Edgar Wallace
Das Gesicht im Dunkel
Edgar Wallace

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25

Audrey war den ganzen Tag unterwegs gewesen, um sich Arbeit zu verschaffen. Dick Shannon hatte sie nichts davon gesagt, denn sie hatte ihn so gern, daß sie davor zurückscheute, seine Hilfe in Anspruch zu nehmen. Schließlich hatte sie sich an den Redakteur eines Blattes gewandt, für den sie früher ab und zu Artikel über Hühnerzucht geschrieben hatte, und dieser hatte sie auf ihre Anfrage hin kommen lassen und ihr eine Stellung in der Redaktion seines Fachblattes angeboten. Das Gehalt war nicht hoch, und Audrey verbrachte den letzten Teil des Tages damit, eine billige Wohnung zu suchen. Zu ihrer Freude fand sie in der Nähe der Redaktion ein behagliches Zimmer und teilte dem Portier bei ihrer Rückkehr mit, daß sie ausziehen würde.

Gegen Abend sprach Dick Shannon bei ihr vor, der durch einen seiner Leute von ihrem bevorstehenden Umzug benachrichtigt worden war. Sie war etwas betreten, als er ihr verriet, daß er über ihr Tun und Lassen genau unterrichtet sei.

»Es ist mir aber doch lieb, daß Sie gekommen sind«, meinte sie nach einer Weile. »Ich wollte Ihnen noch etwas zeigen.«

Sie öffnete ihre Handtasche, nahm den kleinen Kieselstein heraus und legte ihn in seine ausgestreckte Hand. Er starrte verwundert darauf, drehte ihn hin und her und prüfte das Siegel.

»Woher haben Sie das Ding nur?« fragte er sie bestürzt.

Sie erzählte ihm, wo sie es gefunden hatte.

»Was ist es denn?«

»Ein Diamant – noch ungeschliffen. Er wird ungefähr achthundert Pfund wert sein.«

»Ist das wirklich wahr?« fragte sie verblüfft.

»Ja, ganz gewiß. Das Siegel ist von der Minengesellschaft. Darf ich ihn behalten?«

»Ja, natürlich.«

»Weiß jemand etwas davon?«

»Nein«, erwiderte sie etwas zögernd. »Höchstens Mr. Malpas. Als ich mir neulich meinen Zimmerschlüssel ausbat, und er nicht da war, nahm ich alles, was ich in meiner Tasche hatte, heraus und legte es auf den Tisch, bis ich den Schlüssel in dem zerrissenen Futter fand.«

»Dabei wird er ihn gesehen haben – er oder einer seiner Agenten!« rief Dick erregt. »Und deshalb versuchte er wahrscheinlich gestern, Sie zu fassen.«

Audrey seufzte, als sie in ihr Zimmer zurückkehrte. Es fehlte nicht viel daran, daß sie sich nach ihrem Hühnerhof in Fontwell zurücksehnte. Aber es war immerhin ein Trost, daß sie neue und nicht unangenehme Arbeit gefunden hatte, und so schlief sie denn bald ein und erwachte erst nach langen Stunden, als etwas Kaltes, Klebriges ihr Gesicht berührte.

»Audrey Bedford, ich komme, um dich zu holen«, sagte eine dumpfe Stimme.

Mit einem Schrei fuhr sie empor. Es war ganz dunkel – nur . . .

Kaum eine Elle von ihrem Kopf entfernt schwebte scheinbar in der Luft ein matt und sonderbar beleuchtetes Gesicht . . .

Wie versteinert starrte sie in die schmerzverzerrten Züge Lacy Marshalts . . .

*

»Die junge Dame hat einen schweren Nervenzusammenbruch erlitten. Ich habe nach einem Arzt und einer Pflegerin telephoniert.«

»Wissen Sie, was ihr zugestoßen ist?« fragte Dick. Er stand im Schlafanzug neben seinem Bett und hielt den Hörer in der Hand.

»Nein, Captain. Der Nachtportier im ersten Stock hörte einen gellenden Schrei, und als er hinaufrannte, stand Miß Bedfords Tür auf. Er sah, daß sie ohnmächtig war, und ließ mich holen. Ich war unten in der Halle.«

»Keine Spur von Malpas?«

»Nicht die geringste. Jemand muß wohl versucht haben, sie zu überfallen, denn der Herr, der nebenan wohnt, wurde besinnungslos am anderen Ende des Ganges aufgefunden. Wahrscheinlich hat er mit einem Gummiknüppel einen Hieb über den Kopf erhalten. Er ist ins Krankenhaus gegangen, um sich verbinden zu lassen.«

Kurze Zeit später traf Dick im Hotel ein. Audrey hatte sich inzwischen ein wenig erholt. Sie saß in einem Morgenrock an dem Gasofen – sehr bleich, aber wie gewöhnlich ruhig und gefaßt.

»Ich kann weiter nichts erzählen, als daß ich Mr. Marshalt sah.«

»Sie auch!« Dick biß sich auf die Lippen. »Wir hatten gestern abend dieselbe Vision. Das bedeutet also, daß Marshalt noch lebt und in der Gewalt dieses Teufels ist. Gestern abend fanden wir eine Spritze in seinem Haus. Die Flüssigkeit wurde analysiert – es ist ein Gemisch von Hyoscin, Morphium und einem anderen noch nicht festgestellten Betäubungsmittel, mit dem man einen Menschen in vollkommene Bewußtlosigkeit versetzen kann. Heute erhielt ich auch einen Brief von Malpas.« Er nahm ein mit Maschine geschriebenes Blatt aus seiner Tasche. »Dies ist nur eine Abschrift. Das Original wird auf Fingerabdrücke geprüft.«

Audrey griff danach und las:

»Wenn Sie kein Dummkopf sind, müssen Sie gestern etwas entdeckt haben. Marshalt ist nicht tot, denn er trug eine kugelfeste Weste, wie Sie bemerkt haben würden, wenn Sie ihn untersucht hätten, statt sich nur um das Mädchen zu kümmern. Ich bin froh, daß er lebt – der Tod wäre zu gut für ihn gewesen. Er wird sterben, wenn ich die Zeit dazu für gekommen halte. Sollten Sie wünschen, daß er am Leben bleibt, so ziehen Sie Ihre Posten und Spione aus dem Haus zurück.«

»Alle Beobachtungen stimmen mit dieser Angabe überein«, sagte Dick. »Marshalt wird in andauernder Betäubung gehalten und überall hingeschleppt, wohin es Malpas beliebt.«

»Mir kam es aber nicht wie ein wirkliches Gesicht vor«, erwiderte Audrey mit einem leisen Schauder.

»Sie glauben, daß es eine Maske war? Ich weiß nicht recht. Jedenfalls ist es eine sehr merkwürdige Geschichte!«

Als Shannon das Hotel verließ, erkundigte er sich nach dem Herrn von Nr. 270, aber man wußte im Büro weiter nichts von ihm, als daß er sich als »Henry Johnson aus Südafrika« eingeschrieben hatte und noch nicht aus dem Krankenhaus zurückgekehrt war.

Am nächsten Morgen fiel ihm Stormers Bemerkung über den von den Anwälten eingesetzten Hausverwalter ein, und er machte sich sofort auf den Weg zu dem Marshaltschen Haus. Ein Mädchen, das er bereits kannte, öffnete ihm und führte ihn ins Wohnzimmer.

»Hier sind wohl große Veränderungen vorgegangen?« fragte Dick. »Wie ich höre, haben Sie jetzt einen Hausverwalter bekommen?«

»So kann man ihn wohl nicht nennen«, erwiderte sie zögernd. »Der Herr war ein Freund von Mr. Marshalt und heißt Stanford.«

»Was?! Doch nicht Bill Stanford?« rief Dick überrascht.

»Doch, Mr. William Stanford. Er ist oben im Arbeitszimmer.«

»Nun, dann werde ich einmal zu ihm hinaufgehen«, entgegnete Dick lachend. »Mr. Stanford und ich sind alte Bekannte.«

Bill saß mit einer riesigen Zigarre im Mund am Kamin und las in einer Sportzeitung.

»Guten Morgen«, sagte er gleichmütig. »Ich habe Sie schon erwartet, Captain. Sie glauben gar nicht, wie erstaunt ich war, als die Anwälte nach mir schickten!«

»Sie kannten ihn wohl von Südafrika her?«

»Ja. Aber hier bewegten wir uns doch in ganz verschiedenen Gesellschaftskreisen. Marshalt hat die Bestimmung aber selbst hinterlassen. ›Falls ich aus irgendeinem Grund verschwinden sollte‹, und so weiter, steht in dem Papier. Die Sache ist ja auch ganz einträglich, aber nicht sehr behaglich. Nachmittags darf ich ein paar Stunden ausgehen, aber nachts wird es hier derart ungemütlich, daß mir die Geschichte auf die Nerven geht. Und gestern abend war ja nebenan ein fürchterlicher Spektakel.«

Dick setzte sich.

»Ja, es ging allerlei drüben vor«, erwiderte er. »Hat sich die Tätigkeit der Gespenster auch bis hierher erstreckt?«

Stanford fröstelte leicht.

»Bitte, sprechen Sie nicht von Gespenstern, Captain! Ich sage Ihnen, gestern abend glaubte ich wahrhaftig, ich sähe – aber das ist zu albern!«

»Marshalt?«

»Nein, den anderen – Malpas.«

»Wo denn?«

»In der Tür der Vorratskammer. Nur eine Sekunde lang.«

»Und was taten Sie da?«

Bill lachte verlegen.

»Ich lief nach oben und schloß mich ein.«

Shannon stand auf.

»Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich mir die Vorratskammer einmal ansehen.«

»Aber gern!« Stanford öffnete ein Schubfach und nahm einen großen Schlüsselbund heraus. »Der alte Tonger verwahrte die Gewehre und Patronen seines Herrn und sonst allerlei Gerümpel dort.«

Der Raum lag am Ende des von der Halle abzweigenden Ganges und hatte ein stark vergittertes, kleines Fenster und einen verdeckten Herd. Außer Waffen, Sätteln, alten Kisten, einer Bank mit einem Gaskocher, einem verrosteten Schraubstock, einigen Werkzeugen und Putzlappen war nichts zu sehen als –

»Was ist in diesen Kisten?«

»Ich weiß es nicht – habe noch nicht nachgesehen«, sagte Stanford.

Shannon zog einen Schiebedeckel auf.

»Revolvermunition«, murmelte er, »und ein Paket ist kürzlich erst herausgenommen worden, denn das darunterliegende ist frei von Staub. Stanford, warum glauben Sie, daß es Malpas gewesen sein könnte?«

»Ich weiß es nicht – nach den Beschreibungen nehme ich das an. Gesehen habe ich ihn ja nie.«

Dick ging noch einmal mit ihm nach oben und untersuchte die Tür, die zu Marshalts Privaträumen führte.

»Sie funktioniert doch noch?« fragte er.

»Ich weiß es nicht«, entgegnete Stanford mürrisch.

»Was machen denn Eltons?« erkundigte sich Dick, als er hinunterging, um das Haus zu verlassen.

»Keine Ahnung. Dicke Freunde sind wir nie gewesen.«

Stanford schloß die Haustür hinter ihm, kehrte dann ins Arbeitszimmer zurück, verschloß die Eingangstür und öffnete eine andere, die nach dem kleinen Eßzimmer führte.

»Du hast gute Ohren, Martin«, sagte er.

Elton ging aufs Fenster zu und folgte Shannon mit den Augen, bis er nicht mehr zu sehen war.

»Immer wieder kommt der mir in den Weg!« erwiderte er ohne Erregung. »Ja, ich erkannte seine Stimme sofort, als ich euch sprechen hörte. Wie lange bleibst du noch hier? Ich habe etwas vor –«

»Tut mir leid, Martin, aber ich muß jetzt hier ehrliches Spiel treiben. Ich war ein Freund Lacys.«

»Und Malpas – kennst du den auch?«

Stanfords Augen wurden klein.

»Ja, ich kenne ihn«, flüsterte er, »und wenn es zu mausen gibt, dann weiß ich, wo ich mausen werde!«


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