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»Melanie!« hub die Gräfin an, »es ist jetzt nur noch übrig, daß du uns auch noch ein Erlebnis aus deiner Vergangenheit berichtest, mein Engel. Ich hoffe, daß du unsere Erwartungen nicht täuschest.«
Die junge Dame errötete und sagte nach einer Pause: »Wird es erlaubt sein, daß ich eines Vorfalls aus meinen Kinderjahren erwähne?«
»Gewiß ist's erlaubt«, entgegnete der Graf. »Sie werden uns erzählen, wie Sie mit Ihrer Puppe in Streit gerieten, wie Sie sich wieder aussöhnten und einen ewigen Bund mit ihr schlossen. Nicht wahr?«
»Nicht ganz so. Aber ich gestehe, daß meine Erlebnisse etwas kindischer Natur sind. Es handelt sich um nichts Geringeres als um eine Reise, die ich einmal mit einer wundervollen Puppe aus Holz machte. Es war der General Nußknacker.«
»Ah, der General Nußknacker!« rief die dicke Dame. »Das wird also ein Kindermärchen.«
»Man lasse sie erzählen«, sagte die Gräfin.
»Ich bin in einer Pensionsanstalt ausgewachsen«, hub Melanie an, »die man für die beste in der ganzen Stadt hielt. Sie war, was die wundersame Einrichtung ihrer Ferien betraf, die zwei Drittel des Jahres hinwegnahmen, und den ungeheuern Umfang unserer Pensionshalterin gewiß einzig in ihrer Art. Madame Zephyrine Niedlich hatte einmal, so sagten die alten Urkunden unserer Anstalt, ihren Namen mit Recht geführt, allein diese Jahre des Frühlings waren sogar bis auf die Möglichkeit, sich an sie zu erinnern, vorüber. Jetzt war der Name ein boshaftes Epigramm auf seine Trägerin geworden. Sie ließ uns öfters die Unbill der Jahre entgelten, und wir hatten nur dann auch auf gutes Pensionswetter zu rechnen, wenn Monsieur Adolf die Anstalt besuchte. Dieser Monsieur Adolf, den wir den Moustache invisible nannten, weil er nur einige mit großer Mühe und vermittelst einer zähen Pomade zusammengehaltene schwarzgefärbte Härchen auf der eingesunkenen Oberlippe vorwies, war ein alter ›junger Mann‹, der durch seine Koketterien, Manieren und Stellungen uns belustigte und Madame Niedlich Herzklopfen erregte. Sein Erscheinen machte Epoche. Die Cousine ging mit dem Cousin spazieren, und während der Abwesenheit der Katze sprangen die Mäuse über Tisch und Bänke. Leider wurde jedoch im Winter das Wetter so schlecht und die Wege so glatt, daß Madame Niedlich ihre Spaziergänge einstellte und ihren Courmacher in ihrem Kabinett empfing, wo wir nicht mehr so sicher vor Überraschungen waren. Der Moustache invisible, um seiner Dame zu gefallen, machte den Spion, und wir hatten nun zwei Wächter statt eines. Was mich betraf, so tröstete ich mich mit der Weihnachtszeit, eine glanzvolle, herrliche Zeit für eine kleine, von ihren Vorgesetzten tyrannisierte Pensionärin. Ich kam zu den Ferien zu meiner Tante, und diese Tante – oh, wie liebte ich sie! Es ist auch unmöglich, liebenswerter zu sein. Sie war ebenso vortrefflich, was den Geist betrifft, als untadelhaft in den Eigenschaften des Herzens. Eine Atmosphäre geistiger und gemütlicher Gesundheit umgab sie, die jedem, der sich ihr näherte, das Atmen in dieser himmlischen Luft leicht machte.
Als ich noch Kind war, veranstaltete meine Tante ein Fest ganz eigentümlicher Art. Sie ließ an einem Winterabende – es war gerade ein Abend, an dem recht zahlreich die weißen Flocken vom Himmel fielen – eine Gesellschaft bei sich eintreten, die sie mit einiger Mühe und durch einen beschwerlichen Briefwechsel zusammengebracht hatte, da einige dieser Herren und Damen an Orten wohnten, wohin keine Post so leicht die Wege fand. Es waren nämlich alle Märchenfiguren, die nur irgend der Phantasie eines Kindes bekanntgeworden, eingeladen. Welch ein phantastisches Fest! Wie ganz gemacht, ein Kinderherz zu entzücken, es vor Schauer und Freude beben zu machen. Und das alles an einem Winterabend, der so dunkel war, wo die weißen Flocken so feierlich vom nächtlichen Himmel fielen, und der Wanderer auf der Landstraße sich beeilte, die Herberge zu erreichen, deren Fenster durch die Nebel ihm winkten. Unser großes Zimmer war mit Kerzen erhellt, und noch weiß ich, wie ich die Augen aufsperrte und aus dem Winkel am Sofa, wohin ich mich verkrochen hatte, hervorstarrte, als die Flügeltüren sich öffneten und etwas so Wundersames und Geheimnisvolles hereinrauschte und von der Tante, die ein langes schleppendes seidnes Kleid angezogen hatte, feierlich begrüßt wurde. Es war Frau Holle, die merkwürdige Frau Holle, von der es heißt, daß sie von Zeit zu Zeit ihr Bettpfühl umwende und durchklopfe, wobei die Federn herumflögen meilenweit in der Luft, und dies dann von uns ›es schneit‹ genannt würde. Wie interessant war es mir, die Bekanntschaft dieser Frau zu machen. Sie war klein, war in einen bauschigen Rock von silbergrauem Atlas gekleidet und hatte ein kleines, weißes Flortüchelchen um den Kopf gebunden. In ihren grauen Haarlocken hafteten Schneeflocken. Als ich dies sah, stürzte ich aus meinem Versteck hervor und rief: ›Ah, Frau Holle! Frau Holle! Sie haben eben Ihr Bette ausgeklopft! Man sieht's!‹ – Sie nahm mich in ihre Arme, hob mich in die Höh und küßte mich. Als dies geschah, trat der General Nußknacker ein, der die Fee FanferlüschDie Fee Fanferlüsch entstammt Clemens Brentanos »Märchen von dem Fanferlieschen Schönefüßchen«, damals gerade herausgegeben von Guido Görres. Brentano macht darin satirische Bemerkungen gegen die Französische Revolution. Deshalb läßt Sternberg die Fee »ewig französisch parlieren«. am Arme führte, eine alte Person, ganz in Goldbrokat gekleidet, mit Blumen geschmückt und ewig Französisch parlierend. Dann kam das allerliebste Rotkäppchen, ein herziges Geschöpf, mit dem ich sogleich Freundschaft schloß. Es erzählte mir die ewigdenkwürdige Geschichte von der Großmutter und dem Wolf so genau, so genau, daß kein Titelchen mehr daran fehlte. Ich wußte nun alles, und mehr noch, als die Welt erfahren hat. Dann der Däumling, dann der Blaubart, dann die Prinzessin mit dem Schweinerüssel, dann der Mann mit dem Schlapphut, dann der Zauberer Merlin, und dann, und dann – oh, wer zählt alle die Namen und Personen, jeder eine Welt von Erinnerungen und Freuden in den Kinderherzen erregend, die hier zusammenkamen! – alle aus der finstern Nacht und dem Flockengewimmel in unsere helle Stube eintretend.
Wie das zusammenrauschte, klappte, plapperte, piepte und hoppte, schniegte und schnappte, kippte und kappte! Unverständliche Laute, unverständliche Mienen – und alles das, wenn man näher hinsah, doch von undenklichen Zeiten her wohlbekannt und wohlverständlich. Wundersam! wundersam! Mit nichts zu vergleichen, mit keinem Dinge zusammenzustellen! Dabei erklang eine Musik im Nebenzimmer, die wie ein Vogelgezwitscher im dichten Walde kleine wirbelnde Töne, wie zusammengerollte Baumblätter, vor sich hertrieb. Aus dieser Musik entwickelte sich nach und nach eine Polonaise, und General Nußknacker reichte meiner Tante die Hand, und nun ging's feierlich im Saale herum, der ganze Zug folgte, ich mit dem Däumling beschloß die Reihe. Nie, nie werde ich diesen überirdischen Abend vergessen.
Als ich endlich zu Bette gebracht wurde, erschien mir im Traum – oder nein, es war kein Traum – oder war es doch ein Traum? – der General Nußknacker und rief mir zu: ›Steh auf, mein Kind, steh auf: wir wollen miteinander eine Reise machen.‹ ›Eine Reise?‹ rief ich. ›Ja, eine Reise!‹ entgegnete er, ›eine Reise! Wir wollen wie dein Oheim flüchtige Bemerkungen eines flüchtig Reisenden anstellen. Komm, mein Kind, komm!‹
Ich warf mein Tuch über, setzte meinen großen neuen Strohhut auf – ich dachte gar nicht daran, daß es Winter war – und husch, husch ging es durch die Luft mit dem General Nußknacker.
Wir zogen über die Erde hin – fort, fort – der Himmel weiß, wohin. Mir war gar nicht bange. Wenn ich auch hier und da etwas zittern wollte, gleich blickte ich in die großen blauen Augen meines Begleiters, und mir wurde wieder wohl.
Zuerst kamen wir auf der Handschuh-Insel an. Diese Insel ist ganz von Handschuhen bewohnt. Weiße, gelbe, lilafarbige, hellgrüne, braune, schwarze, feine, groblederne, Pelzhandschuh – kurz, nichts als Handschuh. Aber nicht neue Handschuh, sondern solche, die schon einmal einen Herrn oder eine Herrin gehabt hatten, also eine Lebensgeschichte aufweisen konnten. Auf meiner flüchtigen Durchreise konnte ich nur flüchtige Bemerkungen machen, und ich will deshalb mich begnügen, einen alten Pelzhandschuh, der mir seine Schicksale erzählte, statt meiner redend einzuführen.«
Der Pelzhandschuh erzählte:
»Ich bin an den Ufern der Newa geboren. Meine Konstitution ist derb, aber trotz meines starken Leders wahre ich im Innern ein gefühlvolles, allem Edeln und Schönen zugängliches Herz. Schon frühe ward ich verwaist; denn mein Herr verlor seinen linken Arm in einem ruhmwürdigen Kampf, und somit hatte er nur einen Gott, einen Kaiser und einen Pelzhandschuh. Ich warf mich frühzeitig in die rauschenden Vergnügungen der Hauptstadt. Mein Leder litt, mein Pelzhaar ergraute vor der Zeit; ich wurde ein junger Greis. Frühzeitig blasiert, hatte ich noch nichts gefunden, was mein Herz ansprach. Ich hatte den Durst nach Taten – ewiger Himmel! es gab keine. Die Jugend der Handschuhe unserer Tage geht in parfümierten Ballsälen, in Untätigkeit und ekler Muße jämmerlich zugrunde. Das stärkste und beste Leder verträgt diese welke Ruhe, diesen ewigen Frieden nicht. Wie ganz anders hatten es unsere Voreltern! Mein Urgroßvater war ein Eisenhandschuh. Sein ganzes Leben war ein ewiger Kampf, er verlor Nägel und Schienen, allein er wich nicht im Dienste der Ehre; er vermählte sich mit einer Freiin von Hirschleder, ebenfalls einer derben Natur, und ihre Ehe war gesegnet an Handschuhen, wie sie nie ihresgleichen hatten. Es waren PelzhandschuheDer Pelzhandschuh ist der russische Dichter Puschkin (1799 bis 1837), der Dichter des »Gefangenen im Kaukasus« – daher auf S. 154 die »Gebirgsschluchten des Kaukasus« – und des »Eugen Onegin«. Nur wurde Puschkin nicht in Petersburg, sondern in Moskau geboren. Der Franzose, mit dem er das Duell ausfocht, war sein Schwager, Charles d'Anthès. Puschkin wurde schwer verletzt und starb zwei Tage später. Sternberg ändert das ab, damit der Pelzhandschuh die Sache erzählen kann. darunter – den Hut vom Kopfe, meine Herren! wenn ich von diesen Ehrenmännern spreche. So waren meine Voreltern – was bin ich! – Der Arzt verordnete mir die Heilquellen von Baden-Baden. Ich reiste hin. Überall, wo ich durchfuhr, liefen die Leute zusammen und riefen: ›Seht! da fährt der vornehme, der reiche, der schöne Russe!‹ Mich kümmerte es nicht; ich war blasiert. Wozu lebt man, wenn man nur lebt für die Bewunderung des Pöbels? Und Pöbel ist heutzutage alles. Der Pöbel trägt Kronen, der Pöbel trägt Orden, der Pöbel schreibt Bücher, der Pöbel regiert die Staaten, der Pöbel verteilt und ordnet die Religionen.
Eines Abends lag ich im Schatten einer breitblättrigen Kastanie; ich träumte – da – o Millmill, göttliche Millmill, vergib, wenn ich hier deinen Namen laut vor der kalten Welt ausspreche! – da ging ein reizendes Schwesterpaar an meinen Blicken vorüber. Es waren ein Paar hellgelbe Handschuhe von dem zartesten Leder, zwei Schwestern, die eine Hillhill mit Namen, die andere Millmill. Ich liebte Millmill; denn sie sehen und sie lieben mußte bei jedem gefühlempfänglichen Handschuh ein und dasselbe sein. Ha, wie lieblich gingen die Schwestern dahin! wie lieblich! Sie hielten sich umschlungen wie zwei Göttinnen. ›Zarte Hellgelbe!‹ rief ich – ›wohin? Darf ich euer Begleiter sein?‹ Sie wiesen schüchtern und voll holder Scham mein Anerbieten zurück. Ich fühlte das heftigste Herzklopfen. Schon fürchtete ich, sie nie wiederzusehen, da, bei der nächsten Handschuh-Soiree, führte mich mein Glück wieder mit ihnen zusammen. Die Schwestern kamen, begleitet von zwei ehrwürdigen Matronen, zwei kaffeebraunen Handschuhen von dänischem Leder. In dieser Soiree fiel manches Ungeziemende vor. Sämtliche Damenhandschuhe machten sich lächerlich durch einen ridikülen Enthusiasmus, den sie an den Tag legten, und dessen Gegenstand der Handschuh eines berühmten Klavier-Virtuosen war, der sich gerade am Badeorte eingefunden hatte. Nie sah ich einen Virtuosen-Handschuh, dem soviel Weihrauch gestreut wurde, und der diesen Weihrauch mit einer so impertinenten Gleichgültigkeit aufnahm. Es gab weibliche Handschuhe, die sich so tief herabwürdigten, diesem Handschuh die geleerte Teetasse abzunehmen, um den darin befindlichen Rest selbst auszutrinken. Hillhill und Millmill taten nicht dergleichen: sie blieben immer würdevoll und weiblich: ich beobachtete sie scharf. Ein Aventurier, ein widerlicher, zerlumpter seidner Handschuh, hatte die Frechheit, sich an sie zu drängen. Ich forderte diesen Lump. Eine allgemeine Aufregung entstand unter allen Handschuhen am Badeorte. Ich lächelte; nur Millmills Tränen hatten für mich einigen Wert. Wir schossen uns: der Franzose fiel. Ich verließ den Badeort, nachdem ich Millmill geschrieben, daß ich, des Lebens überdrüssig, mich in die Gebirgsschluchten des Kaukasus vergraben wolle. Das war zu viel für ein weibliches Herz, für einen Handschuh von so zartem Leder, wie Millmill es war. Sie starb, und mit ihr starb ihre Zwillingsschwester; ich hatte zwei edle Wesen gemordet. Elender, der ich war, und der ich bin! Ein alter Eremit-Handschuh, ein abgestorbener Lüstling, der jetzt Reue fühlte und, weil die Welt ihn verlassen hatte, den Weltmüden spielte, brachte mich hierher auf die Handschuh-Insel, wo ich als ein warnendes Beispiel der aufwachsenden Handschuh-Jugend lebe und wirke.«
Diesen Bericht des Pelzhandschuhs hatte ich mit einigem Vergnügen angehört, allein ich verbat mir die Ehre, die er mir erzeigen wollte, indem er mir seinen Freund SemilassoÜber Semilasso vgl. Anm. zu S. 114. vorzustellen den Wunsch äußerte. Ich reiste mit dem General Nußknacker eiligst weiter. Wir kamen auf dem Monde an. Wir waren sehr schnell geflogen und traten deshalb in eine Schenke ein, ich glaube, sie hieß »Zur silbernen Erde«, und ließen uns einige Erfrischungen reichen. Diese waren erbärmlich, und es war ein Glück für meinen Gefährten, daß er noch einige Nüsse in seiner linken Rocktasche fand, die er aufknackte, und die wir gemeinschaftlich verspeisten. Nach diesem frugalen Mittagsmahle sahen wir uns nach der Gesellschaft um, die mit uns in demselben Raume sich befand, und entdeckten Furcht und Abscheu erregende Gestalten, die in einer Ecke saßen und ungewöhnlich dicke und lange Zigarren schmauchten.
Alles an diesen ekelhaften Rauchern flößte Widerwillen ein, ihre alten, faltigen und haarlosen Köpfe, ihre vorquellenden Augen, ihre Entblößtheit. Einige dieser Ungeheuer zeigten vollständige Tierköpfe.
»Wer sind diese Abscheulichen?« fragte ich meinen Begleiter.
»Es sind die Elegants im Monde, die Lions«, entgegnete er. »Es sind die Hübschesten ihres Geschlechts, die den Luxus treiben dürfen, diese besondere Gattung Rauchstengel zu konsumieren. Du wirst bemerken, Kleine«, setzte der General mit einer besonders freundlichen Miene hinzu, »daß dies keine gewöhnlichen Zigarren sind; es sind vielmehr Frauen, jung und alt, die in Zigarren verwandelt worden sind zur Strafe ihrer Torheiten, die sie auf unserer Erde verübt.«
»Entsetzlich!« rief ich. »Und welches sind jene Torheiten?«
»Sie haben selbst auf Erden geraucht«, entgegnete mein Begleiter sehr ernsthaft, »deshalb werden sie jetzt wieder geraucht. Es sind mit einem Worte die unweiblichen emanzipierten Weiber, die sich jede Ungeschicklichkeit und Roheit erlaubt haben, unter dem Vorwande, genial und unabhängig zu erscheinen.
Wenn du das Bündel Zigarren, das dort auf dem Tische liegt, näher untersuchen willst, so kannst du manche Berühmte dieses Geschlechts darunter entdecken, die ihrem Schicksal entgegengeht, wahrlich nicht mit freiem Willen, sondern gezwungen. Es mag auch in der Tat nicht angenehm sein, von Lippen umschlossen zu werden, die saugend an uns hangen, wie jener glatzköpfige alte Knabe sie hat, der eben eine deutsche Schriftstellerin gemütlich in den Mund geschoben hat, um an ihr zu schmauchen. Wenn unsere Emanzipierten dort unten das wüßten – oh – oh! –«
Hierbei riß der General seine Augen weit auf und seufzte tief.
»Laß uns weitergehen!« rief ich. »Der Dampf dieser unglückseligen Zigarren betäubt mich, jetzt, da ich weiß, aus welchem Stoffe sie bestehen.«
»Du hast recht, mein Kind«, sagte der General, »laß uns unsre Wanderung weiter fortsetzen. Auch ich liebe den Tabaksqualm nicht.«
»Die armen Emanzipierten!« seufzte ich. »Wahrlich, wahrlich, ich will mich hüten, eine zu werden.« Es fehlte wenig, ich hätte Tränen vergossen.
Unsere Reise ging weiter. Wir kamen in ein Tal, in welchem eine große Anzahl seltsamer Stauden und stacheliger Gewächse sich verbreitet hatte. An den Zweigen derselben hingen teils sehr komisch, teils sehr klagenswert aufgehängt eine Menge junger und alter Männer und Frauen, auch Kinder fehlten nicht. Sie alle zappelten und konnten nicht von der Stelle, weil ein boshafter Dorn sie entweder am Kragen gefaßt, oder ein Zweig sich um ihren Arm geschlungen hatte. Einige hingen in der Luft und machten vergebliche Anstrengungen, den Boden zu erreichen oder einen benachbarten Zweig zu erfassen, um sich an diesem herabzulassen. Wieder andere schienen sich in ihr Schicksal ergeben zu haben und saßen trübselig, aber gefaßt unter den überhängenden Dornenzweigen.
»Was bedeutet das?« rief ich.
»Hast du nie von dem Pfefferlande gehört?« fragte mein Begleiter.
»Daß ich nicht wüßte«, entgegnete ich. »Was hat es mit diesem Lande für eine Bewandtnis?«
»Kleine Heuchlerin!« rief der General. »Sieh hier deine Lieblingspuppe! Dort hängt sie an dem Zweige.« Ich blickte hin, und in der Tat, Afanasia hing da – wehmütig die Ärmchen und Beinchen ausgestreckt, das Haar zerzaust, die Kleider wie vom Regen durchnäßt. Ich war den Tränen nahe. »Afanasia!« rief ich, – »was hat dich hierher geführt?« »Du selbst«, entgegnete mir Afanasia, indem sie ihr graziöses Puppenmäulchen zornwütig so weit aufriß, als es ihr nur irgendmöglich war – »du selbst, grausame, unnatürliche Puppenmutter! Hast du nicht vor wenig Tagen mir zugerufen, als ich – nein, eigentlich du, einen Schokoladenfleck auf mein neues rosenrotes Polkaröckchen machtest – ›so wollte ich, daß du wärest, wo der Pfeffer wächst!‹«
»Ah«, rief ich, – »und jetzt bist du, wo der Pfeffer wächst! Das ist also das Pfefferland.«
»So ist's«, sagte der General gravitätisch. »Hier hängen und sitzen alle die liebenswürdigen Geschöpfe, die von ihren Angehörigen, aus irgendeinem Grunde, manchesmal auch ohne allen Grund, in das Land gewünscht worden, ›wo der Pfeffer wächst‹. Dieser Pfeffer, den du hier siehst, ist ein diabolischer Pfeffer, unter den Pflanzen die Gendarmpflanze, der Büttelbaum, die Exekutionsblume. Man braucht nur zu wünschen, so fliegt der unglückliche Gegenstand, den wir hierher verbannt wissen wollen, diesen Polizeidornen in die Arme und hängt solange hier, bis sich unsere Wut kühlt und wir andern Sinnes werden. Einige unglückliche Individuen bleiben ewig hier hängen, weil fortwährend von ihren lieben Angehörigen der Wunsch wiederholt wird, daß sie hier bis ans Ende der Tage zappeln möchten. So kenne ich gewisse schuldenmachende Neffen, die von ihren Oheimen und Vormündern auf beständige zärtliche Wünsche nie von hier freikommen, hypochondrische, geizige Väter, denen die Kinder dieses Plätzchen bereiten, alternde Mütter, die ihre jungen, blühenden Töchter hierher wünschen, weil sie ihnen hinderlich sind, selbst noch Eroberungen zu machen, kokette Weiber, die von ihren geplagten Ehemännern in dieses liebliche Tal gesendet werden, Schriftsteller von ihren minderbegabten Nebenbuhlern, reiche Ärzte von ihren ärmeren Kollegen, aber am oftesten wünschen die Frommen einander hierher, und ein gewisser Teil dieses anmutigen Parkes hängt, wie ein Birnbaum voll Birnen, so voll Betbrüder und Betschwestern.«
»Das ist sehr wunderbar!« rief ich.
»Es gibt vieles zwischen Erd' und Himmel, wovon sich unsere Philosophie nichts träumen läßt«, entgegnete mein Gefährte salbungsvoll. »Doch wollen wir nun unsere Reise fortsetzen.« –
Die Erzählerin wurde hier unterbrochen, indem der Graf lebhaft fragte: »Halt, meine Schöne, haben Sie keine Familienporträts an den Bäumen hängen sehen? Gestehen Sie offen, ist Ihnen nicht das Bild eines Mannes vorgekommen – hm, hm eines Mannes – der mit einem Manne, der mir glich – einige entfernte Ähnlichkeit hatte?«
Iduna lachte und rief: »Ganz recht, dich hab ich ins Pfefferland gewünscht, und dies nicht einmal, sondern oft.«
»Oh, du nicht allein, mein Schatz«, entgegnete der Graf, »du tatest es mit großem Unrecht, allein als ich einst den jungen Damen unseres Kreises den Hof machte, jede ungewiß lassend, welche ich wählen würde, und als ich nun dich wählte, bin ich wenigstens von zwanzig Frauen zugleich in das verwünschte Tal gesendet worden.«
»Dies ist ein Geständnis«, rief Iduna, »an dem die Eitelkeit mehr als die Wahrheit teilhat.«
»Sie haben beide gleichen Teil daran«, entgegnete der Graf. »Aber nun, meine Dame, fahren Sie fort!«
»Als wir uns genug an dem komischen Unglück der Verwünschten belustigt hatten«, fuhr die Erzählerin in ihrem Reisebericht fort, »setzten wir unsern Wanderstab weiter.«
»Wir wollen nicht immer auf dem Monde bleiben«, sagte mein Gefährte – »da ist ja auch der Uranus, oder der Jupiter, oder der Mars.« – Wir besuchten den Mars. Hier gelangten wir in eine Ebene, in der mehrere schöne Tempel und Gebäude sich erhoben.
Wir traten in einen der ersteren. Er war angefüllt mit Statuen, aber sie schienen nicht eben von der besten Art. Einige dieser Götterbilder waren in verzerrten oder gar unmöglichen Stellungen angebracht, andere zeigten ein so dummes und nichtssagendes Wesen, daß man nicht wußte, sollte man über sie lachen oder sich über sie ärgern.
Auch Gemälde standen an den Wänden des Saales aufgestellt, sie waren gleichfalls schlecht. Landschaften mit ganz unmöglichen Abend- und Morgenbeleuchtungen, Mondscheingegenden, in denen Effekte angebracht waren, wie sie bei einer Feuersbrunst stattfinden, dann historische Gemälde, in denen ebenso Sinn und Verstand wie Geschmack und Kunst fehlten. Dieser Saal mit diesen Kostbarkeiten war völlig leer. Die schlechten Statuen und die schlechten Bilder hatten niemand, der sie bewunderte oder belachte – plötzlich auf den Klang eines Instruments, das halb wie eine Glocke, halb wie ein Harfenakkord tönte, gingen die Türen auf, und eine Anzahl Männer trat ein, in die verschiedenartigsten Kostüme gekleidet. Einige davon waren aus dem siebzehnten, andere aus dem achtzehnten Jahrhundert, die meisten aber trugen unsere Kleidertracht; alle hatten entweder Pinsel und Palette, oder Hammer und Meißel in den Händen. Sowie diese Gestalten, die alle sehr klein gegen die kolossalen Statuen sich ausnahmen, eintraten, sprangen die letzteren von ihren Piedestalen herab, und jede Statue haschte den, der sie gemacht hatte. Es war wunderlich anzuschauen, wie die riesigen weißen Leiber durcheinander sprangen und die kleinen schwarzen Männlein haschten, die sich ängstlich und in alle Winkel des Saals flüchtend vor ihnen verbargen, wie Mäuse sich vor der Katze zu retten suchen. Doch vergebens, jede Statue hatte bald glücklich ihren Schöpfer eingefangen und drückte und preßte ihn nun in ihren Händen, so daß den Armen, die laut vor Schmerz brüllten, die Seele aus dem Leibe zu fahren drohte. Aber die Steinbilder fühlten kein Mitleid. Eine Venus zeichnete sich besonders durch Grausamkeit aus; sie hatte ihren Schöpfer BerniniLorenzo Bernini (1598-1680), Bildhauer und Baumeister des Barocks. in der kolossalen Hand, preßte ihm hohnlachend den Leib zusammen, indem sie dazu rief: »Hab ich dich endlich, Armseliger! Jetzt stirb in meinen Händen! Warum hast du mich so häßlich geschaffen! Unglücklicher, ich kann auf meinen Beinen nicht stehen, mit meinen Armen mich nicht regen; so, wie ich da bin, kann ich nicht existieren! Und ich soll eine Venus sein, und ich bin häßlich, daß sich Gott erbarm!« – Ein mißgestalteter Herkules schlug statt auf die Hyder auf seinen unglücklichen Schöpfer los, der sich zu seinen Füßen krümmte und mit den dünnen Beinchen in der Luft herumfocht. Eine Minerva hatte ganz kaltblütig den Meister, der sie geschaffen, wie einen Frosch auf ihre Lanze gespießt. Es war ein Grauen und ein Entsetzen anzusehen. Ich zitterte an allen Gliedern.
Mit den Gemälden ging es nicht besser. Eine Judith hob ihr Schwert, streckte es aus dem Bilde heraus und machte sich bereit, dem Maler, der sie gemalt, den Kopf abzuschlagen. Eine übelgeratene Büste des Sokrates hüpfte wie ein großer Frosch auf dem Boden und sprang endlich dem Unglücklichen, der sie geschaffen, auf den Leib, indem sie wie ein Alp ihm die Kehle zuschnürte. Es war ein Anblick zum Erbarmen, aber auch zum Lachen. Den Saal füllte überall Geschrei und Hilferuf. Aber die Statuen, die Bilder, die Büsten waren unerbittlich; selbst die Farbenblasen und die Krayonstifte wurden aufrührerisch und jagten wie dicke Spinnen und lange, schmale Käfer den jammervollen Künstlern nach, um ihnen einen Rippenstoß zu versetzen oder Farbe ins Gesicht zu spritzen.«
»Um's Himmels willen!« rief hier Don Zerburo, »welch eine Hölle ist auf dem Planeten Mars für die armen Künstler bereitet! Es ist gut, daß ich nie ein Bild gemalt, eine Statue gemeißelt oder eine Büste geformt habe; ich könnte keine ruhige Nacht mehr haben.«
»Aber vielleicht haben Sie ein Buch geschrieben?« fragte der Graf den Studenten.
»Allerdings«, entgegnete dieser errötend. »Wer würde wohl in unserm schreibseligen Jahrhundert zwanzig Jahr alt und hätte noch keinen Band drucken lassen, wenn es auch nur ein Band Gedichte wäre?«
»So bedaure ich«, hub Melanie wieder an, »Ihnen die Ruhe Ihrer Nächte doch noch rauben zu müssen.«
»Sie machen mich zittern«, rief Don Zerburo, und Tutu und die Gräfin sahen ihn lachend an.
»Nicht weit von dem Tempel der Künste«, sprach die Erzählerin weiter, »wo ich jene Exekutionen hatte mitansehen müssen, befand sich ein kleiner Hain von Lorbeern und Myrten. Nie sind diese poetischen Stauden zu einem prosaischern Zwecke gebraucht worden; hier nämlich wurden aus ihnen Rutenbündel gemacht, mit denen die Bücher sich bewaffneten, um die schlechten Autoren, welche an ihrem Dasein schuld waren, zu züchtigen. Ich kann euch versichern, diese verwünschten Bücher waren unerbittlich, und bei ihnen fand ebensowenig Gnade statt wie bei den Statuen und Gemälden. Ich sah schlechte Romane über ihre Autoren herfallen und sie fast zu Tode schlagen. Wenn der eine Teil müde war, so kam der zweite daran, der dritte, der vierte, und je mehr Bände der arme Autor fabriziert hatte, desto mehr Peiniger erwuchsen ihm gleichsam aus seinem eignen Fleisch und Blut. Ihr könnt euch denken, wie Sue und DumasEugène Sues (1804-1857) »Mysterien von Paris« erschienen 1842 und 1843, sein »Ewiger Jude« 1844 und 1845. Von Alexander Dumas' Romanen waren 1844 »Die drei Musketiere«, 1845 »Zwanzig Jahre später«, 1844 und 1845 »Der Graf von Monte Cristo« erschienen. Im Salon des Generals von Manderstierna in Riga verurteilte Sternberg Sue und pries George Sand, die ihm als die geistige Tochter Goethes erschien: »Das ist die echte schöpferische Produktion mit der Wahrheit und der Schönheit im Bunde.« (»Erinnerungsblätter«. Teil II. S. 40.) litten.
Der Ewige Jude mit seinen zwölf Bänden, die Mysterien mit ihren fünfzehn, stürzten wie rasend auf den zu Boden Geworfenen hin. Auch Frauen wurden nicht verschont, und ich kam eben zur rechten Zeit, um eine deutsche Dame vor ihren eignen Kindern in Sicherheit zu bringen. Am meisten litten die Herausgeber von Gedichtsammlungen, sie wurden mit ganz dünn geschälten Myrtenzweigen geschlagen, während die andern Autoren mit Lorbeerzweigen gezüchtigt wurden. Es lag darin ein sehr boshafter Hohn.«
Don Zerburo senkte das Haupt und sagte leise: »Meine Hoffnung besteht darin, daß meine Gedichtsammlung gewiß nicht so rachsüchtig sein wird. Freilich wäre die Dame, an die ich meine Seufzer richtete, imstande gewesen, so grausam an mir zu handeln. Die Frauen reizen uns zu zärtlichen Gefühlen, aber sie erwidern sie nie.«
Tutu und Iduna wechselten bei diesen Worten scheue und flüchtige Blicke. Wer in diesem Augenblick in die Seele des Engels hätte schauen können, hätte sie voll Tumult und Empörung gefunden. Der unglückliche Himmelsbürger fand sich schon fast gänzlich an die Erde gefesselt; er träumte nur von der Liebe Idunas, von dem Glücke, ihr ganz anzugehören. Nichts fehlte als der ominöse Kuß, um ihn auf immer in Fesseln zu schlagen. Don Zerburo sah dies mit Lächeln.
»Wird nun die Reise nicht bald vorwärts gehen?« fragte der Graf.
»Sogleich«, entgegnete Melanie. »Vom Mars kamen wir auf der Venus an.«
»Ah, auf die Venus, auf die dicke Dame! Sie fanden daselbst gewiß Verliebte und Liebespaare?«
»Ich entdeckte diesen Planeten«, sagte Melanie, »angefüllt mit großen Spinnegeweben, in denen häßliche, dickleibige Spinnen saßen, aber mit hübschen Gesichtern, mit Bart und Lorgnette geziert. Die Fliegen, die diesen Spinnen zu nahe kamen, waren bejammernswerte Opfer der Lüsternheit, junge Mädchen, die nicht wußten, daß das räuberische Insekt, das so hübsche Blicke zuwarf, das so zärtliche Romanzen sang und einen so verführerischen Knoten in die Krawatte geschlagen hatte, ein blutdürstiges Ungeheuer war.
Zuletzt, als ich schon etwas müde war, schlug mir der General, mein Begleiter, vor, einen Standpunkt außerhalb unsres Sonnensystems zu wählen, um mir das Ganze einmal aus der Ferne anzusehen. Wir flogen demnach in die Milchstraße und setzten uns irgendwo nieder, und da wurde mir nun ein ganz besonders reizendes und liebliches Bild. Ich sah die Sonne, und um sie herum tanzten und wirbelten alle Planeten. Aber die Sonne war Liszt, und er spielte als Sphärenmusik die Aufforderung zum Tanz von Weber, und nach diesen himmlischen, rollenden Tönen, nach diesem Läufer, der genial auf der Tonleiter hinabglitt, walzten die Welten immer rascher und wilder umeinander her. Es war wundersam anzusehen, wie diese Kugeln sich wonniglich umfaßt hielten und miteinander walzten. Die Erde lag in Jupiters Armen, Venus tanzte mit Mars, der alte Saturn in einem blauen Frack mit goldnen Knöpfen hielt Pallas im Arm und drehte sich mit ihr schwerfällig. Die Sonne aber spielte immer drauflos, stets rascher und genialer, und die Welten flogen zuletzt, daß es nur so durch den Himmel stäubte. Nie hab ich einen lustigern Tanz gesehen. Ich klatschte in die Hände und hätte gar gern selbst mitgetanzt. Mein Begleiter, der General, machte mich aufmerksam, indem er eine tombakne Uhr aus der Tasche zog, daß es Zeit sei, jetzt nach Hause zurückzukehren. Ich war so gehorsam, daß ich ihm sogleich folgte, obgleich ich noch gern der Sphärenmusik zugelauscht und der Sonne LisztSternberg erzählt sehr amüsant, wie ihm durch das Üben Franz Liszts in einem Königsberger Gasthofe die Ruhe geraubt wurde. Liszt hatte »einen mageren, sehr gelenken und biegsamen Körper und ein höchst ausdrucksvolles Gesicht, dessen große imposante Züge wie aus Marmor geformt erschienen«. Seine Konzerte versetzten Berlin in einen krankhaften Taumel der Begeisterung. (»Erinnerungsblätter«. Teil II. S. 121-125.) mein allerhöchstes Wohlwollen zu erkennen gegeben hätte. Es war aber nicht möglich: Liszt spielte so eifrig, daß er nichts hörte und sah; die Welten tanzten ihrerseits auch so leidenschaftlich, daß auch sie auf nichts merkten, was um sie her geschah.
So erwachte ich denn plötzlich in meinem Bette. Ich lag im Fieber; man hatte den Arzt gerufen, und dieser war eben auf eine kleine Weile hinausgegangen, um mit meiner Mutter zu sprechen. Ich hörte sie leise flüstern im Nebenzimmer; aber auch andre Stimmen hörte ich, ganz in meiner Nähe. Ich blickte auf, und in dem Hut des Arztes lagen seine Handschuhe. Ein blaßgelber Handschuh, vielleicht der meiner Mutter, befand sich ebenfalls auf dem Tische. Einer der groben braunen Handschuhe des Arztes machte dem Handschuh meiner Mutter den Hof, auf eine so zudringliche und so wenig zartfühlende Weise, daß der Zwillingsbruder, der oben vom Hute herablauschte wie ein Ritter von der Warte, ihm ernste Vorwürfe über sein Betragen machte. Der Stock des Arztes lachte boshaft.
Ich dachte an die unglückliche Liebesgeschichte zwischen dem Pelzhandschuh und der zarten Millmill. Jetzt kam der Arzt, und schnell schwiegen die zarten Stimmen um mich her. Als alle diese schönen Träume verschwunden waren, sagte mir meine Mutter: ›Nun bist du endlich gesund; jetzt wirst du wieder in die Schule gehen können. Ich werde mich wohl hüten, wieder eine solche Gesellschaft zusammenzubitten, du könntest vor lauter Aufregung wieder das Fieber bekommen!‹ – ›Ach‹, dachte ich bei mir selbst, ›ich will lieber das Fieber und solche Träume, als das Indieschulegehen und die langweilige Gesundheit.‹«