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Ein kleiner Schauder überlief Washington bei diesem Vorschlag; sein Gesicht nahm einen träumerischen Ausdruck an, und er verfiel in tiefes Sinnen. Nach einer kleinen Weile fragte ihn Sellers, was er denn in der Mühle seines Geistes mahle.
»Ungefähr das: Hast du irgendeinen geheimen Plan im Kopfe, der zu seinem Gelingen den Rückhalt einer englischen Bank nötig hat?«
Der Oberst zeigte lebhaftes Erstaunen und sagte:
»Hawkins, bist du Gedankenleser?«
»Ich? Ich habe nie an so etwas gedacht.«
»Aber wie verfielst du auf den Gedanken und in dieser ungewöhnlichen Art? Das ist doch geradezu Gedankenlesen, wenn du es auch nicht weißt. Denn ich habe einen Plan, der eine englische Bank hinter sich haben muß. Wie aber konntest du das erraten? Welches war der dabei beobachtete Prozeß? Das ist interessant.«
»Es war gar kein Prozeß. Ganz zufällig kam mir der Gedanke, welche Summe wir beide ungefähr zu behaglichem Leben brauchen würden. Hunderttausend vielleicht. Doch du erwartest, daß zwei oder drei deiner Erfindungen einige Billionen einbringen, und du rechnest darauf, daß sie es tun. Wenn du zehn Millionen wünschest, das könnte ich begreifen, das liegt innerhalb der Grenzen menschlicher Wünsche; aber Billionen liegen entschieden außerhalb derselben. Dahinter muß irgendein bestimmter Plan stecken.«
Das Erstaunen des Lords und sein Interesse wuchsen mit jedem Wort, und als Hawkins zu Ende war, sagte er mit aufrichtiger Bewunderung:
»Das heißt wundervoll ausklügeln und urteilen, Washington; gewiß, das ist es, und es verrät das, was ich einen außerordentlichen Scharfsinn nenne. Denn du hast ins Schwarze, in den Mittelpunkt getroffen und den Kern meines Traumes entdeckt. Nun will ich dir alles sagen, und du wirst es verstehen. Ich brauche dich nicht darum zu bitten, es für dich zu behalten, du wirst selbst einsehen, daß das Unternehmen um so besser gefördert wird, je verborgener es bis zur passenden Zeit erhalten wird. Hast du bemerkt, wie viele auf Rußland bezügliche Bücher und Broschüren ich hier herumliegen habe?«
»Jawohl, ich denke, das müßte jeder bemerkt haben, – jeder, der nicht stumpfsinnig ist.«
»Nun, ich habe mich schon seit langer Zeit damit beschäftigt. Das ist eine große, herrliche Nation und verdient, befreit zu werden.«
Er hielt inne und fügte dann in ganz geschäftsmäßigem Ton hinzu: »Wenn ich jenes Geld erhalte, werde ich sie befreien.«
»Potz Bomben und Granaten!«
»Nun, weshalb springst du so in die Höhe?«
»Nun, meiner Treu, wenn du eine Bemerkung unter jemands Stuhl fallen läßt, die ihn möglicherweise zum Dach hinaus in die Luft sprengt, solltest du doch etwas mehr Ausdruck, Kraft und Geräusch dabei anwenden, damit er vorbereitet werde. Eine so riesenhafte Sache solltest du nicht in so farbloser Weise herausbringen. Das erschreckt einen zu sehr. Doch nun fahre fort, ich habe mich wieder gefaßt. Sage mir alles; ich bin voller Interesse und auch voller Sympathie.«
»Also, ich habe den Gegenstand studiert und bin zu dem Schlusse gekommen, daß die Methode der russischen Patrioten, zwar gut genug, wenn man bedenkt, wie sehr die Jungen eingeengt sind, doch nicht die beste und jedenfalls nicht die am schnellsten wirkende ist. Sie versuchen, Rußland von innen heraus zu revolutionieren, das ist ein langsamer Prozeß, wie du weißt, jederzeit Unterbrechungen ausgesetzt und voller Gefahren für die Beteiligten. Weißt du, wie Peter der Große seine Armee zusammenbrachte? Er sammelte sie nicht im Gebiet des Hauses, unter der Nase der Strelitzen; nein, er sammelte sie draußen in der Ferne, im geheimen, ein Regiment, und darauf baute er weiter. Als die Strelitzen das erste Wort davon erfuhren, war das Regiment schon eine Armee, ihre Stellung war umzingelt, und sie mußten spazierengehen. Gerade dieser kleine Anfang schuf den größten und schlimmsten Despotismus, den die Welt je gesehen hat. Derselbe Gedanke kann ihn wieder vernichten. Ich werde das beweisen. Ich beabsichtige nur von seitwärts zu arbeiten und meinen Plan durchzuführen, wie Peter den seinigen.«
»Das ist ungeheuer interessant, Roßmore; was willst du nun zuerst tun?«
»Ich denke Sibirien zu kaufen und dort eine Republik zu gründen.«
»Da – bum – gehst du wieder drauflos, ohne einen zu warnen! – Du willst es kaufen?«
»Ja, sobald ich das Geld bekomme. Es ist mir gleich, welches der Preis dafür ist, ich nehme es. Ich kann es anwenden und will es. Jetzt beachte dies, und du hast noch nie daran gedacht, darauf will ich wetten – welches ist der Ort, an dem es zwanzigmal mehr Männlichkeit, Mut, wahren Heldensinn, Selbstlosigkeit, Hingebung an hohe Ideale, Verehrung für die Freiheit, umfassende Erziehung und Geist gibt, auf das Tausend der Bevölkerung gerechnet, als jedes andre Gebiet der Welt aufweisen kann?«
»Sibirien.«
»Richtig.«
»Das ist wahr, ist gewiß wahr, aber ich habe bisher noch nie daran gedacht.«
»Niemand denkt daran, aber es ist so, ganz so. In diesen Minen und Gefängnissen sind die besten und edelsten menschlichen Wesen, die Gott je geschaffen hat, in Massen zusammengedrängt; wenn du nun eine solche Bevölkerung zu vergeben hättest, würdest du sie dem Despotismus anbieten? Nein, der Despotismus kann sie nicht brauchen, du würdest Geld dabei verlieren. Der Despotismus kann nur menschliches Vieh brauchen. Aber angenommen, du wolltest eine Republik gründen?«
»Ja, ich verstehe, das wäre gerade das Material dazu.«
»Das will ich meinen. Sibirien liefert das schönste und ausgesuchteste Material für eine Republik, und es kommt dessen immer mehr dazu, immer mehr mit der Zeit, siehst du das nicht ein? Es wird täglich, wöchentlich, monatlich rekrutiert durch das bestersonnene System, das jemals erfunden worden ist. Vermittels dieses Systems werden alle die hundert Millionen Rußlands fortwährend sorgfältig durchgesiebt, untersucht durch Myriaden gut geschulter Sachverständiger, durch Spione, die vom Kaiser selbst bestimmt werden, und sobald sie einen Mann, eine Frau oder ein Kind fangen, in denen sich Geist oder Erziehung oder Charakter vorfindet, so schiffen sie diese Person direkt nach Sibirien ein. Es ist bewundernswert, wundervoll eingerichtet; es ist so ausgesucht und wirkungsvoll, daß es den allgemeinen Standpunkt der russischen Intelligenz und Erziehung herabdrückt auf den des Durchschnittsbeamten.«
»Das klingt wie Übertreibung.«
»Sie behaupten es wenigstens. Aber ich selbst halte es für eine Lüge. Es will mir auch nicht recht erscheinen, eine ganze Nation auf diese Art zu verleumden. Aber was das Material für eine Republik betrifft, das ist nur in Sibirien zu haben.« – Er hielt inne, und seine Brust hob sich, seine Augen brannten unter dem Einfluß einer heftigen inneren Bewegung.
Die Worte strömten ihm nun mit immer zunehmender Energie feurig von den Lippen, und er sprang auf, wie um größere Freiheit zu gewinnen.
»So wie ich die Republik organisiere, wird das Licht der Freiheit, der Intelligenz, der Gerechtigkeit und Menschlichkeit, das daraus hervorbricht, flammt und flutet, die Blicke der ganzen erstaunten Welt, wie das Wunder einer neuen Sonne, auf sich ziehen. Rußlands zahllose Mengen von Sklaven werden aufstehen und vorrücken, immer ostwärts vorrücken, während jenes große Licht ihr Angesicht verwandelt; und weit hinter ihnen wird man sehen – was wird man sehen? – Einen leeren Thron in einem verlassenen Lande! Das kann erreicht werden, und bei Gott, ich will es.«
Einen Augenblick lang war er durch seine Begeisterung wie alles irdischen Bewußtseins beraubt; dann kam ihm mit einem leichten Erschrecken die Besinnung wieder, und er sagte mit großem Ernst:
»Ich muß dich um Vergebung bitten, Major Hawkins, ich habe noch nie solche Ausdrücke gebraucht, und ich hoffe, du wirft mir dies verzeihen.«
Hawkins war gern bereit dazu.
»Du weißt, Washington, daß ich von Natur zu solchen Übergriffen nicht geneigt bin. Nur leicht erregbare, impulsive Menschen sind denselben ausgesetzt. Aber die Umstände des vorliegenden Falles – daß ich der Geburt und Neigung nach Demokrat, nach Abstammung und Geschmack aber Aristokrat bin –«
Der Lord hielt plötzlich inne; er stand unbeweglich, starrte sprachlos durch die gardinenlosen Fenster nach der Straße und stieß das eine leidenschaftlich betonte Wort heraus:
»Sieh!«
»Was gibt es, Oberst?«
»Es!«
»Nein!«
»So gewiß du lebst. Halte dich ganz still. Ich will meinen Einfluß anwenden, meine ganze Kraft brauchen. Ich habe Es so weit gebracht, nun werde ich Es auch in das Haus hereinbringen, du wirst es sehen.«
Er machte allerhand Bewegungen mit den Händen in der Luft.
»Da sieh! Ich habe Es zum Lächeln gebracht.«
Das war richtig. Tracy, der einen Nachmittagsspaziergang machte, war unerwartet auf sein Familienwappen gestoßen, das an der Vorderseite dieses schäbigen Hauses aufgehängt war. Die Schilder brachten ihn zum Lachen, das war natürlich; dasselbe hatten sie bei den nachbarlichen Katzen bewirkt.
»Sieh, Hawkins, sieh! Ich ziehe Es herein!«
»Du ziehst Es ganz gewiß herbei, Roßware. Wenn ich noch irgendeinen Zweifel in bezug auf die Materialisierung hegte, nun ist er entschwunden, und zwar für immer. Oh, das ist ein freudenvoller Tag!«
Tracy überschritt die Straße, um das Türschild zu lesen; ehe er noch die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, sagte er sich:
»Das ist augenscheinlich das Quartier des amerikanischen Prätendenten.«
»Es kommt, kommt gerade herüber. Ich werde mich hinausschleichen und Es hereinziehen. Komm du mir nach.«
Sellers, der bleich und sehr erregt war, öffnete die Tür und stand Tracy gegenüber. Der alte Mann konnte im ersten Augenblick seiner Stimme nicht gebieten; dann stotterte er eine abgerissene, kaum verständliche Begrüßung hervor und setzte hinzu:
»Treten Sie näher, kommen Sie herein, Mr. – –«
»Tracy, Howard Tracy.«
»– – Tracy – ich danke; bitte, treten Sie ein, Sie sind erwartet.«
Tracy trat ein, ohne sich das alles erklären zu können, und sagte:
»Erwartet? Das muß wohl ein Irrtum sein.«
»Oh, das glaube ich nicht,« sagte Sellers, der, als er sah, daß Hawkins ihm nachgekommen war, diesem einen Seitenblick zuwarf, der seine Aufmerksamkeit auf den seiner nächsten Bemerkung folgenden dramatischen Effekt lenken sollte. Dann sagte er:
»Ich bin – Sie wissen wer.« –
Zum Erstaunen der beiden Verschworenen brachte diese Bemerkung durchaus keinen dramatischen Effekt hervor, denn der Ankömmling erwiderte mit der unbefangensten und unschuldigsten Miene:
»Nein, verzeihen Sie, ich weiß nicht, wer Sie sind. Ich vermute nur – und ohne Zweifel mit Recht – daß Sie der Herr sind, dessen Titel auf dem Türschild steht.«
»Richtig, ganz richtig; setzen Sie sich, bitte, setzen Sie sich.«
Der Lord war erschüttert, aus der Fassung gebracht, sein Kopf wirbelte. Dann bemerkte er, daß der etwas abseits stehende Hawkins mit starren, verdutzten Blicken den ansah, der für ihn die Erscheinung eines Verstorbenen war. Das brachte den Lord auf einen neuen Gedanken, und er sagte lebhaft zu Tracy:
»Aber ich bitte tausendmal um Vergebung, bester Herr, ich vergesse die den Gästen und Fremden schuldige Höflichkeit. Lassen Sie mich Ihnen meinen Freund General Hawkins vorstellen – General Hawkins, unser neuer Senator – Senator in der neuesten und großartigsten Errungenschaft in der glänzenden Reihe der souveränen Staaten – Cherokee-Strip (bei sich: ›dieser Name wird ihn mürbe machen‹ – aber das tat er nicht im geringsten, und der Oberst nahm die Vorstellung wieder auf, ebenso erstaunt als entmutigt) – Senator Hawkins, Mr. Howard Tracy aus – ahem –?«
»England.«
»England! Aber das ist un– –«
»Ja, gebürtig aus England.«
»Kürzlich erst von dort gekommen?«
»Ja, erst kürzlich.«
»Dieses Gespenst,« sagte der Oberst bei sich, »lügt wie gedruckt. Diese Art ist durch Feuer nicht zu reinigen. Ich will ihn noch etwas genauer ausforschen und ihm Gelegenheit geben, seine Gabe zu verwenden.« Dann sagte er laut:
»Sie besuchen unser Land ohne Zweifel zur Erholung und Unterhaltung. Ich vermute, daß Sie das Reisen in den majestätischen Gefilden des fernen Westens –«
»Ich bin nicht im Westen gewesen und habe mich nicht ausschließlich dem Vergnügen hingegeben, das versichere ich Ihnen. In der Tat, um leben zu können, muß der Künstler arbeiten, nicht spielen.«
»Künstler,« sagte Hawkins bei sich, an die bestohlene Bank denkend, »das ist der rechte Ausdruck dafür.«
»Sind Sie Künstler?« fragte der Oberst und fügte für sich hinzu: »Jetzt werde ich ihn fangen.«
»In bescheidener Weise, ja.«
»In welchem Fach?« fuhr der schlaue Alte fort.
»In Öl!«
›Jetzt habe ich ihn,‹ dachte Sellers. Dann laut:
»Das trifft sich glücklich; dürfte ich Sie auffordern, einige meiner Bilder zu restaurieren, die einer solchen Nachhilfe bedürfen?«
»Es wird mir sehr angenehm sein. Bitte, lassen Sie mich sie sehen.«
Keine Verlegenheit, kein Ausweichen, kein Vorwand, selbst nicht unter diesem Kreuzverhör. Der Oberst war verdutzt. Er führte Tracy zu einem Chromo, welches in eines früheren Eigentümers Hand dadurch Schaden gelitten hatte, daß es als Lampenteller gebraucht worden war, und sagte mit einer würdevollen Handbewegung nach dem Bild hin:
»Dieser Del Sarto – –«
»Ist dies ein Del Sarto?«
Der Oberst streifte Tracy mit einem vorwurfsvollen Blick, wendete sich wieder zu dem Bild und sagte, als ob keine Unterbrechung stattgefunden hätte:
»Dieser Del Sarto ist vielleicht das einzige in unserm Lande vorhandene Original des göttlichen Meisters. Sie sehen selbst, daß das Werk von so außerordentlicher Zartheit ist, daß die Gefahr – – Könnten – ahem – würden Sie die Güte haben, mir eine kleine Probe Ihres Könnens zu geben, ehe wir – –«
»Sehr gern; ich will eins von diesen Wunderwerken kopieren.«
Wasserfarben – Überbleibsel aus Miß Sallys Pensionszeit – wurden zur Stelle gebracht. Tracy sagte, daß er zwar in Öl Besseres leiste, aber sein Glück mit diesen versuchen wolle. Er wurde also allein gelassen und begann die Arbeit. Aber die neuen Erlebnisse wirkten zu mächtig auf ihn, und er stand auf und ging unruhig hin und her, bestürzt und sich wie verzaubert vorkommend.