn in ihre Handtasche. Gleich darauf stand sie wieder auf der Straße.

Ein Mietauto kam vorbei und hielt auf ihren Wink hin am Bordstein an. Schon wollte sie einsteigen, als sie plötzlich eine Frau in durchnäßtem Pelzmantel bemerkte, die sich taumelnd bemühte, den Klopfer des Nachbarhauses in Bewegung zu setzen. Trotz ihres Abscheus vor betrunkenen Frauen erregte diese Jammergestalt doch Audreys Mitleid, und sie wollte auf sie zugehen, um ihr behilflich zu sein. Aber im gleichen Moment wurde die Haustür aufgestoßen.

»Was soll denn das heißen?« rief ein ältlicher Mann. »Wer macht hier einen solchen Spektakel vor dem Haus eines Gentlemans? Gehen Sie weg oder ich hole einen Polizisten!«

Es war Tonger. Die Betrunkene schwankte auf ihn zu und brach zusammen. Er schleuderte sie ins Haus und schlug die Tür zu.

»Das ist Mr. Marshalts Haus«, meinte der Chauffeur. »Er ist der afrikanische Millionär. Wohin soll ich Sie bringen?«


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