Alexander von Ungern-Sternberg
Tutu
Alexander von Ungern-Sternberg

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Drittes Kapitel

Der Leser erfährt, welch ein Unheil entsteht, wenn eine Putzmacherin und ein geistlicher Herr zusammentreffen. Der kolossale Amor und der Philosoph als Freiwerber

 

»Bemerkenswerth sind die Schicksale meines Großvaters«, fuhr der junge Student in seiner Erzählung fort, »nicht in so hohem Grade; es beteiligte sich dabei kein Heiliger, vielleicht nur deshalb nicht, weil mein Großvater in seinem rechtgläubigen Vaterlande nicht verblieb, sondern früh schon auswanderte, und zwar in die Lande eines ketzerischen Fürsten, wo er sein Glück zu machen gedachte. Es ist demütigend für mich, den Enkel, zu berichten, daß nicht der hohe Wuchs seines Stammbaums, sondern sein eigner ihm die Ehre verschaffte, in die Dienste Seiner Majestät des Königs von Preußen zu treten. Die Werbeoffiziere, die ihn schon gleich an der Grenze bewillkommneten, führten ihn wie im Triumph nach Berlin, und mein Großvater rechtfertigte diesen Stolz; denn er war der zweite nach dem Flügelmann in der Potsdamer Garde und hieß der Grenadier Zerber. Sein spanisch dunkelglühendes Auge und sein echt kastilianisch lockiges, rabenschwarzes Haar verschwanden beide, das erstere unter dem Schatten einer kolossalen, turmhohen, giebelförmigen Blechkaskette, das andere unter dem Mehlstaub, mit dem der Regimentsfriseur es einpuderte. Aber so ganz muß das Auge seinen exotischen Glanz doch nicht haben verstecken lassen; denn meine Großmutter entdeckte die beaux restes dieses Feuers und fand es noch wirksam genug, um sich daran zu verbrennen. Meine Großmutter war eine kleine muntre Französin, die ebenfalls eingewandert war und, aus einer guten hugenottischen Familie stammend, in dem damaligen barbarischen Berlin eine Putzhandlung etabliert hatte und es wagte, mitten unter den kriegerischen Söhnen Teuts und den wilden Töchtern Thusneldas Florhäubchen zu verkaufen und Pariser Schleier feilzubieten. Der damalige französische Gesandte war ihr gnädigster Schutzherr und Patron; dies konnte jedoch nicht verhindern, daß Mademoiselle Zepherine öfters brutale Angriffe und Störungen in ihrem kleinen Florhäubchenhandel zu ertragen hatte. Deshalb sah sie sich nach einem wirksamern Beschützer um, als es Seine Exzellenz derzeit sein konnte. Als sie eines Tages mit ihren Pappschachteln nach Potsdam fuhr, um der bürgerlichen Haushaltung Friedrich Wilhelms des Ersten einen kleinen Begriff von Pariser Eleganz beizubringen, gelangte sie zum Unglück im Palaste an, als eben die Pastoralchaise des frommen FranckeAugust Hermann Francke (1663-1727), der pietistische Gegner des Aufklärers Christian Wolf, der von Friedrich Wilhelm I. aus dem Lande gewiesen wurde. Darauf spielt Sternberg an. in den Hof fuhr. Nie hatte das Schicksal ein fataleres Zusammentreffen herbeigeführt. Der König, der aus dem Fenster sah, gewahrte zu gleicher Zeit den Prediger und die Putzmacherin und, indigniert über dieses heterogene Paar, gab er Befehl, die letztere aus dem Schloßhof zu werfen. Die jungen Prinzessinnen, die hinter dem Vater standen, blickten sich achselzuckend und schmerzvoll lächelnd an, aber sie wagten keine Fürbitte. Mit Bedauern sahen sie die teuern Pappschachteln, diese Pandorenbüchsen der weiblichen Eitelkeit, unter den Bäumen des Schloßhofs, aus deren Schatten sie aufgetaucht waren, wieder verschwinden, während der Pastor siegreich die Treppe hinanstieg und nicht einmal einen flüchtigen Blick auf seine geschlagene Rivalin zurücksandte. Unter dem rohen Hofgesinde angelangt, erfuhr meine arme Großmutter einige Beleidigungen, die sie zwangen, Hilfe zu suchen. Aus dem niedrigen Fenster der Wachtstube streckte sich, als der Lärm am stärksten war, langsam eine weiße Quaste, dann der Giebel einer Grenadiermütze, endlich der darauf befindliche preußische Adler heraus, bis ganz zuletzt, als die turmhohe Kopfbekleidung im Freien war, der Kopf selbst, nebst dem Gesicht zum Vorschein kam und – hier war der große Moment, wo meine Großmutter zum erstenmal meinen Großvater sah. Der Grenadier Zerber gebot Ruhe, und sogleich ließ der Mückenschwarm der Peiniger von der Bedrängten ab. Meine Großmutter dankte, aber der Grenadier schien auf keinen Dank gerechnet zu haben. Langsam verschwand wieder der teure Kopf, indem zuerst der nachtschwarze Schnurrbart untertauchte, dann die Augen – und in diese sah die unvorsichtige Putzmacherin zu scharf und zu lange – und das übrige folgte dann ganz langsam, so wie es gekommen war, und nur die wollne Quaste spielte noch wie ein Häuflein zusammengerollten Schnees eine kleine Weile auf der Steineinfassung des Wachtfensters. Dieses Zusammentreffen hatte seine Folgen. Potsdam ist nicht weit von Berlin, und wäre es auch hundertmal weiter gewesen, meine Großmutter hätte den Weg dahin gefunden. Sie entdeckte auf einmal, daß sie zwei Kusinen und einen lahmen Vetter in Potsdam hatte. Diese achtbaren Personnagen, von denen der letztere ein ehrlicher Seifensieder war, befanden sich schon lange in der Stadt, aber die hochmütige Zepherine, die Modistin von Paris, in deren Laden der französische Gesandte vorsprach, die die Ehre hatte, von Seiner Exzellenz nie bezahlt zu werden, hatte es unter ihrer Würde gefunden, die armen Verwandten zu beachten. Jetzt plötzlich erhielten die Kusinen Spitzenhäubchen, und dem Vetter wurde seine grüne Potsdamer Seife, eine teuflische Komposition, die nach Schwefel und Thymian roch, in großen Quantitäten von den eleganten Offizieren der Potsdamer Garde abgekauft. Der ehrliche Seifensieder, der nie erriet, welchen möglichen Zusammenhang die Schicksale einer Putzmacherin mit denen eines Offiziers der Garde haben können, dankte in der frommen Weise seiner Väter Gott für diese Gnade und hielt sie für eine Belohnung, die sein treues Hugenottentum verdient habe. Die Wohnung des Seifensieders war der Kaserne gegenüber, und es gab Augenblicke, wo Mademoiselle Zepherine schwach genug war, wie eine kleine verliebte Närrin am Fenster zu sitzen, um auf das Erscheinen eines hübschen Augenpaares und stattlichen Bartes zu harren, die nie lange auf sich warten ließen. Die Unterhandlungen, Dank sei es den beiden Kusinen, gediehen bald zur Reife. Als meine Großmutter zum erstenmal auch den Körper meines Großvaters sah; denn bis jetzt hatte sie wenig mehr als den Kopf gesehn, rief sie, entsetzt über die ungeheure Größe des Grenadiers, aus: »Mein Himmel, gehört das alles zu einem Manne?« Er lag auf einer Bank im Wachtzimmer und schlief, als die Putzmacherin, geführt von den beiden Kusinen, sich leise hereinschlich. Ein Schirm sollte den Schläfer verbergen, aber dessen Haupt und Füße ragten auf beiden Seiten hervor.

Ehe indessen die kleine Psyche ihren kolossalen Amor heimführte, hatten beide noch Hindernisse zu besiegen. Während der Liebeshandel noch im Gang war, starb der König, und das glänzende Gestirn Friedrichs des Zweiten begann seinen strahlenwerfenden Gang. Die Straßen des damaligen Berlin bevölkerten sich mit vornehmen Franzosen, die aus ihren parfümierten Taschen Epigramme und Bonbons herausschleuderten, die erstern für die pedantischen deutschen Gelehrten der Akademie, die letztern für die hübschen französischen Tänzerinnen der Oper. Im kleinen Hofstübchen der Mademoiselle Zepherine, in diesem Stübchen, in dem zwei Sofas und ein Spiegel, ein unerhörter Luxus für die damaligen Zeiten, sich befanden, versammelten sich die schönen Geister, die zur Mission erhalten hatten, im Lande der Sarmaten den Geist zu predigen und die Sitten flüssiger zu machen.

Hier schlürfte d'Argens seine erste Tasse Kaffee am Ufer der trüben Spree, auf einem dieser Sofas verschlief La Mettrie die erste Indigestion, die er sich durch ein Trüffelkompott an der königlichen Tafel zugezogen. Hier ließ Voltaire zum ersten Male einen feinen französischen Eisbiskuit auf seiner Lippe zerschmelzen, indem er zugleich auf seinen Freund Maupertuis ein Epigramm machte, und hier setzte sich der arme und ehrliche d'Alembert nieder, um, abgewendet von den lärmenden Gästen, über die Briefe der Marquise von Tencin, seiner nichtswürdigen Mutter, zu weinen, die ihn verstieß und dem Hungertode preisgab, als er unberühmt war, und die ihn jetzt mit tausend Schmeicheleien aufsuchte, da er einen berühmten Namen sich erworben.

Der sitzend dargestellte Kavalier ist Voltaire (1694-1778). Er wohnte von 1750-1752 als Gast des Königs in Potsdam, mußte aber gehen, als er gegen Maupertuis (1698-1759), den Präsidenten der Berliner Akademie, eine Satire, den »Doktor Akakia«, richtete. Der Marquis d'Argens (1704-1771), ein witziger Freigeist, wurde 1744 von Friedrich dem Großen zum Direktor der philosophischen Klasse der Berliner Akademie ernannt. Der Zyniker La Mettrie (1709-1751) suchte durch sein Werk »L'homme machine« (1748) die Lehre Descartes', daß die Tiere lebendige Automaten, Maschinen ohne Seelen seien, auf den Menschen auszudehnen. Friedrich hat eine Lobrede auf La Mettrie verfaßt. Mit Diderot gab d'Alembert (1717-1783), der nicht zur Übersiedlung an den preußischen Hof zu bewegen war, in Paris das Riesenwerk der »Enzyklopädie« heraus. Er ist auf S. 40, aus der zerbrochenen Kutsche steigend, abgebildet. In den »Erinnerungsblättern« (Erster Teil. 1855. S. 95) berichtet Sternberg, daß er sich in Stuttgart, um nicht von der Tagespolitik belästigt zu werden, einmal wieder in die französischen Schriftsteller des 18. Jahrhunderts vertiefte: »Ich las von neuem Diderot, Voltaire, Lafontaine, Gresset, Crébillon und viele andere.«

Von diesem d'Alembert habe ich jetzt zu erzählen. Er war nur ungern an den Hof Friedrichs gekommen. Er konnte nicht wie Voltaire die Verse des Königs in dessen Angesicht loben, um sie hinter seinem Rücken zu tadeln, und zudem erschreckte ihn das eiserne Heldenzepter. Er war gewohnt, nur sanfte Gefühle in seinem edeln weichen Herzen zu hegen. Das Unglück hatte ihn leidend gemacht, und als das Glück sich später herabließ, ihn aufzusuchen, nahm er seine Gunstbezeigungen mit der Miene des geprüften Mannes an, der da weiß, wie wenig das Lächeln der Gunst die dürstende Seele des Weisen zu laben vermag. Das Ansehen, in welchem er beim Könige stand, hatte den Neid eines deutschen Gelehrten, eines Magisters Okolampadius, eines eingebildeten und hochmütigen Pedanten rege gemacht, der eine Schmähschrift auf ihn verfertigte, die das edle Herz d'Alemberts besonders heftig berührte, weil sie jene trüben Verhältnisse mit seiner Mutter der Welt aufdeckte. Der ehrenwerte Magister übte die saubere Art Polemik aus, die immerdar, und selbst von den Ökolampadiussen unserer Zeit angewendet wird, den Gegner, den sie auf dem Feld der Wissenschaften nicht angreifen können oder mögen, mit den vergifteten Pfeilen einer klatschhaften und verleumderischen Medisance zu Boden zu werfen. Der Haß, den die Deutschen gegen die französischen Günstlinge hegten, machte, daß das Pamphlet rasch herumkam und seine Wirkung äußerte. – D'Alembert schwieg. Einige Monate nach dem Erscheinen des Pasquills geriet der Magister Ökolampadius in bedauernswerte Umstände. Er und seine Familie, in die drückendste Armut versetzt, waren nahe daran, dem Elend und der Schande preisgegeben zu werden. Eine ziemlich bedeutende Summe war erforderlich, sie zu retten. Die Freunde d'Alemberts erzählten ihm, in der Meinung, ihn die Gerechtigkeit des Schicksals darin sehen zu lassen, das Unglück seines Feindes, aber sie hatten ihre Berechnung falsch gestellt. D'Alembert dachte daran, wie er den Magister retten könne. Der edle Fremdling, der es verschmäht hatte, in dem Lande, das ihn gastfreundlich aufgenommen, sich zu bereichern, der, unähnlich seinen Landesgenossen, die Geschenke des Königs hartnäckig zurückgewiesen hatte, befand sich nicht im Besitz der Summe, die hier nötig war. Dennoch mußte in der Eile Rat geschafft werden. Er hatte von einem Manne gehört, der das Gewerbe eines Barbiers trieb, unter diesem Deckmantel aber auf Pfänder lieh und bedeutende Wuchergeschäfte machte. Dieser Barbier war eine originelle Person, wie sie nur in dem damaligen Berlin existieren konnte. Er bewohnte in einer entlegenen Straße ein kleines Häuschen. In der Nähe dieses elenden, rasch aufgebauten und schon wieder in Trümmer fallenden Gebäudes sah man oft vornehme Herren in Mäntel gehüllt, die sich von einem Diener mit einer Fackel vorleuchten ließen, um nicht in eine der vielen Gruben der Straße zu fallen oder mit den im Dunkel herumschleichenden verdächtigen Gestalten, die dieses entlegene Viertel bewohnten, in allzunahe Berührung zu geraten. Selbst von Frauen wurde der Barbier besucht; sie kamen in schwarze Seidenmantillen gehüllt, mit Halblarven vor dem Gesicht, und schlüpften in einen besondern Eingang des verfallenen Häuschens. Oft hörte man um die Stunde der Mitternacht herum Degengeklirr und Hilferuf in dem benachbarten engen Gäßchen, aber nie öffnete sich bei solchen Vorfällen die Tür des Barbierladens; der Eigentümer mischte sich nicht in Händel, die ihn nichts angingen; erst wenn sehr vernehmlich an seine Hütte geklopft wurde, wenn die blutenden Köpfe und zerschmetterten Glieder ihm vorgewiesen wurden, kam er, aber immer sehr bedächtig, mit seinen Binden, Latwergen und Dekokten zu Hilfe. Meister Picton genoß dennoch den Ruf eines sehr menschenfreundlichen Mannes, weil das Gesindel doch öfters Hilfe bei ihm fand und er hier und da einem armen Soldaten oder bankerotten Hausierer unentgeltlich den struppigen Bart abnahm; seine vornehmen Kunden aber nannten ihn nicht menschenfreundlich, sie belegten ihn vielmehr mit dem ganzen Register ihrer Flüche und Schimpfworte, weil seine unverschämten Wucherprozente die Kasse manches Kavaliers bis auf den Grund geleert hatten. In Wahrheit hätte Meister Picton ebensowenig Milde und Freundlichkeit gegen seine niedern Kunden geübt, aber er hatte die Allianz des Pöbels nötig, um seine Hütte vor Angriffen sicherzustellen.

Eines Tages, als sich in der Barbierstube des Meisters Picton grade niemand anders gegenwärtig befand als mein Großvater, der sich den Zopf einbinden und die Seitenlocken brennen ließ, ein Geschäft, das Meister Picton zierlicher verrichtete als der alte halbblinde Regimentsfriseur – und mein Großvater war, seitdem er Mademoiselle Zepherinens Aufmerksamkeit auf seine Person gelenkt, ganz besonders beflissen, einen schönen Zopf und zwei recht starr gepolsterte Löckchen an den Schläfen zur Schau zu tragen – wurde leise angeklopft und auf den Ruf: »Herein«, kam aus dem Dämmerlicht draußen ein feiner, nicht ganz junger Herr herein und grüßte den Barbier nachlässig, aber nicht unhöflich. Der Eigentümer des Ladens wußte, was er zu tun hatte, er ging auf den Eintretenden zu und fragte: ›Monsieur suchen französische Pomade?‹ – ›Ja, du Schurke‹, sagte der Gast in gebrochenem Deutsch, ›ich will dir von deiner verfluchten Pomade etwas abnehmen. Fürs erste sieh nach, ob ich mir nicht den Arm gebrochen habe. Mein Wagen zerbrach in diesen Satansgassen, und wie ich mich aus der Kutsche retten will, fall' ich gegen den Prellstein der Mauer!‹ – ›Ach, Monsieur sind frisch und gesund wie ein Gott!‹ rief der Barbier, der den Arm untersucht hatte. – ›Nun, so komm und laß uns unser Geschäft abmachen!‹

Sie verloren sich ins Seitenzimmer, dessen kleiner grüner Türvorhang sorgfältig zugezogen wurde, so daß mein Großvater, der neugierig war, zu erfahren, was der vornehme Herr, den er öfters in der Umgebung des Königs gesehn, mit dem Gevatter Picton zu verhandeln haben könne, in seiner Hoffnung zu lauschen getäuscht ward. Nach einer Weile kam der Gast wieder heraus, er sah verdrießlich und sogar betrübt aus und machte sich auf den Weg nach Hause. Als das letzte Bändchen in den Zopf geknüpft war, verließ auch mein Großvater die Barbierstube und sah nicht weit vom Häuschen den vornehmen Herrn, der unschlüssig, wohin er sich wenden sollte, auf einem vorragenden Ecksteine stand, wie eine Krähe am Meeresufer. ›Mein Freund‹, rief er meinem Großvater entgegen, ›ich sehe, du bist Grenadier bei der Garde des Königs, ohne Zweifel weißt du in dieser Gegend besser Bescheid wie ich; du hast gehört, daß mein Wagen zerbrochen ist, willst du wohl so gefällig sein und mir als Führer dienen, bis ich in bekannte Gegenden, in die Nähe des königlichen Schlosses komme?‹ ›Oh, mit Vergnügen, mein Herr‹, entgegnete mein Großvater, und beide gingen nun die enge kleine Gasse entlang. Auf diese Weise machte mein Großvater die Bekanntschaft d'Alemberts.

Während sie beide zusammengingen – und zwar einen sehr weiten Weg; denn um die vornehmen, verwöhnten Füße des Franzosen zu schonen, brachte ihn mein Großvater auf einem Umweg in bessere Straßen – erfuhr einer vom andern gerade so viel, daß einer für den andern sich lebhaft interessierte. Der vornehme Herr bekam meines Großvaters Liebesgeschichte zu hören und erzählte seinerseits wieder, daß es ihm um eine Geldsumme zu tun sei, die er nicht erhalten, und dies der Grund seines Besuches bei dem Barbier gewesen. Mein Großvater fragte, wie hoch sich diese Summe belaufe. Der Franzose nannte sie und fügte lächelnd hinzu: ›Wollt Ihr etwa mein Gläubiger werden, Grenadier?‹ – ›Ein Soldat des Königs hat wenig zu verleihen und zu verschenken‹, antwortete mein Großvater. ›Das einzige, was er besitzt, die Ehre, ist ihm um keinen Preis feil. Allein ich habe gute Freunde, und wenn diese mir beispringen und es mir gelingen sollte, Monseigneur einen Dienst zu erweisen‹ – hier bückte sich mein Großvater auf die ihm eigentümliche graziöse Weise – ›so wird niemand glücklicher sein als der arme Grenadier des Königs.‹ Der Franzose reichte ihm die kleine magere Hand, die von Spitzenmanschetten ganz eingehüllt war, und beide schieden in der Nähe des Schlosses voneinander, wie gute Freunde.

An dem Abend des nämlichen Tages hatte d'Alembert die Summe; mein Großvater hatte sie von seiner kleinen Putzmacherin geliehen. Den Tag darauf war der Magister Ökolampadius den Händen seiner Gläubiger entrissen, die schon im Begriff standen, wie Raubvögel über ihre Beute herzufallen.

Nie erfuhr der Magister, von wem die Hilfe kam. Man muß gestehn, dies ist eine ganz hübsche Art, auf eine Schmähschrift zu antworten!

Meinen Großvater erreichte aber nun das Mißgeschick. Schon war der Tag bestimmt, an dem seine Vermählung mit Mademoiselle Zepherine stattfinden sollte, als ein Befehl des jungen Königs publiziert wurde, in welchem es den Soldaten verboten wurde zu heiraten, weil man in nächster Frist dem Ausbruch des Kriegs entgegensah. Die Grenadiere des Königs waren von diesem Gesetz nicht ausgenommen. Welch ein Donnerschlag auf das Haupt meines armen Großvaters! Mademoiselle Zepherine vergoß Tränen, und Mademoiselle Zepherine Tränen vergießen zu sehen, war ein Anblick, den das steinerne Herz eines Tyrannen nicht würde ertragen haben. Mein Großvater ging zu seinem Chef und bat um dessen Fürsprache, wobei er nicht undeutlich merken ließ, daß seine Braut Gold besitze und gern bereit sei, einiges davon wegzugeben. Der Offizier war arm, aber ein Ehrenmann; er gab ein trocknes Nein und wandte dem Bittsteller den Rücken. Nun hätte zwar mein Großvater um den Abschied nachsuchen können, aber welcher Soldat, wenn er nur ein Fünkchen Ehre im Leibe hat, nimmt kurz vor dem Ausbruch eines Krieges den Abschied?

Jedes andere, nur dieses Mittel nicht, war mein Großvater imstande anzuwenden. So ging er denn eines Abends in Betrübnis in der Nähe des königlichen Schlosses, in dem sogenannten Lustgarten, der damals lange nicht ein so prachtvoll geschmückter Platz war wie jetzt, auf und ab. Es ward Nacht, und die Fenster des Schlosses wurden erleuchtet. Zufällig blickte der einsame Wanderer hinauf, und als er die geputzten Gestalten dort erscheinen sah, ging ihm der Gedanke an den vornehmen Franzosen durch den Kopf, dem er damals den Dienst geleistet. Das Geld hatte er längst wieder, die Geschichte war gleichsam vergessen; aber der Grenadier erinnerte sich noch, daß der Herr Marquis ihm gesagt hatte, wenn er in den Fall käme, etwas von ihm zu wünschen, so sollte er sich nur getrost an ihn wenden. Dieser Fall war noch nicht vorgekommen; jetzt aber war er da. Der Herr Marquis konnte helfen, wenn er wollte; er, der mit dem König immer zu Abend speiste, der mit ihm Bücher las und spazieren fuhr – ein so vornehmer Herr kann durch ein Wort, das er so im Gespräche hinwirft, eine Sache abmachen, die noch viel schwierigerer Natur war als die Heiratsangelegenheiten eines Grenadiers mit einer Putzmacherin. In wenigen Sprüngen war mein Großvater oben an der Treppe. Als einer von der alten Garde, die der vorige König so sehr begünstigt, die er seinem Nachfolger gleichsam ans Herz gelegt hatte, genoß er einige Vorteile; dazu kam es, daß er einen der Türsteher oben von alters her kannte, und so gelang es ihm denn, als die Türen des Thronsaales eben geöffnet wurden, als die Trompeter auf den Galerien ihren Tusch bliesen und paarweise die Prinzen und Prinzessinnen in den Saal schritten, so feierlich und mit so vielem Anstand, daß dem Grenadier das Herz im Leibe hüpfte, unter all dem goldstarrenden Volk auch den Marquis zu gewahren, der in eine Fensternische sich zurückgezogen hatte und still für sich, wie es seine Gewohnheit war, seine Brustbonbons naschte. Denn der edle Philosoph konnte das rauhe Klima von Berlin nicht gut vertragen und litt an einem bösartigen Husten. Mein Großvater erkannte sehr wohl, wie unpassend es war, hier seinem Manne die Bitte vorzutragen, allein morgen ging der Hof nach Sanssouci und d'Alembert nach Paris zurück. Zudem hatte er die arme Zepherine eben weinend verlassen und gedachte, ihr noch am heutigen Abend Trost zu bringen. So wartete er denn in seinem Schlupfwinkel geduldig, bis das Fest zu Ende ging und die Kutschen vorfuhren. Einer der ersten, die sich entfernten, war der kranke Marquis; er wurde von meinem Großvater geschickt aufgefangen. Auf einem Treppenabsatz erkannten und begrüßten sich die Freunde. Es soll eine recht herzliche Begrüßung gewesen sein. Die Folge eines langen Gesprächs war, daß Herr d'Alembert die Treppe, die er eben herabgekommen, wieder hinaufstieg und mein Großvater noch eine peinliche, ewig lange halbe Stunde bei dem Sergeanten der Schloßwache warten mußte. Endlich wurde er an den Schlag eines Wagens hinangerufen. Der Herr Marquis saß darin: ›Mein Freund‹, rief das blasse freundliche Männchen, ›ich wollte nicht den König und dieses Land verlassen, wo ich so ehrenvoll aufgenommen worden, ohne Grüße an meine Bekannten und Freunde in Berlin zu hinterlassen. Euch trag ich auf, Madame Zerber von mir zu grüßen.‹ – ›Madame Zerber!‹ rief mein Großvater, indem er das goldene Medusenhaupt, das das Türschloß des Wagens bildete, an sein Herz drückte – ›Madame Zerber! Also doch. O Monseigneur, ich danke Ihnen das Glück meines Lebens!‹ –

Mein Großvater haschte nach der kleinen, mit Spitzen umhüllten Hand, um sie zu küssen; aber sie zog sich zurück, der Wagenschlag wurde zugeworfen, und fort rasselte der vergoldete Wagen über das Pflaster des innern Hofs.

Die Freunde sahen sich nie wieder.

Zwei Tage darauf erhielt mein Großvater die königliche Erlaubnis, und noch an dem nämlichen Abend führte er meine Großmutter heim.«


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