Alexander von Ungern-Sternberg
Tutu
Alexander von Ungern-Sternberg

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Zehntes Kapitel

Wahrscheinlich ist das Bild der Königin das einer »jugendlichen Schönheit, Frau von F—, die aus den Hallen des russischen Gesandtschaftshotels hervorging«. Sternberg sagt in den »Erinnerungsblättern« (Teil III. S. 78): »Ich habe ihr Porträt in einer der Illustrationen meines Märchens ›Tutu‹ gegeben.«

Geschichte einer Hand

 

Da Tutus Leidenschaft zu Iduna immer lebhafter wurde, fanden sich er und Zerburo sehr oft bei der schönen Gräfin abends beim Kamin ein, wo in der Regel nur eine sehr kleine Gesellschaft versammelt war. Man saß und plauderte, und die Stunden vergingen sehr schnell. Eines Abends kam das Gespräch auf die Galanterie der Herren gegenüber dem schönen Geschlecht. »Ich beneide die Zeiten«, sagte die Gräfin, »die den Fanatismus der Artigkeit noch kannten, unsere Zeit hat nur noch dunkle Traditionen über diesen Gegenstand. Wir haben in unsern Salons keine junge Herren mehr, sondern nur eine Anzahl langweiliger Automaten, mit ewig dampfender Zigarre im Munde.«

»Sehr wahr«, entgegnete der Graf, »aber zur Entschuldigung für mein Geschlecht muß ich anführen, daß bei den Frauen zu keiner Zeit die böse Sitte so überhand genommen hat, Epigramme zu machen, als bei den Frauen unsrer Tage. Man findet fast keine wohlwollende und gutmütige Frau mehr, sie sind alle boshaft, einige mit mehr, andre mit weniger Geist.«

»Sollte darin nicht ein schmeichelhaftes Zugeständnis unsres Wertes liegen?« fragte Zerburo, indem er einen spähenden Blick auf die Damen warf. »Man findet es der Mühe wert, uns zu beobachten, zu strafen. Ist dem nicht so?«

»Es kann sein«, entgegnete Iduna zerstreut; denn ihr Blick war eben in die tiefe dunkle Bläue des Engelsauges gefallen und konnte sich nicht sogleich wieder da herausretten.

»Ich weiß über die Galanterie eine alte spanische Geschichte«, hub der Graf an, »und wenn man Lust hat, mir zuzuhören, so will ich sie gern erzählen.«

»Ich hoffe. daß Ihre Geschichte kurz sein wird«, setzte die Gräfin hinzu.

»Sie wird Ihre Geduld nicht ermüden«, antwortete der Graf.

»Was mich betrifft«, sagte die alte Dame, die die Strümpfe für die kleinen Hottentotten strickteDie alte Dame, die Strümpfe für die Hottentotten strickt und im Gespräche geistlose Bemerkungen macht, ist Charlotte Birch-Pfeiffer (1800-1868), die unermüdlich die gelesensten Romane der Zeit in Bühnenstücke verwandelte. Allmählich schrieb sie dreiundzwanzig Bände zusammen. Sie verstand es, den Geschmack des Publikums zu treffen, weil sie sich niemals über ihn erhob. Sternberg lernte die korpulente Dame bei Henriette Paalzow kennen. (»Erinnerungsblätter«. Teil II. S. 106.), »so kann man mich zu allem bringen, wenn man mir spanische Geschichten erzählt. Schon die Namen Don Galaor, Don Ruys, Don Almansor üben einen unbeschreiblichen Zauber auf meine Phantasie aus.«

»An dem Hofe Blankas von Kastilien«, hub der Graf an, »lebte eine junge Dame von untadelhaften Sitten und von einer viel mehr als gewöhnlichen Schönheit. Sie war die Witwe des Großadmirals und eine Nichte des Kardinals Lantaflores, eines in den Wissenschaften und den Künsten hochgebildeten Mannes, der sich des schmeichelhaften Titels eines ›Orakels der Höhe‹ zu erfreuen hatte. Die junge Dame, deren Name Innozentia war, lebte einen Teil des Jahres auf dem Landgute ihres Oheims, den andern Teil brachte sie in Madrid zu am Hofe der Königin, die sie zu ihrer Juwelenbewahrerin erhoben hatte, ein Amt, das zugleich mit der Intendantur über das königliche Waschbecken und die Parfümeriesachen verbunden war. Die Geschäfte ihrer interessanten Stellung brachten sie oft in die unmittelbarste Nähe der Königin, und diese Prinzessin, die selbst schön und jung, und grade damals zu einer unglücklichen Leidenschaft für den französischen Gesandten an ihrem Hofe entbrannt war, fand Trost in den Armen der schönen Innozentia, die es verstand wie keine andre mit Anmut zu trösten, mit Lebendigkeit, und ohne Ermüdung zu erregen, zu plaudern, und die, wenn die Königin stundenlang von ihrer Liebe sprach, nie sich zur Seite wandte, um ein Gähnen zu verstecken.

Eines Tages warf die Königin die Frage auf, welcher Nation Innozentia den Vorzug gäbe, der französischen oder der spanischen? Natürlich war hier nur von Liebhabern die Rede; denn was sonst an männlichen Talenten und Würden bei beiden Nationen zu finden sein mochte, kümmerte die beiden schönen Frauen sehr wenig, die in einer heißen Nachmittagsstunde auf den Polstern einer Ottomane beisammenlagen und mit ihren Fächern aus indischen Paradiesvögelschweifen sich Kühlung zuwehten.

»Wenn Ihre Majestät mir erlauben«, sagte mit einem bescheidenen Erröten die Intendantin, »so gebe ich der spanischen Nation den Vorzug.«

Die Königin schien befremdet und sah ihre Vertraute mit einem langen und strafenden Blick an, indem sie zugleich mit zitternder Stimme fragte: »Also glaubst du, Innozentia, daß ein Franzose treulos sein, daß ich von einem Franzosen verlassen werden könnte?«

»Oh, was Ihro Majestät betrifft, so werden Sie unter keiner Bedingung verlassen. Keine Nation der Erde birgt in ihrem Schoße ein Individuum armselig oder feig genug, das nicht in jedem Augenblick zu Ihren Füßen zu sterben bereit sein würde.«

»Sie schmeicheln, Madame. Ich wüßte in der Tat nicht, was ich vor andern Frauen voraus hätte.«

Die Empfindlichkeit der Königin zu ersticken, warf sich ihr die schöne Innozentia zu Füßen und rief mit einem Tone voll Zerknirschung und Reue: »Ich habe unrecht – ich habe unrecht. Die Franzosen verdienen den Preis. Ach, ich dachte in diesem Augenblick nicht an Hippolyte von St. Dalmatien.«

»Still«, sagte die schöne Blanka mit Erröten, »dieser Name darf nur von mir in dieser vertraulichen Weise ausgesprochen werden.« Sie seufzte und senkte ihr Haupt tief, dann seufzte sie noch einmal, zerknickte eine der Federn ihres Fächers, lächelte dann schmerzlich und düster und sagte endlich: »Worauf gründet sich deine Vorliebe für die Spanier, arme Innozentia? Hast du ein Abenteuer mit irgendeinem von meinen Untertanen gehabt? Aber, wie kann ich so fragen! Du – und ein Abenteuer! Ich werde das Gesetz an meinem Hofe geben, daß jeder Mann, wenn er deinen Namen nennt, sein Haupt entblöße wie bei dem Gruße der allerheiligsten Mutter; denn sicherlich kennt Spanien kein untadelhafteres Weib wie dich.«

Als die Königin so sprach, löste Innozentia ihre langen schwarzen, seidenweichen Locken und ließ sie wie einen Schleier über ihr Gesicht fallen. Hinter diesem Schleier errötete sie, gleichwie der rote Schein des Abendhimmels hinter dunkeln Wolken lieblich hervorbricht.

»Was ist das?« fragte die Königin und neigte sich lächelnd und neugierig zu ihrer Hofdame. »Soll es ein Bekenntnis der Schuld sein? Du wärst also nicht so unberührt von zärtlichen Begegnungen geblieben, als ich wähnte? Ach, ich atme wieder auf. Deine Nähe war mir oft lästig, so wie uns armen Frauen oft das Gewissen und die Tugend lästig werden. Erzähle, schöne, bunte Schlange, erzähle!«

Innozentia neigte sich zur Hand der Königin, küßte sie und sagte respektvoll: »Was ich habe und weiß, ist zugleich das Eigentum Ihrer Majestät. Ein Geheimnis, das ich vor aller Welt und selbst vor meinem Beichtvater verschließen würde, könnte ich nicht zurückhalten, wenn ein graziöser Wink aus den allmächtigen Augen meiner Gebieterin, es herzugeben, mir befähle. So erfahret denn, hohe Frau, daß ich Don Gusman de Samosata liebe!«

»Ah, den jungen Kavalier, den ich in diesen Tagen an den Hof von Neapel sandte, der das Unglück hatte, seine rechte Hand einzubüßen, als er an Bord einer maurischen Galeere sprang?«

»Derselbe. Aber nicht der Säbel des Barbaresken, die Liebe, die Ehre, der Frauendienst raubte ihm die Hand. Mit einem Worte, diese Hand ist in meinem Verwahrsam; sie ist mein kostbarster Schatz.«

Die Königin drang mit neugierigen Blicken in ihre Vertraute, und diese fuhr errötend fort:

»Ich hatte kaum, auf Zureden meiner Verwandten, dem Admiral meine Hand gereicht, als ich Don Gusman kennenlernte. Auf dem Turnier zu Sevilla sah ich ihn zum erstenmal; er erhielt als Sieger den Preis aus Ihrer Majestät Händen.«

»Oh, ich weiß es. Ich saß neben meiner Muhme, der Äbtissin von Calatrava, die ihre dicke schwitzende Hand auf meinen Arm legte und fortwährend mir ins Ohr flüsterte: ›Bei St. Jago, das ist ein hübscher Knabe, der dort mit dem gelben Schildüberhang – das sind Lippen zum Küssen, bei der heiligen Therese! Diesen jungen Ritter, der eben in die Schranken reitet, muß ich kennen – usw. usw.‹ Nie hat wohl die Sonne Spaniens eine würdigere Calatrava-Nonne beschienen. Doch fahre fort in deiner Erzählung!«

»Tief in den Gebirgen von Estremadura versteckt, weit gesondert von den Eitelkeiten der Welt und dem Verderbnis der Höfe lebte der alte Komtur Don Manuel d'Olonna. Er sammelte um sich eine Schule, wo er Jünglinge in den Grundsätzen der Tapferkeit, der Ehre und des edeln Frauendienstes unterwies. Spaniens Größe, seine idealen Gesetze, seine illustre Tugend und seine schöne Sitte wohnten hier noch ursprünglich rein und unangetastet, und der alte greise Ritter erzog die Knaben in abgöttischer Verehrung für die Tugend und Reinheit des Weibes. Aus dieser Schule war Don Gusman hervorgegangen. Seine junge Seele war ein Juwel, der nur im Strahl der Ehrensonne leuchtete. Ich – o meine Königin! – ich war seine erste Liebe. Wahrlich, wenn bei diesem Begegnen von Reinheit in Gedanken und Tat die Rede ist, auf meiner Seite war sie wahrlich nicht. Noch denk ich daran, wie zum erstenmal er zitternd meine Hand berührte, es war, als wenn eine Flamme über eine Lilie dahinführe. Er war der Ohnmacht nahe, dieser starke und wilde Sohn der Natur und der Einsamkeit, so durchschütterte ihn das plötzlich kundgewordene Geheimnis seines Herzens. Ich ertrug es leichter; eine Romanze im Mondschein gesungen, ein Seufzer in ein volles Nelkenbukett gehaucht, ein bißchen Lachen, ein bißchen Weinen, eine Träne bei Nacht und ein Liedchen am Tage halfen mir hinweg über das tiefe Weh der Liebe. Dennoch füllte er mein Denken und Träumen. In dieser Zeit eröffnete auf Befehl Ihrer Majestät mein Gemahl den Krieg gegen die Barbareskenstaaten.«

»Ja, ja, ich befahl es«, sagte die junge Königin lachend. »Drei Wochen später erfuhr ich zufällig von einem meiner Minister, daß ich es war, die dich zur Strohwitwe gemacht hatte.«

»Ihro Majestät hatten den Befehl zu meinem Untergang gegeben. Nicht mein Gemahl, der Admiral, scheiterte, sondern ich. Während ganz Spanien meine erhabene Tugend vergötterte, war Don Gusman der Gefährte meiner einsamen Stunden. Oh, ich werde diesen Himmel, in dem ich einst wandeln durfte, nie wieder in seinem Glanze betreten, in meiner Erinnerung wird er aber ewig leben.«

»Ach, man sehe die Verbrecherin!« rief die Königin, indem sie mit beiden Händen ihr Antlitz bedeckte. »Das hätte ich nicht einmal gewagt.«

»Zu meinem Glücke«, setzte Innozentia rasch hinzu, »erwachte keine der Lästerzungen, bis ein unglücklicher Zufall uns dicht an den Rand des Verderbens brachte. Wir hatten ausgemacht, daß Gusman mich besuchen sollte, verhüllt in die dürftige und unscheinbare Kleidung eines Holzhauers oder Kohlenbrenners. Eines Abends hatte er die erstere gewählt. Wir trennten uns erst spät; der Morgen graute schon, als er von mir ging. Das Gittertor meines Parks war angelehnt, als er es wieder schloß, klemmte er unglücklicherweise seine Rechte ins Gitter. Keine Bemühung, keine noch so zwangvolle Anstrengung machte die gefangene Hand wieder los. Er hätte rufen müssen, Hilfe in Anspruch nehmen, und unser Geheimnis wäre verraten worden. Er zauderte keinen Augenblick; mit der Axt, die er über die Schulter geworfen hatte« –

»Entsetzlich! entsetzlich!« rief die Königin erbleichend. »Vollende nicht; schone meiner – ich sehe das Grausenvolle vor meinen Augen geschehen! Oh, welch ein Mann war dieser Don Gusman!« –

Die Freundinnen schwiegen eine Weile, während jede mit den Gefühlen, die ihren Busen durchbebten, zu kämpfen hatte, dann sagte Innozentia: »Die Hand brachte man mir wenige Stunden darauf, man hielt sie für die Hand eines Diebes, obgleich ihre Weiße und Schönheit diese Meinung hätte widerlegen sollen. Mein Schloßarzt, ein geschickter Araber, balsamierte dieses teure Unterpfand aufs köstlichste ein, so daß es jetzt täuschend einer Hand von Alabaster ähnlich sieht. Das bald darauf stattfindende Gefecht mit den Piratenschiffen, bei dem Gusman zugegen war, machte das Gerücht, das er selbst aussprengte, glaublich, als sei er durch den Säbel der Ungläubigen verstümmelt worden. Jetzt, da meine Bekenntnisse zu Ende sind, werden Ihro Majestät mir vergeben, daß ich für die spanische Frauenverehrung und Galanterie einige Vorliebe hege.«

Die Geschichte schweigt von dem, was die Königin Blanka hierauf erwiderte.«

Als der Graf seine Erzählung geendet hatte, sah er sich im Kreise um und bemerkte mit Freude, wie manches schöne Auge von einer verstohlenen Träne feucht wurde. Manchen Herzen mochten die Worte entklingen: »Ach, würdest du doch auch so geliebt!«

»Wissen Sie, was mir eben in den Sinn kommt?« fragte plötzlich der Graf die schöne Melanie. »Ich sah Sie eines schwülen Sommernachmittags in unserm alten Schloßgarten eingeschlummert.«

»Mich?« rief Melanie.

»Es war ein reizendes Bild«, setzte der Graf verbindlich lächelnd hinzu; »aber dennoch war dieses Bild ein Epigramm auf unsere Zeit. Sie lehnten ihr Haupt an eine Statue des Amors und ruhten in dieser gefährlichen Nähe so sanft, als lägen sie im Schoße Abrahams. Ich muß gestehen, nie habe ich ein rührenderes, aber auch für mein Geschlecht beleidigenderes Bild gesehen. ›Wie!‹ rief ich entrüstet, ›da liegt eine junge Schöne; sie hält dich und dein ganzes Geschlecht für so langweilig und für so wenig gefährlich, daß sie dicht in der Nähe des furchtbaren Gottes, der unsere Interessen vertritt, zu schlummern wagt! Oh, wenn das die Frauen des Altertums sähen! Wenn Glycere, wenn Julia, wenn Laura, oder auch nur Corinne und ValerieGlycere wurde von Horaz, Laura von Petrarca besungen. Unter Julia ist nicht die Heldin Shakespeares, sondern die Rousseaus zu verstehen. Eine von Tony Johannot (und anderen) illustrierte Ausgabe war ein Jahr vor dem »Tutu« unter dem Titel »Julie ou la Nouvelle Héloise« erschienen. Über Corinne vgl. Anm. zu S. 67. Der Briefroman »Valérie« (1803) ist ein Werk der durch die Stiftung der Heiligen Allianz berühmten Frau von Krüdener (1764 bis 1824). Sternberg hat sich wiederholt mit ihr beschäftigt. Schon in seiner Novelle »Eduard« (Stuttgart 1833. S. 85 und 111) redet er viel von der Verfasserin der »Valérie«. Er berichtet dort bereits von der Predigt, die Frau von Krüdener vor Wäscherinnen hält. Erzählt hatte ihm die Geschichte der General von Manderstierna in Riga. (»Erinnerungsblätter«. Teil II. S. 51.) hier zugegen wären! Was würden sie sagen?‹«

»Das sind sehr sonderbare Betrachtungen«, sagte die junge Dame errötend. »Was haben sie mit der eben vorgetragenen Geschichte zu tun?«

»Ach«, seufzte der Graf, »sie stehen mit ihr in einem leider nur zu nahen Verband. Der Amor hatte seinen Arm und mit diesem seine Waffe verloren. In der Nähe eines solchen Amors kann man allerdings nichts Besseres tun als schlummern. – Wir sind keine Don Gusmans mehr.«

»Die Nutzanwendung ist artig«, bemerkte Iduna. »Was uns Frauen betrifft, wenn man aufrichtige Reue zeigt, so werden wir immer bereit sein, zu vergeben und zu vergessen.«


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