Edgar Wallace
Das Gesicht im Dunkel
Edgar Wallace

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13

Audrey Bedford hatte von unbekannter Hand einen Brief erhalten, der folgenden Inhalt hatte:

»Sehr geehrte Miß Bedford,

angesichts des ungeheuerlichen Fehlurteils, dem Sie zum Opfer fielen, würde es mir eine Freude sein, Ihnen behilflich zu sein. Ich bitte Sie, mich deshalb morgen abend um halb acht aufzusuchen. Meine Adresse finden Sie oben. Ich glaube, daß ich Ihnen eine zusagende Beschäftigung verschaffen könnte.

Ihr sehr ergebener

Lacy Marshalt.

P. S. Ich bitte um freundliche Drahtantwort.«

Sie grübelte den ganzen Morgen über diesen Brief nach. Marshalts Name war ihr bekannt, und nachdem sie mit Hilfe eines Nachschlagebuches festgestellt hatte, daß es eine Mrs. Marshalt gab, sandte sie mittags ein zustimmendes Telegramm ab. Sie konnte ja unmöglich wissen, daß die erwähnte Mrs. Marshalt nur eine Finte war, die dem lebenslustigen Millionär seit fünfundzwanzig Jahren gute Dienste leistete. Da er nie von seiner Frau sprach, nahm man allgemein an, daß eine Entfremdung vorläge, und bedauerte ihn.

Bei ihrer Ankunft in Portman Square wurde Audrey von einem korrekt gekleideten Hausmädchen empfangen. Sie sah in ihrem einfachen, schwarzen Abendkleid so entzückend aus, daß Marshalt sie überrascht anstarrte, während sie sich vergeblich nach Mrs. Marshalt umsah.

»Ich hoffe, daß Ihnen ein Diner zu zweien nicht unangenehm ist«, sagte er und hielt ihre kleine Hand nicht länger als üblich in der seinen. »Vor zwanzig Jahren liebte ich große Gesellschaften, aber jetzt hasse ich sie.«

Diese zarte Betonung seines Alters wirkte beruhigend auf sie.

»Es war sehr freundlich von Ihnen, mich einzuladen, Mr. Marshalt, trotzdem Sie meine Vorgeschichte kennen«, erwiderte sie lächelnd.

»Sie waren doch vollkommen unschuldig«, erklärte er mit einem Achselzucken. »Ich hatte sogar den Eindruck, daß Sie sich für andere aufopferten, und bewunderte Sie deshalb. Ich glaube, daß ich Ihnen helfen kann –«

»Eine Anstellung habe ich ja bereits, aber ich bin nicht sehr begeistert davon. Ihr Nachbar, Mr. Malpas, beschäftigt mich mit Schreibarbeiten.«

Es wurde gemeldet, daß angerichtet sei, und sie gingen zu dem elegant ausgestatteten Speisezimmer. Als sie eintraten, blieb Lacy etwas zurück und sprach leise mit dem Mädchen, worüber Audrey sich etwas wunderte.

Plötzlich fiel ihr ein, daß nur diese Wand sie von dem Haus ihres geheimnisvollen Arbeitgebers trennte.

Tapp, tapp, tapp!

Im Malpas'schen Haus klopfte jemand an die Wand.

Tapp, tapp, tapp!

Es klang fast wie eine Warnung . . . aber wie konnte der alte Mann wissen . . .?

Nach dem Kaffee lehnte Audrey dankend eine Zigarette ab, warf einen Blick auf die Kaminuhr und erhob sich.

»Sie werden verzeihen, wenn ich so früh aufbreche, Mr. Marshalt, aber ich habe noch zu tun.«

»Das hat doch Zeit! Miß Bedford, ich möchte Sie vor Mr. Malpas warnen. Ich glaube, hinter seinem Entgegenkommen verbergen sich sehr häßliche Absichten.«

»Mr. Marshalt!« rief sie empört. »Wie können Sie so etwas sagen! Sie haben mir doch selbst erzählt, daß Sie den Herrn gar nicht kennen!«

»Ich habe meine Informationsquellen. Bitte, nehmen Sie doch wieder Platz. Es ist ja kaum neun Uhr!«

Mit innerem Widerstreben folgte sie seiner Aufforderung.

»Ich kenne Sie bereits länger, als Sie ahnen. Sie werden sich wohl kaum daran erinnern, mich in Fontwell gesehen zu haben? Aber ich versichere Ihnen, daß sich mir Ihr Bild seitdem unauslöschlich eingeprägt hat. Audrey, ich habe Sie sehr lieb.«

Sie stand wieder auf, und auch er erhob sich.

»Ich kann Ihnen den Lebensweg sehr angenehm machen, liebes Kind.«

»Ich ziehe aber einen rauheren Weg vor«, entgegnete sie gelassen und ging auf die Tür zu.

»Noch einen Augenblick!« bat er.

»Sie verschwenden nur Ihre Zeit, Mr. Marshalt. Ich verstehe dunkel, was Sie mir vorschlagen wollen, und ich hoffe, daß ich mich täusche. Törichterweise bin ich zu Ihnen gekommen, weil ich Sie für einen Gentleman hielt, der einer – ungerecht Verurteilten helfen wollte.«

Sein Ton änderte sich plötzlich.

»Als ob Ihnen das irgend jemand glauben würde!« rief er brutal und lachte laut. »Seien Sie doch vernünftig, und laufen Sie nicht davon. Dieser Teil des Hauses ist vollständig von dem übrigen Gebäude abgesperrt, und die Tür ist verschlossen.«

Sie eilte hin und rüttelte an dem Griff, aber sie fand seine Worte bestätigt. Im Nu hatte er sie eingeholt, hob sie auf und trug sie zurück. Mit fast übermenschlicher Anstrengung befreite sie sich, ergriff ein spitzes Tranchiermesser, das auf dem Tisch lag und wandte sich ihm zu.

»Wenn Sie mich anrühren, bringe ich Sie um! Öffnen Sie sofort die Tür!«

Er nahm einen Schlüssel aus der Tasche und schloß auf.

»Wollen Sie mir verzeihen?« flüsterte er.

Ohne zu antworten, ging sie an ihm vorüber und ließ das Messer fallen.

»Nach rechts!« rief er leise, und sie bog wirklich in den schmalen Gang ein, obwohl ihr ein Instinkt sagte, daß sie geradeaus gehen müßte. Bevor sie sich der Gefahr bewußt wurde, kam er hinter ihr her. Sie floh den Korridor entlang und mehrere Treppen nach oben, aber dann sah sie, daß es nicht weiterging. Über ihr befand sich nur ein unerreichbares Oberlichtfenster. Leise und behutsam schlich sie wieder nach unten. Plötzlich vernahm sie eine schluchzende Frauenstimme, wußte jedoch nicht, ob die Laute von oben, von unten oder von nebenan, aus Mr. Malpas' Haus, kamen. Sie horchte angestrengt, bis das Schluchzen leiser wurde und verstummte. Von Marshalt war nichts zu sehen, und sie erreichte schließlich den kleinen Vorplatz, hinter dem die Freiheit winkte.

Aber dort ergriffen sie plötzlich wieder zwei starke Arme, und sie wurde ins Eßzimmer zurückgeschleppt.

»So, mein Schatz!« rief Marshalt und schob sie in einen tiefen Lehnsessel. »Nun wirst du wohl Vernunft annehmen. Ich kann dir alles geben, was dein Herz begehrt. Für mich bist du die einzige Frau, die meiner Liebe wert ist . . .«

»Verschwenden Sie keine Worte mehr, Mr. Marshalt«, erwiderte sie und wandte den Blick nicht von ihm. »Ich werde ins Hotel zurückkehren, Captain Shannon anrufen und ihm mitteilen, was sich hier zugetragen hat.«

Er lachte laut auf.

»Ach, du willst mir mit der Polizei drohen, mein liebes Kind? Wie altmodisch! Übrigens ist Shannon ein Weltmann. Er weiß, daß ich mir keine Dame aus Holloway einladen würde, wenn . . . Na, nimm deinen Verstand zusammen, Liebling! Und er weiß auch, daß du die Einladung nicht angenommen hättest, wenn du nicht mit meiner Liebeserklärung gerechnet hättest.«

»Bei manchen Mädchen mag das stimmen, aber ich bin anders.«

»Bei Gott, das bist du! Und deshalb mag ich dich ja so gern!« Er riß sie empor und zog sie in seine Arme.

Sie fühlte sich entsetzlich hilflos und elend und glaubte, daß sie im nächsten Augenblick das Bewußtsein verlieren würde. Aber im selben Moment hörte sie ein leises Rasseln im Schloß. Er hatte es auch vernommen und ließ sie so jäh los, daß sie in die Knie sank. Als er sich hastig umwandte, ging die Tür auf, und eine schwarzgekleidete Frau stand auf der Schwelle. Drohend und düster starrte sie auf das Mädchen.

Es war Dora Elton, und Audrey sah den Haß in den Augen ihrer Schwester. Schaudernd fuhr sie zusammen.

»Ich störe wohl«, sagte Dora und begegnete Lacys zornigem Blick, ohne mit der Wimper zu zucken.

Audrey erhob sich mühsam, ging mit zitternden Knien hinaus, griff nach ihrem Cape und trat in die kalte, reine Nachtluft hinaus.

Marshalt schenkte sich mit unsicherer Hand ein Glas Wein ein und goß es hinunter.

»Wenn du glaubst, daß ich in dieses Schaf Gottes verliebt bin, dann irrst du dich gewaltig«, sagte er. »Komm her, ich will dir etwas gestehen, und das mußt du mir glauben. Es gibt einen Mann, den ich mehr hasse als alle anderen Menschen auf der Welt. Und dieser Mann ist Audrey Bedfords Vater.«

»Sie heißt gar nicht Bedford!«

»Du hast recht. Sie heißt Torrington. Dan Torrington und ich sind alte Feinde. Ich habe eine lange Rechnung und bin noch durchaus nicht damit fertig.«

»Ihr Vater ist ein Sträfling«, erwiderte Dora finster.

»Ja, er sitzt in lebenslänglicher Haft in Kapstadt. Wenn ich eine bessere Büchse gehabt hätte, wäre er ein toter Mann gewesen. Aber er hatte Glück: ich traf ihn nur ins Bein und schoß ihn lahm. Wenn die Detektive ihn nicht in demselben Augenblick gefaßt hätten, wäre es wohl mit mir aus gewesen.«

»Du hast ihn verhaften lassen?« rief sie.

»Ja. Ich leitete den Geheimdienst für die Streams Diamond Corporation und entdeckte, daß Dan Torrington einen kleinen, unerlaubten Diamantenhandel betrieb. Ich stellte ihm eine Falle. Das ist die ganze Geschichte. Nur wurde er noch strenger bestraft, weil er auf mich geschossen hatte.«

Doras Zorn war verflogen.

»Ist das wirklich wahr, Lacy?« fragte sie. »Aber wie kannst du dich denn dadurch an Torrington rächen, daß du eine Liebschaft mit diesem Mädchen unterhältst?«

»Ich wollte sie heiraten.«

»Heiraten!« stieß sie atemlos hervor. »Du sagtest doch, daß du niemals heiraten würdest!«

Er zog sie neben sich auf das Sofa und versuchte sie zu beruhigen.

»Die Sache liegt so. Als Torrington damals Diamanten von den Eingeborenen kaufte, besaß er die Farm Graspan. Nun gibt es tausend Graspans in Südafrika, aber dieses Graspan lag an einem der Flüsse, nach denen Fourteen Streams genannt wurde. Er war kaum zur Zwangsarbeit weggeschickt worden, als auf seiner Farm Diamanten entdeckt wurden. Das habe ich erst kürzlich erfahren, weil die Mine unter dem Namen seiner Rechtsanwälte Hallam E Coold betrieben wurde und noch heute Hallam E Coold Mine heißt. Dan Torrington ist also Millionär, und zwar ein sterbender Millionär. Seit ich wieder in England bin, bekomme ich von einem der Gefängniswärter regelmäßig Berichte über den Mann, und das letztemal schrieb er, es ginge mit ihm zu Ende.«

»Und wenn du Audrey heiratest –«

Er lachte.

»Ganz recht! Dann bin ich ein steinreicher Mann!«

»Aber das bist du doch jetzt schon!«

Sein Gesicht verfinsterte sich.

»Ja, ich bin reich«, sagte er hart, »aber ich will noch reicher werden.«

Es klopfte.

»Wer ist da?« rief er gereizt.

»Ein Herr wünscht Sie zu sprechen. Er sagt, es wäre dringend.«

»Ich kann jetzt niemand empfangen. Wer ist es denn?«

»Captain Shannon.«

Dora sah ihn entsetzt an.

»Er darf mich nicht sehen«, flüsterte sie. »Wo soll ich hin?«

»Durch den Wintergarten und über den Hof!« erwiderte Marshalt ärgerlich.

Er hatte sie kaum in die dunkle Bibliothek geschoben und die Tür hinter ihr geschlossen, als Dick Shannon eintrat. Er war im Frack, und sein Gesichtsausdruck verriet seine Stimmung.

»Ich habe mit Ihnen zu sprechen, Marshalt.«

»Mr. Marshalt«, brummte der Millionär, der nichts Gutes ahnte.

»Sie hatten heute abend eine Dame eingeladen.«

»Vielleicht hat sie sich selbst eingeladen?«

»Sie luden sie ein und beleidigten sie in der gröblichsten Weise.«

»Mein Lieber, Sie sind doch ein Weltmann. Glauben Sie etwa, daß dieses Mädchen zu mir kam, ohne – nun, sagen wir einmal, ohne gewisse Möglichkeiten ins Auge zu fassen?«

Eine Sekunde lang starrte Dick Shannon den Mann drohend an, dann schlug er ihm mit dem Handrücken ins Gesicht, so daß er mit einem Aufschrei zurücktaumelte.

»Das ist eine Lüge, die Sie nicht wiederholen werden«, sagte Dick leise.

»Und Sie nennen sich einen Polizeibeamten – gehört ein solches Benehmen vielleicht auch zu Ihren Amtspflichten?« schrie ihn Marshalt an.

»Ich kenne meine Pflichten sehr gut«, erwiderte Shannon streng. »An der Außenwand von Old Bailey ist eingegraben: ›Schützt die Kinder der Armen und straft die Übeltäter.‹«


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