Alexander von Ungern-Sternberg
Tutu
Alexander von Ungern-Sternberg

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Sechstes Kapitel

Der Held dieser Erzählung begibt sich mit seinem Führer auf Reisen

 

»Ich bin dir dankbar für deine Erzählung«, hob Don Zerburo an, als Tutu geendet. »Wie glücklich ist ein Geschöpf deiner Art, indem es unmittelbar in die Seele und die Zustände des Menschen schauen kann; wir Sterbliche müssen zu unserm Erfolge auf viel langsamerem Wege gelangen, und oft ist dieser Weg mit Täuschungen aller Art besät, so daß selbst die Weisesten unter uns am Ende ihrer Laufbahn gestehen müssen, daß sie sich fortwährend in der Welt und den Menschen geirrt. Es gehört Gutmütigkeit dazu, dies einzugestehn; die meisten unter den Weisen, die nichts weniger als zugleich gute Menschen sind, schieben die Schuld ihrer Kurzsichtigkeit und ihrer Irrtümer der Menschheit in den Schoß und nennen die Welt schlecht, bloß weil sie das Gute nicht haben entdecken können. Übrigens, mein Freund, wenn ich mit dir reiste, welche vortrefflichen Abenteuer könnte ich bestehen, wie viel könnte ich erfahren und lernen!« –

»Und was hindert dich, mit mir zu reisen?« fragte Tutu mit einer Miene kindischer Verwunderung.

Der Student sah mit einem Blick des Vorwurfs auf seinen Gefährten, der ihm solchen Vorschlag machte. »Dein Kostüm!« rief er endlich. »Bedenke dein Kostüm, oder vielmehr den Mangel irgendeines Kostüms!«

»Du hast recht«, entgegnete Tutu errötend. »Ich vergaß in diesem Augenblicke, daß ich auf der Erde, auf eurer seltsamen Erde sei, wo man über kleine Anstöße nicht hinwegkommt, während man wahre Gebirge von Greuel und Schandtaten mit leichtem Fuß überspringt.«

»Du wirst boshaft«, rief Don Zerburo.

»Und glaubst du, daß wir Engel ganz aus Güte zusammengesetzt sind? Du wirst wissen, daß ihr eine gewisse fade Güte, eine Sanftmut ohne allen Charakter und Energie als den Hauptbestandteil eines Geschöpfes bezeichnet, das ihr ›engelgut‹ nennt. Eine Gattung fader Frauen, die blond und schmachtend sind, die zu allem lächeln und sentimental seufzen, das sind eure Engel; aber glaubt nur nicht, daß man solche Geschöpfe im Himmel findet. Grade der allerschärfste Geist, das strengste Urteil, der durchdringendste Verstand sind nötig, um die Güte eines Engels erst zu dem zu machen, was sie ist. Wir durchschauen alle Schwächen, wir bemerken alle Lächerlichkeiten, beständig schwebt uns ein beißendes Wort, ein schlagender Witz, eine niederschmetternde Bemerkung auf den Lippen, doch das unendliche Erbarmen, die nie verlöschende Liebe, das ewige Wachsein des Herzens schlägt jedes verletzende Wort nieder, hüllt jedes Gebrechen, das wir bemerken, in Licht und Wärme des tröstenden und heilenden Erbarmens. Lernet nur diese Güte verstehen – sie allein führt ihren Namen mit Recht; ich hab' auf eurer Erde noch wenig Spuren von dieser wirklichen und echten Engelsnatur gefunden.«

– »Aber mittlerweile mußt du dich doch in Kleider werfen«, bemerkte der Student.

»Du sollst mich augenblicklich bereit finden«, sagte Tutu. Er verschwand, und nach kurzer Frist trat ein junger Mann in einem modischen Anzuge herein, der etwas von der vornehmen und genialen Nachlässigkeit an sich hatte, mit welcher die Virtuosen der Toilette das Studium und die ängstliche Sorgfalt zu verbergen wissen. Das blonde Haar war in ungezwungenen Locken über der Stirn gescheitelt, das Gesicht war blühend, aber nicht frisch; um die schönen Augen zog sich ein bläulicher Schatten, ähnlich der zarten Färbung, welche die Jünger im Dienst der Musen sich erwerben, wenn späte Nachtwachen und das zärtliche Ringen mit einem poetischen Gedanken die Blumenfrische ihrer Wangen bleicht und das Auge in tiefere Schatten zurückdrängt. Tutu sah in seiner jetzigen Erscheinung wie ein junger Dichter aus, der von der Welt noch nicht anerkannt ist, – denn jede Anerkennung streift den poetischen Hauch ab, macht eine heimliche Liebe zu einer offenbaren und wandelt den verborgenen, schüchternen, glücklichen Poeten in einen fetten, aufgeblasenen, berühmten Mann um. Der Ruhm gibt nicht umsonst seine Kränze, er nimmt dafür die Unschuld, den Traum und die Liebe mit, alles Dinge, die man glaubt entbehren zu können, wenn man vierzig Jahre alt und berühmt ist.

»Du bist reizend!« rief Zerburo. »Ich werde dich in Gesellschaft von schönen Frauen bringen, und wenn du, wie vorauszusehn ist, ihren Lockungen nicht widerstehst, so werde ich den Triumph erleben, dich, meinen schönen Himmelsbürger, als Sohn der Erde, an meiner Seite wandeln zu sehen.«

»Oh, das wäre entsetzlich!« rief der Engel, und eine Todesblässe glitt schnell über sein Gesicht. »Der bloße Gedanke schon, bei euch bleiben zu müssen, jahrelang diese Kerkerluft einatmen zu müssen, macht, daß ich fast ersticke. Aber du scherzest wohl nur; glaubst du, daß ich als Frau gesicherter sein werde?«

»Ich glaub' es fast«, entgegnete der Student.

Das Wort war noch nicht gesprochen, als der junge Mann verschwand und statt seiner eine schlanke Blondine dastand, ein schönes, ätherisches Mädchen, dessen blendende Lieblichkeit und Jugendfrische durch einen verführerischen Schatten von Melancholie und sanftem, träumerischem Nachdenken gemildert wurde. Es war Corinne, Aspasie,Aspasia, die Geliebte des Perikles. Madame de Staëls Roman »Corinne ou l'Italie« erschien 1807. Helene – alles in einer Person. Und dabei in einem Gewande, das so keusch war wie das einer Muse und doch dabei so verführerisch elegant wie das einer Operntänzerin. Ein Schal von Gaze war mehrmals um den Hals geschlungen und ließ die vollen, wie aus Marmor gerundeten Schultern frei. Eine goldene Schlange bildete das Armband, und eine ebensolche umspannte das Haupt und hielt und bändigte die Fülle der goldbraunen Locken.

»Bin ich so gesichert?« fragte der Engel schüchtern.

»Vollkommen!« rief der Student und warf sich in die Arme seines Gastes, um ihm einen Kuß zu rauben.

»Welch ein Verrat!« schrie der arme Tutu und sprang zur Seite, zitternd und erbleichend, daß ihm, gleich am Anfang seiner gefährlichen Laufbahn, das Verderben so nahe getreten war. Don Zerburo seinerseits erkannte mit Beschämung, wie frevelhaft er gehandelt. Er warf sich zu Füßen der schönen Erscheinung und bat sie, den Sturm der Leidenschaft zu verzeihen, die ihn ohne Willen und Macht mit sich fortgerissen.

»So folge mir denn«, sagte der besänftigte Genius, der wieder die frühere Gestalt eines jungen Mannes angenommen hatte, »wir wollen unsern Reiseflug zu einer jener großen Städte richten, die dir aus früherer Erinnerung noch bekannt sein wird. Fasse hier den Zipfel dieses weißen seidenen Tuches und schließe die Augen; denn die Schnelligkeit, mit der wir reisen, würde dir bei offenen Augen Schwindel erregen. Wenn sich ein Gegenstand darbietet, den wir betrachten wollen, so werde ich dir ein Zeichen geben und zu gleicher Zeit die Eile unsers Fluges mäßigen.« Don Zerburo faßte die Zipfel des Tuches, und es schien ihm, als wenn sich diese in weiche, große, milchweiße Flügel verwandelten, die über seinem Haupte zusammenschlugen und ein melodisches Klingen verursachten; zugleich wehte ein milder, aber zugleich starker Luftzug durch seine Locken.

»Sieh hier den Traum eines Kindes!« rief der Engel und hielt den Flug an. Die weißen Schleier entfalteten sich und ließen den Blick frei auf ein ärmliches Gemach, an dessen einer Wand ein Kinderbette stand, in welchem ein rotwangiges Mädchen von seltener Schönheit und mit einem rührenden kindlichen Ausdruck schlummerte. Sie hielt ihre Puppe im Arm, während ein himmlischer Zug von Glück, Unschuld und Frieden das rosige Gesichtchen umspielte.

Der Engel zeigte auf die gegenüberstehende Wand, und Don Zerburo sah ein phantastisches Gemälde darauf erscheinen. Das Bild der Sonne, mit einem mächtigen blonden Barte geziert, stand am Himmel, und ein langer Zug junger Mädchen stieg von der Erde auf, um die Sonne zu bewillkommnen und ihren schönen blonden Bart zu bewundern. Diese Vorstellung war phantastisch, aber kindlich und unschuldig zugleich. Im Traum hörte Don Zerburo die kleine hübsche Schläferin rufen: »Oh, sieh, Mutter! die Sonne hat sich in Vetter Emil verwandelt, und ich und alle meine Freundinnen kommen, um ihm einen guten Morgen zu wünschen! Und mich sieht er besonders freundlich an! Ach, der hübsche Vetter Emil mit seinem großen, schönen Barte!«

Der Student sah lächelnd auf das Bild und dann wieder auf die Kleine; beide schienen ihn auf gleiche Weise zu unterhalten und zu beschäftigen. Erst nachdem er seinen träumerischen Gedanken Gehör gegeben und die rührenden und zärtlichen Gegenstände, die ihm diese magische Zusammenstellung einflößte, an ihrer Lebendigkeit nachgelassen, wandte er sich zu seinem Begleiter und bat ihn, einen Traum dieses seltenen Mädchens, aber zehn Jahre später, zu zeigen.

Die Züge Tutus nahmen den Ausdruck sanfter Schwermut an, als er diesen Wunsch vernahm. Zögernd und fast mit Unwillen schien er an die Erfüllung desselben zu gehen. »Du birgst jene quälende Neugier in deiner Brust«, sagte er, »die allen Sterblichen, ausgenommen den wenigen Lieblingen des Himmels, eigen ist, und die da macht, daß jede Erdenfreude in ihrer kurzen Blüte den Keim des Mißbehagens und der Unzufriedenheit für euch in sich schließt.

Warum willst du hier mehr wissen, als ich dir zeige? Freue dich an dem, was du siehst. Was da jetzt folgt, wird vielleicht nicht so erfreulich sein.«

»Und dennoch will ich es sehn«, rief Don Zerburo.

»Ihr Erdenkinder seid unverbesserlich!« entgegnete Tutu mit einem trüben Lächeln. »So nehmt denn, ihr Jahre, dies süße kleine Geschöpf, nehmt es aus dem ärmlichen Lager, wo es dennoch so schön gebettet liegt wie der Tautropfen im Schoß der Rose, nehmt es und legt statt seiner jene Gestalt hinein, die ich dort zusammengebrochen und mit den bleichen Zügen des herbsten Kummers stehen sehe. Hinweg Bild der Ruhe, der Unschuld und des Friedens! hinweg! Oh, welche Fülle der Tränen, des bittersten Leids, der gramerfüllten Klage drängt sich aus dem sich gestaltenden Bilde an mein Herz.«

Don Zerburo hörte die zitternde Rede seines Führers mit Schrecken; noch heftiger wurde aber sein Mitgefühl erregt, als er auf dem ärmlichen Lager, das sich erweitert, aber nicht verschönert hatte, ein junges Mädchen ruhen sah, bleich wie der Tod und mit dem Ausdruck des Wahnsinns. Sie fuhr im Schlaf empor, streckte die magern Arme in die Luft und, die Gebärde machend, als zöge sie einen Gegenstand von der Höhe herab, rief sie mit einer Stimme, die das Blut in den Adern des jungen Mannes erstarren machte: »Ich ziehe dich zu mir herab! Du mußt, du mußt, Treuloser, mit mir zusammen im kalten Grabe liegen. Hab' ich dich in der hellen schönen, gotterfüllten Welt nicht an meine Seite fesseln können, hier im engen, dunkeln Grabe sollen dich meine Arme umstricken und dich nimmer freilassen! Hörst du!«

Und das Bild, das an der Wand erschien, zeigte einen dunkeln, heimlichen Waldsee, in dessen Tiefe die arme Betrogene, wenige Tage nach diesem Traumbild, sich und ihr Leid verbarg. Ein grausenvolles Gebilde erhebt sich aus den dunkeln Fluten und zieht den jungen Jägersmann in die Tiefe hinab.

»Oh, laß das Kind sterben!« rief Don Zerburo, »laß es von der Erde verschwinden, ehe es deren trostlosesten Jammer gekostet. Es schlummert dort so süß, so friedlich – so glücklich. Laß es so sterben.«

»Kann ich das?« rief Tutu. »Liegt dergleichen in meiner Macht? Du vergißt, daß ich ein Geist sehr untergeordneter Art bin, gegen die mächtigen Vollstrecker des göttlichen Willens gehalten, die in den obersten Regionen des EmpyreumsDas Empyreum ist in Dantes »Göttlicher Komödie« der Wohnsitz der Seligen. umherschweben. Komm! Vergiß die Kleine! Mach es, wie die glücklichen Menschen es machen, sie haben nur Sinne für die Freude. Ich seh' schon dort die Nebel der großen Stadt steigen. Wir müssen daran denken, wie wir uns präsentieren; ich möchte nicht gern etwas Auffälliges an mir haben. Nicht wahr, mein Rock kleidet mich ganz gut! Ich seh' so unbedeutend aus, ganz wie ihr alle ausseht. Oder guckt irgendwo ein Zipfelchen Glanz hervor? Ragt ein Bändchen meiner Engeltoilette noch unter dem schwarzen Rock hervor? Zeige mir, wie du deine Lorgnette ins Auge klemmst. So – nun sprich! Ist dir diese Stellung recht? Habe ich in vollem Maße jene Frechheit und Ungeniertheit an mir, die man jetzt guten Ton nennt? Bin ich gehörig unausstehlich, um liebenswürdig zu sein?« –


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