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14

An diesem Abend legte sich Tracy in glücklicher Stimmung nieder, seinem Innern war die Ruhe wiedergegeben. Daß er sich zu einem hohen Wagnis aufgerafft hatte, so sagte er sich, machte ihm Ehre; er hatte den Kampf nach besten Kräften geführt, wenn man die sich ihm entgegenstellenden Hindernisse in Anschlag brachte – das war wieder zu seiner Ehre; – er war besiegt worden – das war gewiß nichts Ehrenrühriges. Da er nun besiegt war, hatte er das Recht, sich mit kriegerischen Ehren zurückzuziehen und ohne jedes Vorurteil zu der Stellung in der Welt zurückzukehren, für die er geboren war. Warum sollte er das nicht tun? Selbst der streng republikanische Stuhlflechter würde es tun. Ja, sein Gewissen war wieder frei. Er erwachte erfrischt und glücklich und sehr begierig auf sein Kabeltelegramm. Er war als Aristokrat geboren, war eine Zeitlang Demokrat gewesen und war jetzt wieder Aristokrat. Er entdeckte mit Erstaunen, daß diese letzte Veränderung nicht eine bloß geistige war, sie hatte sein ganzes Empfinden eingenommen, und er war ebenfalls erstaunt darüber, daß dieses Empfinden viel weniger erkünstelt war als irgendeines, das er seit langer Zeit genährt hatte. Er hätte auch bemerken können – wenn er daran gedacht hätte – daß seine Haltung steifer geworden war, und daß er das Kinn um eine Linie höher trug. Als er im Erdgeschoß angekommen und im Begriff war, in das Frühstückszimmer zu treten, sah er den alten Marsh in einer dunkeln Ecke des Flurs stehen und ihm mit dem Finger winken. Das Blut stieg langsam in Tracys Wangen, und er sagte mit einem beinahe herzoglichen Grad von Würde:

»Gilt das mir?«

»Ja.«

»Was soll das heißen?«

»Ich möchte mit Ihnen sprechen – aber im geheimen.«

»Dieser Platz ist mir geheim genug.«

Marsh war überrascht, und zwar nicht angenehm; er trat näher und sagte:

»Nun also öffentlich, wenn Sie's vorziehen, obgleich das sonst meine Art nicht ist.«

Die Kostgänger traten näher heran und merkten auf.

»Sprechen Sie,« sagte Tracy. »Was wollen Sie?«

»Haben Sie nicht – hm – etwas vergessen?«

»Ich? – Ich bin mir nichts bewußt.«

»So? Wirklich nicht? Warten Sie einen Augenblick und denken Sie nach.«

»Ich will weder warten noch nachdenken, es interessiert mich nicht. Wenn es Sie interessiert, so reden Sie.«

»Nun also,« sagte Marsh, die Stimme zornig erhebend, »Sie haben vergessen, gestern Ihr Kostgeld zu bezahlen – da Sie es denn durchaus öffentlich gesagt haben wollen.«

Jawohl; dieser Erbe einer halben Million jährlicher Einkünfte hatte geträumt und geschwärmt und die erbärmlichen drei oder vier Dollar vergessen. Zur Strafe mußte er sich das nun gröblich ins Gesicht sagen lassen in Gegenwart dieser Leute, in deren Zügen bereits eine boshafte Freude über das Vorkommnis zu lesen war.

»Weiter nichts? Da haben Sie Ihr Geld, und seien Sie nun beruhigt.«

Tracy griff mit zorniger Entschiedenheit in die Tasche, aber er zog die Hand nicht wieder heraus. Die Farbe wich aus seinen Wangen. Die Gesichter um ihn her zeigten wachsendes Interesse, zum Teil auch erhöhte Befriedigung. Es entstand eine unbehagliche Pause, dann stieß Tracy mit Anstrengung die Worte heraus: »Ich bin – bestohlen.«

Die Augen des alten Marsh flammten in spanischem Feuer, und er rief aus:

»Bestohlen, so? Pfeift der Wind aus diesem Loch? Nee, das ist eine zu alte Leier, die ist in diesem Hause schon zu oft gespielt worden; man hört sie von allen denen, die keine Arbeit bekommen können, oder nicht arbeiten wollen, wenn sie welche bekommen könnten. Bringe doch jemand Mr. Allen her, der wird sie wohl auch anstimmen; jetzt kommt nämlich er dran, er hat's gestern auch vergessen. Ich warte mit Sehnsucht auf ihn.« Eine von den Negerfrauen kam die Treppe heruntergepoltert, vor Aufregung und Schrecken blaß in der Farbe eines hellbraunen Pferdes.

»Mista Marsh, Mista Allen is ausgerissen.«

»Was?«

»Ja, Herre, und ausgeleert sein Zimmer – nahm beide Handtücher und Seif.«

»Du lügst, Alte!«

»'s is so, ja, 's is so; und Mista Sumers Socken is fort und Mista Naylors Hemd.«

Mr. Marsh geriet nun in Siedehitze. Er wendete sich wieder zu Tracy:

»Antworten Sie – wann denken Sie zu bezahlen?«

»Heute noch, da Sie es so eilig zu haben scheinen.«

»Heute, wirklich? Sonntag – und Sie ohne Arbeit? Das gefällt mir. Ei, wo wollen Sie denn das Geld herbekommen?«

Tracys Aufregung stieg wieder.

»Ich erwarte eine Depesche von zu Hause.«

Diesmal war der alte Marsh vor Überraschung völlig verblüfft. Der Einfall war so ungeheuerlich, daß er erst gar nicht zu Atem kommen konnte. Als er wieder zu reden imstande war, sagte er mit beißendem Hohn:

»Ein Kabelgramm – denkt nur, meine Damen und Herren, er erwartet ein Kabelgramm; dieser Lump, dieser Betrüger. Von seinem Vater – eh? Ja, ohne Zweifel. Einen oder zwei Dollar das Wort – oh – das ist ja gar nichts. Diese Sorte hält sich nicht bei solchen Kleinigkeiten auf. Der Vater eines solchen Burschen gewiß nicht. – Nun sein Vater ist – eh – ich denke, sein Vater – –«

»Mein Vater ist ein englischer Lord.«

Die ganze versammelte Gruppe fuhr entsetzt zurück, entsetzt über die Frechheit der Finte. Dann brachen alle in ein Gelächter aus, das die Fenster klirren machte. Tracy war viel zu zornig, um einzusehen, daß er etwas Törichtes getan hatte. Er sagte:

»Bitte, lassen Sie mich durch; ich – –«

»Warten Sie einen Augenblick, edler Lord,« sagte Marsh mit einer tiefen Verbeugung; »wohin gehen Euer Gnaden?«

»Nach dem Telegraphenamt; lassen Sie mich durch.«

»Entschuldigen Sie, Mylord, Sie werden hübsch bleiben, wo Sie sind.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Ich will damit sagen, daß ich nicht erst seit gestern ein Kosthaus halte; ich will damit sagen, daß ich mich nicht von jedem Fuhrmannssohn anführen lasse, der hier herüberkommt, weil er zu Hause kein Brot verdienen kann. Ich will damit sagen, daß Sie mir nicht entwischen werden auf eine so – –«

Tracy trat einen Schritt auf den alten Mann zu, aber Mrs. Marsh sprang dazwischen und sagte:

»Lassen Sie ihn, Mr. Tracy, bitte!« Dann wendete sie sich zu ihrem Mann und sagte:

»Halte deine Zunge im Zaum. Was hat er denn getan, um so behandelt zu werden? Kannst du nicht sehen, daß er vor Angst und Verzweiflung wie von Sinnen ist? Er ist nicht zurechnungsfähig.«

»Ich danke Ihrem guten Herzen, Madame, aber ich bin nicht von Sinnen, und wenn man mich nur zum Telegraphenbureau gehen –«

»Nein, Sie gehen nicht!« rief Marsh.

»– oder schicken ließe –«

»Schicken! Es wird immer besser. Ob wohl jemand dumm genug wäre, einen so lächerlichen Auftrag zu übernehmen.«

»Hier kommt Mr. Barrow – er wird für mich gehen. Barrow – –«

Ein Schnellfeuer von Ausrufen brach aus:

»Wissen Sie schon, Barrow, er erwartet ein Kabelgramm von seinem Vater.«

»Ja – ein Kabelgramm von der Wachsfigur.«

»Und denken Sie, Barrow, dieser Bursche ist ein Graf – nehmen Sie doch den Hut ab.«

»Ja, er ist so schnell von zu Hause fort, daß er seine Krone vergessen hat, die er Sonntags gewöhnlich trägt. Nun hat er seinem Pappi gekabelt, daß er sie ihm schicken soll.«

»Sie müssen gehen und das Kabelgramm holen, Barrow, Seine Majestät ist heute ein bißchen lahm.«

»Oh, seid doch ruhig!« rief Barrow. »Laßt doch den Mann reden.« Er wendete sich zu Tracy und sagte streng:

»Tracy, was haben Sie für Unsinn geredet, was ist's mit Ihnen? Sie sollten doch verständiger sein.«

»Ich habe keinen Unsinn geredet, und wenn Sie nach dem Telegraphenamt gehen wollten – –«

»Oh, reden Sie doch nicht so. Ich bin Ihr Freund im Glück und im Leid, ins Gesicht und hinter Ihrem Rücken, in allem, was vernünftig ist, aber Sie haben den Kopf verloren, und diese Faselei von einem Kabelgramm – –«

»Ich will hingehen und danach fragen.«

»Ich danke Ihnen von ganzem Herzen, Brady. Hier haben Sie einen schriftlichen Auftrag dazu. Laufen Sie nun und holen Sie es. Wir werden bald sehen.«

Brady lief. Augenblicklich trat jene Ruhe in der Menge ein, die das Aufsteigen von Zweifeln bedeutete und in die Worte übertragen werden könnte:

»Vielleicht erwartet er doch ein Kabelgramm; – es ist doch möglich, daß er irgendwo einen Vater hat; am Ende sind wir doch ein bißchen zu frech gewesen und ein bißchen zu voreilig.«

Das laute Sprechen legte sich, dann erstarb auch das Murmeln und Flüstern. Die Gruppen lösten sich auf, die einzelnen Teile derselben gingen zu zweien und dreien nach dem Frühstückstisch. Barrow wollte Tracy zum Hereinkommen veranlassen, aber dieser sagte:

»Noch nicht, Barrow – nachher.«

Mrs. Marsh und Hattie versuchten dasselbe zu erreichen mit freundlichem, gütigem Zureden, aber er sagte: »Ich möchte lieber warten – bis er kommt.« Selbst der alte Marsh fing an, unsicher darüber zu werden, ob er nicht eine Kleinigkeit zu »rauhbeinig« gewesen sei, wie er es in der Verschwiegenheit seiner Seele nannte, und er nahm sich zusammen und ging mit einem einladenden Blick auf Tracy zu; dieser aber wehrte ihn mit einer bestimmten und sehr beredten Handbewegung ab. Dann folgte die stillste Viertelstunde, die in diesem Hause zu dieser Tageszeit je erlebt worden war. Es war so still und feierlich, daß, wenn jemand die Tasse aus der Hand gleiten und auf dem Teller aufstoßen liest, alle vor Schrecken zusammenfuhren und der schrille Klang so unpassend und unzeitig erschien, als wenn man einen Sarg und ein Trauergeleite erwartet hätte. Als nun endlich Bradys Füße die Treppe heruntergepoltert kamen, empfand man das wie eine Entweihung. Jedermann stand leise auf und schaute nach der Tür, wo Tracy stand, dann rückten alle einen oder zwei Schritte in dieser Richtung vor und blieben wieder auf Kommando stehen. Während sie gespannt warteten, kam Brady außer Atem und legte in Tracys Hand – wahrhaftig – ein Kuvert. Tracys Augen richteten sich mit triumphierendem Blick auf die Zuschauer, bis einer nach dem andern die seinen besiegt und verlegen niederschlug. Dann riß er das Kuvert auf und las die Botschaft. Das gelbe Papier entfiel seiner Hand und flatterte auf den Boden. Sein Gesicht aber wurde totenbleich. Es stand nichts darin als:

»Dank.«

Der Spaßmacher des Hauses, der lange, grobknochige Billy Nash aus den Schiffswerften, stand im Hintergrunde der Gruppe. Mitten in das Schweigen hinein, das jetzt herrschte und manches Herz zur Teilnahme bewegte, fing er an zu jammern, dann hielt er sein Taschentuch vor die Augen, barg sein Gesicht an der Schulter des schüchternsten jungen Mannes der ganzen Gesellschaft, eines Schmieds aus den Schiffswerften, und schrie: »Oh – Pappi – wie konntest du nur das tun!« – und fing nun an zu plärren wie ein zahnendes Kind, wenn man sich ein Kind mit der Kraft und der wüsten Stimme eines Esels vorstellen kann.

So treffend war die Nachahmung des Kindergeschreis und so reich an Tönen und so lächerlich der Anblick des Darstellers, daß aller Ernst wie von einem Sturmwind hinweggefegt war und fast jeder in das tobende Gelächter einstimmte, das die Komödie hervorrief. Dann begann der niedere Pöbel sich für das Unbehagen und die Besorgnis zu rächen, die er vorhin wegen seiner derben Keckheit empfunden hatte, er neckte das arme Opfer, hetzte und quälte es, wie die Hunde es mit einer in den Winkel getriebenen Katze machen. Das Opfer antwortete mit Drohungen und Herausforderungen, die allen zugleich galten und dem Spiel nur neues Leben und Veränderung verschafften; als er aber seine Taktik änderte und einzelne Individuen bezeichnete und bei Namen nannte, verlor der Spaß das Unterhaltende, und das Interesse an dem ganzen Auftritt ließ nach zugleich mit dem Lärm.

Schließlich war Marsh gewillt wieder loszulegen, aber Barrow sagte:

»Genug nun – lassen Sie ihn gehen. Sie haben nur eine Geldangelegenheit mit ihm abzumachen; die werde ich selbst in die Hand nehmen.«

Die betrübte und angsterfüllte Wirtin warf Barrow einen dankbaren Blick zu für sein ritterliches Benehmen gegen den so übel behandelten Fremden, und der Liebling des Hauses, in ihrem einfachen, aber kleidsamen Sonntagsanzug eine wahre Augenweide, warf ihm mit den Fingerspitzen eine Kußhand zu und sagte mit dem süßesten Lächeln: »Sie sind doch der einzige wahre Mann hier, und ich habe es von nun an auf Sie abgesehen, Sie lieber, guter Mensch.«

»Aber schäme dich doch, Puß; wie du redest! Sah man jemals so ein Kind?«

Es war viel Überredungskunst nötig, um Tracy nur mit dem Gedanken an das Frühstück vertraut zu machen. Zuerst erklärte er, er werde überhaupt nie mehr in diesem Hause essen, und er hoffe, er besitze Charakterfestigkeit genug, um lieber männlich zu verhungern, als mit dem Brote zugleich Beleidigungen hinunterzuschlucken.

Als er mit dem Frühstück fertig war, nahm ihn Barrow mit in sein Zimmer, gab ihm eine Pfeife und sagte heiter:

»Nun, alter Junge, ziehen Sie die Kriegsfahne ein, Sie sind nicht mehr im feindlichen Lager. Daß Sie durch Ihre Sorgen ein wenig aufgeregt sind, ist ganz natürlich, aber lassen Sie Ihre Gedanken nicht mehr dabei verweilen, als durchaus nötig ist, ziehen Sie dieselben ab von Ihren Kümmernissen – an den Ohren, an den Fersen, oder wie Sie sonst wollen; das ist das Gesündeste, was ein Mensch tun kann. Das Brüten über den Sorgen ist tödlich, geradezu tödlich – und das ist noch der zarteste Ausdruck dafür. Sie müssen Ihre Gedanken aufheitern – jawohl, das müssen Sie!«

»Oh, ich Unglücklicher!«

»Nein, sagen Sie das nicht; das klingt ja wahrhaftig nach einem gebrochenen Herzen! Es ist, wie ich sage, Sie müssen geradenwegs darauf ausgehen, sich zu erheitern, als ob das das einzige Ziel wäre.«

»Das ist leicht gesagt, Barrow, aber wie soll ich ein Gemüt zerstreuen, erheitern, vergnügen, das sich plötzlich angefallen und überwältigt sieht von einem Mißgeschick, von dem es nie geträumt hat und auf das es nicht vorbereitet war? Nein, nein, schon der bloße Gedanke an Erheiterung ist meinem Gefühl zuwider. Lassen Sie uns von Tod und Begräbnis reden.«

»Nein – noch nicht. Das hieße das Schiff aufgeben, wir wollen es aber noch nicht verloren geben. Ich will Sie erheitern. Ich schickte Brady fort nach dem Material dazu, ehe Sie noch mit dem Frühstück zu Ende waren.«

»Das taten Sie? Was ist es denn?«

»Ah, Neugierde! Das ist ein gutes Zeichen. Es ist also noch Hoffnung vorhanden.«


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