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Sie hatte nun alles für den Künstler bereitet, und es war kein Vorwand zu längerem Bleiben mehr aufzufinden. Sie entschloß sich also zum Gehen und bat ihn, die Dienerschaft zu rufen, wenn er irgend etwas wünschen sollte. Sie schied traurig und ließ Trauer zurück, denn sie nahm allen Sonnenschein mit hinweg. Die Zeit schlich für beide schwerfällig dahin. Er konnte nicht malen, weil er nur an sie dachte; sie konnte nicht mit Lust zeichnen oder schneidern, weil sie nur an ihn dachte. Niemals war ihm das Malen so geistlos vorgekommen; niemals war das Schneidern so ohne jedes Interesse für sie gewesen. Sie hatte ihn verlassen, ohne die Einladung zum Mittagessen zu wiederholen – für ihn eine fast unerträgliche Enttäuschung. Sie ihrerseits litt auch, denn sie fand, sie konnte ihn nicht einladen. Gestern war es nicht schwer, heute war es unmöglich. Tausend unschuldige Vorrechte schienen ihr in den letzten vierundzwanzig Stunden unvermutet entrissen worden zu sein. Sie fühlte sich heute gefesselt, in ihrer Freiheit beschränkt. Sie konnte den Entschluß nicht fassen, irgend etwas auf diesen jungen Mann Bezügliches zu sagen oder zu tun, ohne sich augenblicklich gelähmt zu fühlen durch die Furcht, »er könnte ahnen«. Ihn heute zu Tische einladen? Sie zitterte, wenn sie nur daran dachte. Und so war ihr Nachmittag ein einziges, nur in langen Zwischenräumen unterbrochenes Sehnen. Dreimal mußte sie die Treppe hinuntergehen, um etwas zu holen – das heißt, sie glaubte, sie müsse deshalb hinuntergehen. So im Kommen und Gehen genoß sie zusammengenommen sechsmal seinen Anblick, anscheinend ohne nach ihm hinzusehen, und sie bemühte sich, diese elektrischen Ekstasen über sich ergehen zu lassen, ohne irgendein Zeichen von sich zu geben; aber sie verwirrten sie doch sehr und sie fühlte, daß die Unbefangenheit, die sie zur Schau trug, übertrieben war und viel zu wahnsinnig nüchtern und zu hysterisch ruhig, um täuschen zu können. – Dem Maler wurde auch sein Teil an der Wonne, er hatte auch sechsmal den Anblick Gwendolinens, und dieses Glück drang in hohen Wogen auf ihn ein, die ihn erfaßten, ihn mit Entzücken überströmten und das Bewußtsein dessen, was er mit seinem Pinsel vornahm, ganz und gar ertränkten. Es waren daher auf seiner Leinwand sechs Stellen, die wieder und wieder übermalt werden mußten.
Zuletzt fand Gwendolin einigen Frieden dadurch, daß sie den Tompsons in der Nachbarschaft sagen ließ, sie werde zu ihnen zum Mittagessen kommen. Sie wollte an diesem Tisch nicht daran erinnert sein, daß es einen Abwesenden gab, der ein Anwesender hätte sein sollen – wegen dieses letztem Wortes nahm sie sich vor, in einer ruhigeren Stunde das Wörterbuch zu befragen.
Ungefähr um diese Zeit kam der Lord zu einer kleinen Plauderei in das Zimmer des Künstlers und lud ihn ein, zum Mittagessen zu bleiben. Tracy unterdrückte seine Freude und Dankbarkeit durch eine gewaltsame Anstrengung aller seiner Kräfte; er fühlte, daß nun, wo er in Gwendolinens Nähe sein und während mehrerer köstlicher Stunden ihre Stimme hören und ihr Gesicht beobachten durfte, die Erde seinem Leben nichts Wertvolles mehr zu bieten habe.
Der Lord sagte sich: »Dieses Gespenst kann, wie es scheint, Apfel essen. Wir werden ja sehen, ob das eine Spezialität ist, ich halte es dafür. Ohne Zweifel bilden Äpfel die gespenstische Grenze. Es war ja auch der Fall mit unsern ersten Eltern. Nein, ich habe unrecht – wenigstens nur teilweise recht; die Grenzlinie war zwar durch die Äpfel gezogen, ganz wie in dem gegenwärtigen Fall, aber in der andern Richtung.«
Die neuen Kleider machten ihn in freudigem Stolz und Schrecken erzittern. Er sagte sich: »Ich habe doch jedenfalls einen Teil von ihm schon bis auf heute gebracht.«
Sellers erklärte sich mit Tracys Arbeit sehr einverstanden; er forderte ihn auf, die alten Meister sämtlich zu restaurieren, und sagte, er werde ihn auch bitten, sein Porträt, das seiner Frau und möglicherweise auch das seiner Tochter zu malen. Des Künstlers Glückseligkeit hatte den höchsten Stand der Flut erreicht. Das Gespräch floß auf das angenehmste dahin, während Tracy malte und Sellers sorgfältig ein Bild auspackte, welches er mitgebracht hatte. Es war ein neues, eben erschienenes Chromo, das selbstgefällig schmunzelnde Porträt eines Mannes, der die Union mit Ankündigungen überschwemmte, um zum Ankauf seiner Spezialitäten – eines Drei-Dollar-Schuhes, eines Anzugs oder dergleichen einzuladen. Der alte Herr hielt das Bild auf seinem Schoß, blickte es zärtlich an und wurde still und nachdenklich. Tracy bemerkte sogar, daß seine Tränen darauf fielen. Das erregte des jungen Mannes Sympathie und verursachte ihm zugleich das heimliche Gefühl, als ob er sich, indem er Gemütsbewegungen beobachtete, von dem kein Fremder Zeuge sein sollte, in ein heiliges Geheimnis eindrängte. Aber sein Mitgefühl war stärker als diese Bedenken und zwang ihn zu dem Versuch, den alten Mann durch teilnehmende Worte und einen Beweis freundschaftlichen Interesses zu trösten. Er sagte:
»Es tut mir leid zu – ist das ein Freund, den – –«
»Ach, mehr als das, weit mehr – ein Verwandter, der teuerste, den ich auf Erden hatte, obgleich es mir nie vergönnt war, ihn zu sehen. Ja, es ist der junge Lord Berkeley, der den Heldentod fand bei der schrecklichen Feuersbr– – nun, was ist Ihnen?«
»O nichts, gar nichts. Es war mir nur so überraschend, plötzlich eine Person von Angesicht zu sehen, von der man so viel hat reden hören. Ist das Bild ähnlich?«
»Ohne Zweifel. Ich habe ihn nie gesehen, aber man kann die Ähnlichkeit mit seinem Vater leicht erkennen,« sagte Sellers, das Chromo in die Höhe haltend und mit dem Ausdruck vollster Zustimmung von demselben zu dem angeblichen Porträt des usurpierenden Lords und wieder zurückblickend.
»Nun, ich kann nicht sagen, daß ich die Ähnlichkeit herausfinde. Es ist doch nicht zu leugnen, daß der Lord-Usurpator viel charaktervollere Züge und ein langes Gesicht, wie das eines Pferdes, hat, während das seines Erben ein ausdrucksloses Vollmondsgesicht ist.«
»Wir sehen alle zuerst so aus – die ganze Linie,« sagte Sellers, unbeirrt durch den Einwurf. »Wir beginnen alle als vollmondgesichtige Narren, und später kaulquappen wir uns in Wunder von Geist und Charakter mit Pferdegesichtern um. Gerade an diesem Zeichen und dieser Tatsache erkenne ich die Ähnlichkeit und weiß, daß dieses Bild echt und gut ist. Ja, wir alle in der Familie sind zuerst Narren.«
»Dieser junge Mann scheint wenigstens den erblichen Anforderungen zu entsprechen.«
»Ja, ja; er war ein Narr, ohne Zweifel. Sehen Sie nur das Gesicht genau an, die Form des Kopfes, den Ausdruck. Es ist der ganze Narr, Narr durch und durch.«
»Ich danke,« sagte Tracy unwillkürlich.
»Sie danken?«
»Ja, dafür, daß Sie es mir erklärten. Bitte fahren Sie fort.«
»Wie ich also sagte, der Narr steht ihm auf dem Gesicht geschrieben. Man kann sogar noch die Einzelheiten lesen.«
»Was sagen diese?«
»Nun, alles zusammen genommen, ist er ein Wackler.«
»Ein Was?«
»Ein Wackler. Ein Mensch, der in einer oder der andern Sache einen festen Standpunkt einnimmt – eine Art Gibraltar-Standpunkt, seiner Meinung nach, von unerschütterlicher Treue und ewiger Dauer – und dann nach kurzer Zeit beginnt er zu schwanken, kein Gibraltar mehr, nein, mein Herr, ein ganz gewöhnliches, schwächliches Umherwackeln auf Stelzen. Das ist Lord Berkeley bis aufs Tüpfelchen, Sie können es selbst sehen; betrachten Sie nur das Schafsgesicht. Aber Sie erröten ja wie der Himmel bei Sonnenuntergang. Bester Herr, habe ich Sie durch irgend etwas unwissentlich beleidigt?«
»O nein, durchaus nicht, gewiß nicht. Ich erröte nur immer, wenn ich einen Mann sein eignes Blut herabsehen höre.« Er fügte für sich hinzu: »Wie merkwürdig hat seine unstet umherirrende Einbildung die Wahrheit getroffen. Ganz zufällig hat er mich geschildert. Ich bin dieses verächtliche Wesen. Als ich England verließ, glaubte ich mich zu kennen, ich meinte ein Friedrich der Große an Entschlossenheit und Fähigkeiten zu sein, während ich in Wahrheit ein Wackler, nur ein Wackler bin. Nun, bei alledem ist es wenigstens ehrenvoll, hohe Ideale zu haben und erhabene Entschlüsse zu fassen; diesen Trost will ich mir gestatten.« – Dann sagte er laut: »Könnte dieses Schafsgesicht, wie Sie es nennen, wohl in seinem kleinen Gehirn einen großen, selbstverleugnenden Gedanken nähren? Glauben Sie das? Könnte er zum Beispiel einen Plan hegen, wie das Aufgeben seiner Grafenkrone, des Reichtums und des Glanzes, und freiwilliges Zurücktreten in die Reihen der bürgerlichen Gesellschaft wählen, um dort durch sein eignes Verdienst zu steigen, oder für immer arm und verborgen zu bleiben?«
»Ob er das könnte? Sehen Sie dieses einfältig lächelnde, selbstgefällige Gesicht an, da steht Ihre Antwort! Das ist es gerade, woran er denken würde; und er würde auch den Anfang dazu machen.«
»Und dann?«
»Würde er wackeln.«
»Und zurücktreten?«
»Sicherlich.«
»Wird das mit allen meinen – ich meine, wird das mit allen seinen Entschließungen der Fall sein?«
»O gewiß, gewiß. Das ist eben die Roßmore-Eigenschaft.«
»Dann war es ein Glück, daß der junge Mann starb. Nehmen wir, nur um die Frage weiter zu erörtern, an, ich wäre ein Roßmore und – –«
»Das geht nicht an.«
»Warum nicht?«
»Weil das gar kein annehmbarer Fall ist. In Ihrem Alter – wenn Sie ein Roßmore wären – müßten Sie ein Narr sein, und Sie sind kein Narr. Sie müßten auch ein Wackler sein, während doch ein erfahrener Mann auf den ersten Blick sehen kann, daß, wenn Sie Ihren Fuß einmal irgend wohin sehen, er da bleibt und ein Erdbeben ihn nicht zum Wackeln bringt.« Bei sich fügte er hinzu: »Das ist für ihn genug gesagt, aber es ist tatsächlich nicht die Hälfte stark genug. Je mehr ich ihn beobachte, desto bemerkenswerter finde ich ihn. Er hat das ausdrucksvollste Gesicht, das ich noch je gesehen habe; es liegt eine fast übermenschliche Festigkeit darin, ein unerschütterlicher Vorsatz, eine eiserne Willenskraft. Ein ganz außergewöhnlicher junger Mann.«
Gleich darauf sagte er laut:
»Ich möchte Sie noch um Ihren Rat in einer kleinen Angelegenheit bitten, Mister Tracy. Sie müssen wissen, daß ich die irdischen Überreste des jungen Lords – aber du meine Güte, wie Sie zusammenschrecken!«
»Oh, es ist nichts, fahren Sie nur fort. Sie haben seine Überreste?«
»Ja.«
»Sie sind sicher, daß es die seinigen und nicht die eines andern sind?«
»Oh, ganz sicher. Proben meine ich, nicht das Ganze.«
»Proben?«
»Ja, in Körben. Einmal werden Sie doch wieder in die Heimat reisen, und wenn Sie sich entschließen könnten, sie mitzunehmen – –«
»Wer? Ich?«
»Ja gewiß. Ich meine nicht jetzt; aber nach einiger Zeit, nachdem – möchten Sie sie wohl sehen?«
»Nein, gewiß nicht. Ich wünsche durchaus nicht, sie zu sehen.«
»Oh, ganz gut; ich dachte nur – ah – wohin gehst du, meine Liebe?«
»Ich gehe zum Mittagessen aus.«
Tracy war tödlich erschrocken. Der Oberst sagte in verdrießlichem Ton:
»Das tut mir leid. Ich wußte nicht, daß sie auszugehen beabsichtigte, Mister Tracy.«
Gwendolinens Züge nahmen den Ausdruck des Bangens an, als wollte sie sagen: »Was habe ich getan?«
»Drei alte Leute zu einem jungen Herrn, das ist kein gutes Gespann, das muß ich sagen.«
Jetzt verriet Gwendolinens Gesicht das Aufdämmern einer Hoffnung, und sie sagte in einem Ton, der widerstrebend klingen sollte, aber nicht echt erschien:
»Wenn du es wünschest, will ich Tompsons sagen lassen – –«
»Oh, handelt es sich um Tompsons? Das vereinfacht die Sache und bringt alles wieder in Ordnung. Wir können es nun einrichten, ohne deine Pläne zu stören, mein Kind. Dein Herz hängt daran, zu – – –«
»Aber Papa, ich kann ebensogut einen andern –«
»Nein, das will ich nicht. Du bist ein liebes, gutes, fleißiges Kind, und dein Vater ist nicht der Mann, dir etwas zu versagen, wenn du – –«
»Aber, Papa, ich – –«
»Geh nur, ich will kein Wort weiter hören. Wir werden schon auskommen, meine Liebe.«
Gwendolin war nahe daran, vor Verdruß zu weinen, aber es blieb ihr nun nichts übrig, als sich aufzumachen, was sie eben tun wollte, als ihr Vater auf einen Gedanken verfiel, der ihn mit Entzücken erfüllte, weil er so geschickt alle Schwierigkeiten der Lage löste und die Sache glatt und befriedigend machte.
»Ich hab' es, meine Liebe, du sollst nicht um deinen Feiertag kommen, und zu gleicher Zeit werden wir uns hier auch ganz angenehm einrichten. Schicke also Bella Tompson hierher – ein sehr schönes Geschöpf, Tracy, eine vollkommene Schönheit, Sie müssen das Mädchen sehen, Sie werden toll, ganz toll, gleich in der ersten Minute. – Du schickst sie also gleich hierher, Gwendolin, und sagst ihr – ei, sie ist schon fort.« – Er drehte sich um, da ging sie schon zum Tor hinaus. Er murmelte vor sich hin:
»Ich möchte wohl wissen, was da los ist. Was ihr Mund tat, weiß ich nicht, aber mir schien, ihre Schultern waren heftig erzürnt.«
»Ich gestehe,« sagte Sellers hierauf zu Tracy, »ich werde sie vermissen; Eltern vermissen ihre Kinder immer, sowie sie ihnen aus dem Gesicht sind; es ist dies nur eine weise, der Weltordnung vollkommen angemessene Parteilichkeit. Aber für Sie ist gesorgt, da Miß Bella das jugendliche Element vertreten wird, und wir alten Leute werden unser möglichstes tun. Wir werden uns ganz angenehm unterhalten; Sie haben Gelegenheit, mit General Hawkins näher bekannt zu werden. Das ist ein seltener Charakter, Mr. Tracy, einer der seltensten und einnehmendsten Charaktere, welche die Welt je hervorgebracht hat. Sie werden es der Mühe wert finden, ihn zu studieren. Ich habe ihn von seiner Kindheit an studiert und ihn immer in fortschreitender Entwicklung begriffen gefunden. Das lebhafte Interesse, welches ich immer für diesen Knaben und die verwirrende Unergründlichkeit seiner Gewohnheiten und Eingebungen fühlte, hat mich, wie ich glaube, hauptsächlich dazu befähigt, die schwierige Wissenschaft des Charakterlesens zu beherrschen.«
Tracy hörte von alledem nicht ein Wort. Seine Stimmung war eine verzweifelte.
»Ja, ein ganz wundervoller Charakter. Verschlossenheit ist seine Grundlage. Das erste, was man zu tun hat, ist immer, den Grundstein aufzusuchen, auf den der Charakter eines Mannes gebaut ist – nur wenn man diesen gefunden hat, durchschaut man den Menschen. Keine abweichenden und scheinbar widersinnigen Einzelheiten können einen dann noch betrügen. Was lesen Sie auf des Senators Oberfläche? Einfachheit, eine stark hervortretende, etwas rauhe Einfachheit, während doch tatsächlich sein Geist einer der tiefsten ist. Ein durchaus redlicher Mensch, – ein unbedingt redlicher und ehrenwerter Mensch und doch ohne Zweifel der größte Meister in der Verstellungskunst, den die Welt gesehen hat.«
»Oh, es ist teuflisch.« – Diese Worte wurden dem gar nicht zuhörenden Tracy durch den quälenden Gedanken erpreßt, was hätte geschehen können, wenn die Einrichtungen für die beiden Mittagessen nicht in Verwirrung geraten wären.
»Nein, so kann man es nicht nennen,« sagte Sellers, der mit den Händen unter den Rockschößen gemächlich im Zimmer auf und ab ging und mit Wohlgefallen auf seine eignen Worte lauschte. »Man könnte es bei einem andern Mann mit Recht teuflisch nennen, aber nicht bei dem Senator. Ihr Ausdruck ist richtig, ganz richtig – das gebe ich zu – aber die Anwendung ist falsch. Das macht einen großen Unterschied. Ja, er ist ein wundersamer Charakter. Ich glaube nicht, daß noch irgendein andrer Staatsmann einen so gewaltigen Sinn für Humor und zugleich die Fähigkeit besitzt, ihn zu verbergen. Ich kann höchstens George Washington und Cromwell ausnehmen, vielleicht auch Robespierre, aber hier ziehe ich die Grenzlinie. Eine unerfahrene Person könnte lebenslang in Senator Hawkins Gesellschaft sein und doch nie mehr Humor an ihm entdecken, als an einem Friedhof.«
Einem tiefen, ellenlangen Seufzer des zerstreuten Künstlers folgte der Ausruf:
»Oh, wie elend, wie elend!«
»Nun, das möchte ich doch nicht sagen. Im Gegenteil, ich bewundere seine Geschicklichkeit, den Humor zu verbergen, fast noch mehr als die Gabe selbst, so bedeutend sie auch ist. Aber noch eins – General Hawkins ist ein Denker – ein logisch scharfer, erschöpfend analysierender Denker – vielleicht der fähigste unsrer Zeit; natürlich in Themen, die seiner Bedeutung entsprechen, wie die Eiszeit, die Wechselbeziehungen der Kräfte oder die Entwicklung des Schmetterlings aus der Raupe, irgend etwas dergleichen. Geben Sie ihm ein Thema, das seiner Größe angemessen ist, dann ziehen Sie sich zurück und beobachten Sie sein Denken! Man kann das Haus dabei wanken sehen. Ach ja, Sie müssen ihn kennen, müssen sein Inneres ergründen lernen. Er ist vielleicht der außergewöhnlichste Geist nach Aristoteles.«
Man wartete mit dem Mittagessen eine Weile auf Miß Tompson, aber da Gwendolin ihr die Einladung nicht ausgerichtet hatte, half das Warten nichts, und die Hausgenossen gingen endlich ohne sie zu Tische. Der arme alte Sellers versuchte alles, was sein gastfreundlicher Sinn nur erdenken konnte, um das Mahl zu einem angenehmen für den Gast zu machen, und dieser tat redlich das seinige, um des alten Herrn willen fröhlich und gesprächig zu erscheinen; in der Tat, alle Anwesenden arbeiteten eifrig im Interesse der Unterhaltung, aber die ganze Sache war von Anfang an eine verfehlte. Tracys Herz lag wie Blei in seiner Brust, er sah nur einen hervortretenden Zug in der Landschaft, den leeren Platz; er konnte seine Gedanken nicht von Gwendolin und seinem Mißgeschick abwenden. Demzufolge ließ seine Zerstreutheit immer wieder peinliche Pausen dann entstehen, wenn es an ihm gewesen wäre, etwas zu sagen; und dieses Übel verbreitete sich über die ganze Unterhaltung; deshalb, anstatt sich einer lustigen Bootfahrt auf sonnbeschienenen Gewässern zu erfreuen, fühlte sich jeder bedrückt und sehnte sich nach dem Landen. Was konnte nur geschehen sein? Tracy allein hätte das sagen können, die andern konnten es nicht einmal ahnen.
Zu derselben Zeit verbrachte man ähnliche trübe Stunden im Tompsonschen Hause; es war in der Tat eine Zwillingserscheinung. Gwendolin schämte sich ihrer selbst, daß ihre Stimmung in diesem Grad durch ihre vereitelte Hoffnung niedergedrückt und sie so tief unglücklich war, aber das Gefühl der Beschämung machte die Sache nicht besser, es schien nur das Leiden zu erhöhen. Sie erklärte, sie fühle sich nicht ganz wohl, und jedermann sah, daß das wahr war; deshalb fand sie Teilnahme und aufrichtiges Bedauern, aber das war von keiner Wirkung. In einem solchen Fall gibt es keine Hilfe. Es ist am besten, die Wunde ausbluten zu lassen. Sobald das Mittagessen vorüber war, entschuldigte sich das junge Mädchen; sie eilte nach Hause und fühlte sich unaussprechlich dankbar, aus diesem Hause und der unerträglichen Gefangenschaft hinwegzukommen.
»Wird er schon fort sein?« Dieser Gedanke entstand in ihrem Kopf, wirkte aber auf ihre Füße. Sie glitt in das Haus, warf Hut und Mantel ab und ging direkt nach dem Speisezimmer. Sie blieb an der Türe stehen und lauschte. Ihres Vaters Stimme hörte sie – sie schien ohne Leben; dann die ihrer Mutter, ebenso leblos; eine beträchtliche Pause folgte, dann eine langweilige Bemerkung Hawkins. Wieder Schweigen und dann nicht Tracys, sondern nochmals ihres Vaters Stimme.
»Er ist nicht mehr hier,« sagte sie sich voller Verzweiflung, öffnete langsam die Tür und trat ein.
»Aber, mein Kind,« rief die Mutter, »wie blaß du bist! Bist du – ist irgend etwas – –«
»Blaß?« rief Sellers aus, »das ging blitzschnell vorüber und war nicht von Bedeutung. Jetzt ist sie so rot wie eine aufgeschnittene Wassermelone. Setze dich, meine Liebe, setze dich! Gott weiß, wie sehr du uns willkommen bist. Hast du dich gut unterhalten? Wir haben hier brillante Unterhaltung gehabt. Weshalb kam Miß Bella nicht? Mr. Tracy fühlt sich nicht ganz wohl, und sie hätte ihn das vergessen machen.«
Nun war sie zufrieden, und aus ihren glückstrahlenden Augen leuchtete ein Licht, das einem andern Augenpaar ein Geheimnis verriet und ein gleiches dafür in Empfang nahm. In dem unendlich kleinen Bruchteil einer Sekunde wurden diese beiden Geständnisse abgelegt, angenommen und vollkommen verstanden. Alle Ungewißheit, Angst und Furcht verschwand aus den Herzen dieser jungen Leute, und sie waren nur von tiefem Frieden erfüllt. Sellers hatte sich der Hoffnung hingegeben, daß durch die neue Verstärkung der Sieg noch im letzten Augenblick errungen und die drohende gänzliche Niederlage abgewendet werden würde, aber das erwies sich als ein Irrtum. Das Gespräch blieb mit derselben Hartnäckigkeit wie zuvor ein abgerissenes. Er war so stolz auf Gwendolin und stellte sie gern in den Vordergrund, selbst gegen Bella Tompson; dazu hatte sich eine gute Gelegenheit geboten, und was hatte sie daraus gemacht? Er fühlte sich verstimmt; es ärgerte ihn, zu denken, daß dieser Engländer mit der den reisenden Briten von jeher eignen Neigung, ganze Bergketten nach einzelnen Sandkörnern zu beurteilen, nun zu dem Schluß gelangen werde, die amerikanischen Mädchen seien so stumm wie er selbst – die ganze Klasse nach dieser einzelnen Probe generalisierend. Und sie mußte gerade in ihrer ungünstigsten Stimmung sein, so daß nichts an diesem Tisch sie begeistern, ihr einen Aufschwung geben und sie vom Einschlafen abhalten konnte. Er nahm sich vor, daß er zur Ehre des Landes diese beiden nächstens wieder am gastlichen Tisch zusammenbringen wolle. Ein andres Mal, so nahm er an, würde ein besseres Ergebnis zu gewinnen sein. Er sagte sich mit dem Gefühl des Gekränktseins:
»Er wird es in sein Tagebuch schreiben – sie führen ja alle Tagebücher – er wird in sein Tagebuch schreiben, daß sie wunderbar uninteressant war – ja, war sie es etwa nicht? Ich habe sie nie so gesehen – und dabei sah sie schön aus, schön wie Satan, und schien nichts andres tun zu können, als mit Brotkrumen zu spielen, Blumen zu zerpflücken und sich unruhig hin und her zu bewegen. Und hier im Empfangszimmer ist es nicht besser; ich habe nun genug und streiche die Segel; die andern mögen es ausfechten, wenn sie Lust haben.«
Er schüttelte allen ringsherum die Hände und ging, um eine Arbeit zu verrichten, die, wie er sagte, dringend war. Die Götzendiener waren durch die Breite des Zimmers voneinander getrennt und anscheinend sich ihrer beider Gegenwart nicht bewußt. Die Entfernung verringerte sich ein wenig; die Mutter zog sich bald zurück. Die Entfernung wurde wieder geringer; Tracy stand vor dem Bild eines Politikers aus Ohio, welcher retuschiert und bepanzert und in einen kreuzfahrenden Roßmore umgeschaffen war, und Gwendolin saß auf dem Sofa, kaum Armeslänge davon, heuchlerisch vertieft in Betrachtung eines Photographiealbums, in dem keine Photographien waren.
Der Senator zögerte noch. Die jungen Leute taten ihm leid, es war ein langweiliger Abend für sie gewesen. In seiner Herzensgüte versuchte er, es ihnen angenehm zu machen, bemühte er sich, den ungünstigen Eindruck zu verwischen, der durch die allgemeine Niederlage notwendig hinterlassen worden; bemühte sich, gesprächig, ja sogar heiter zu sein. Aber die Antworten fielen schwach aus, es war kein Leben und kein Schwung zu erzielen, er wollte es aufgeben und davongehen – es war ein Tag, der für Mißerfolge ganz besonders ausgesucht und bestimmt schien. Aber als Gwendolin schnell aufstand und mit einem liebenswürdigen Lächeln voller Dankbarkeit sagte: »Müssen Sie wirklich gehen« – da schien es doch grausam, zu desertieren, und er setzte sich wieder.
Er war im Begriff, eine Bemerkung zu machen, als – er es nicht tat. – Das ist uns allen schon passiert. Er wußte nicht, wie es ihm auf einmal einfiel, daß sein längeres Bleiben doch ein Fehler gewesen war, aber er sah es jetzt ein, und das mit Sicherheit. So sagte er gute Nacht und ging nachdenklich hinaus, nicht recht begreifend, was er getan hatte, um die Atmosphäre in dieser Weise zu verändern. Als die Tür sich hinter ihm schloß, standen die beiden nebeneinander und sahen nach dieser Tür – sahen nach ihr wartend, die Sekunden zählend, aber mit dankerfüllten Blicken. Und in dem Augenblick, als sie sich schloß, sanken sie einander in die Arme, und da – Herz an Herz und Mund an Mund – –
»O mein Gott, sie küßt Es!«
Niemand hörte diesen Ausruf, weil Hawkins, von dem er kam, ihn nur dachte, nicht äußerte. Er hatte sich umgedreht, als er die Tür schloß, und sie ein wenig wieder geöffnet, in der Absicht, nochmals einzutreten und zu fragen, was er Unpassendes gesagt oder getan habe, und sich zu entschuldigen. Aber er trat nicht wieder ein; er schwankte betroffen, erschrocken, entsetzt davon.