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Einige Tage, bevor Oberst Mulberry Sellers den erwähnten Brief an Lord Roßmore schrieb, saß er in seiner »Bibliothek«, einem Raum, welcher zugleich sein Besuchszimmer, seine Gemäldegalerie und seine Werkstatt war. Je nach Verhältnissen und Umständen nannte er das Gemach bald mit einem dieser Namen, bald mit einem andern. Er war mit der Herstellung eines Gegenstandes beschäftigt, der aussah wie ein zerbrechliches mechanisches Spielzeug, und schien sehr eifrig bei seiner Arbeit. Sein Haar war weiß, aber im übrigen war er so jugendlich lebhaft, schwärmerisch und unternehmend wie je. Seine liebevolle alte Gattin saß in seiner Nähe; sie hielt eine schlafende Katze auf ihrem Schoß und sah mit nachdenklichem, aber zufriedenem Ausdruck bald auf diese, bald auf die Strickerei, an der sie arbeitete. Das Zimmer war groß und hell und sah behaglich und gemütlich aus, obgleich das Mobiliar bescheiden und nicht im Überfluß vorhanden war und auch die kleinen Spielereien und Zieraten, die ein Wohnzimmer schmücken, nicht zahlreich oder kostbar genannt werden konnten. Aber frische Blumen standen in den Fenstern, und es herrschte ein nicht näher zu bestimmendes Etwas vor, das die Gegenwart eines mit gutem Geschmack und geschickter Hand begabten Wesens verriet. Selbst die greulichen Farbendruckbilder an den Wänden beleidigten das Auge kaum; sie schienen dahin zu gehören und übten immerhin einen gewissen Zauber aus; denn wer sie ansah, der konnte den Blick nicht wieder abwenden, und die Bilder verfolgten ihn bis an sein seliges Ende – es gibt ja solche Bilder. Einige von diesen Abscheulichkeiten waren Landschaften, andre karikierten die See, wieder andre waren auffallende Porträte, alle aber waren Verbrechen gegen die Kunst. Die Porträte waren zwar sämtlich als diejenigen hervorragender, verstorbener Amerikaner zu erkennen, hier mußten sie jedoch, nachdem von kühner Hand entsprechende Zettel angebracht worden waren, als »Grafen von Roßmore« Dienste tun. Das neueste derselben hatte die Fabrik als Andrew Jackson verlassen, tat aber nun sein möglichstes als »Simon Lathers, Lord Roßmore, regierender Graf«. An der einen Wand hing eine alte Eisenbahnkarte von Warwickshire; diese war bezeichnet mit »Die Roßmoreschen Besitzungen«. Auf der entgegengesetzten Seite hing eine andre Karte, die den Hauptschmuck der ganzen Anordnung bildete und ihrer Größe wegen dem Fremden zuerst ins Auge fiel. Einst hatte sie nur den Titel »Sibirien« geführt, aber jetzt waren die Worte »Das zukünftige« jenem vorangesetzt; noch andre Benennungen waren mit roter Tinte eingetragen, Städte mit großer Einwohnerzahl waren über das weite Land ausgestreut an Punkten, wo heutigestags weder Städte noch Einwohner zu finden sind. Eine von diesen Phantasiestädten, deren Bevölkerung auf 1 500 000 angegeben war, trug den unaussprechlichen Namen »Libertyorloffskoizalinski« und eine noch stärker bevölkerte im Mittelpunkt gelegene war als Hauptstadt bezeichnet und mit »Freiheitsliebjovanovich« benamset.
Das Herrenhaus – wie der Oberst sein Haus gewöhnlich nannte – war ein alter, baufälliger, zweistöckiger Holzbau von mittlerer Größe, welcher irgend einmal angestrichen worden war, dies aber schon fast vergessen hatte. Es stand ganz außen in der ärmlichsten Gegend von Washington und war früher irgend jemandes Landhaus gewesen. Der das Gebäude umgebende vernachlässigte Hof war mit einem Staket umfriedet, welches der Aufrichtung dringend bedurfte und dessen Tür nicht zu öffnen war. Am Haustor waren mehrere bescheidene Blechschilder angebracht. Auf dem größten derselben stand: Oberst Mulberry Sellers, Notar und Agent. Durch die andern erfuhr man, daß der Oberst Materialisator, Hypnotiseur und Kurpfuscher war. Er war ein Mann, der immer und überall etwas zu tun fand.
Ein weißhaariger Neger, der eine Brille und schadhafte weiße Baumwollhandschuhe trug, trat ins Zimmer, verbeugte sich ehrfurchtsvoll und meldete: »Harre Washington Hawkins!«
»Ist es möglich! Führ ihn herein, Dan'l, führ ihn herein!«
Der Oberst und seine Gattin waren in einem Augenblick auf den Füßen, und im nächsten drückten sie freudig die Hände eines stämmigen, etwas niedergeschlagen aussehenden Mannes, der, seiner allgemeinen Erscheinung nach zu urteilen, fünfzig Jahre alt sein, seinem Haar nach zu schließen, aber deren hundert zählen mochte.
»Ah, Washington, mein Junge, das ist eine große Freude, dich wiederzusehen. Setze dich, setze dich und mache es dir bequem. So – du bist übrigens unverändert, – ein wenig gealtert, nur ein klein wenig, wir würden dich aber überall wiedererkannt haben; nicht wahr, Polly?«
»O ja, gewiß, Berry; so wie er jetzt aussieht, würde sein Vater ausgesehen haben, wenn er am Leben geblieben wäre. Aber, lieber Gott, woher kommen Sie eigentlich so überraschend? Ich muß mich erst besinnen, wie lange es her ist, seit –«
»Ich meine, es ist wenigstens fünfzehn Jahre her, Mrs. Sellers.«
»Ja, ja, wie die Zeit vergeht, und was für Veränderungen –«
Die Stimme versagte ihr plötzlich, und ihre Lippen zuckten; die beiden Männer warteten rücksichtsvoll, bis sie sich gefaßt haben und weiter reden würde; aber nach einem kurzen Kampf wandte sie sich ab, drückte ihre Schürze gegen die Augen und verließ leise das Zimmer.
»Dein Anblick hat das arme Ding so lebhaft an die Kinder erinnert; – ja, ja, sie sind alle tot bis auf das jüngste. Aber verbannen wir den Kummer, wir haben keine Zeit, ihm nachzuhängen; vorwärts mit dem Tanz des Lebens, mein Wahlspruch ist: ungetrübte Freude, und ob es auch vielleicht keinen Tanz und keine ungetrübte Freude zu kosten gibt, man wird sich doch bei diesem Grundsätze jederzeit besser befinden; jederzeit, Washington. Ich, der ich ein gutes Stück dieser Welt gesehen habe, weiß das aus Erfahrung. Nun sage mir aber, wo du alle diese Jahre gesteckt hast, und ob du von dort oder woher du sonst kommst.«
»Ich glaube, das wirst du schwerlich erraten können, Oberst. Ich komme von Cherokee-Strip!«
»Du scherzest!«
»So wahr ich lebe!«
»Das kann dein Ernst nicht sein. Hast du wirklich dort draußen gelebt?«
»Nun ja, wenn man das leben nennen kann; es ist ja freilich ein ziemlich starker Ausdruck für wilde Kaninchen und gedämpfte Bohnen, für getäuschte Hoffnungen und Armut in allen ihren Spielarten.«
»Und Luise war mit dir dort?«
»Ja, und auch die Kinder.«
»Noch jetzt dort?«
»Ja, ich konnte sie nicht mitbringen.«
»Oh, ich kann mir schon denken, du mußtest hierher kommen – irgendein Anspruch an die Regierung. Sei nur ganz ruhig – ich werde mich der Sache schon annehmen.«
»Aber ich habe keinen Anspruch an die Regierung.«
»Nein? Willst wohl Postmeister werden? Schon gut; überlast es nur mir; ich werde das besorgen.«
»Aber es handelt sich ja gar nicht um eine Postmeisterstelle – du bist auf ganz falschem Wege.«
»Nun aber beim Himmel, Washington, warum gehst du nicht mit der Sprache heraus und sagst mir, um was es sich handelt? Weshalb bist du so verschlossen und mißtrauisch gegen einen alten Freund, wie ich einer bin? Glaubst du, ich könne kein Geheim–«
»Es ist gar kein Geheimnis dabei, du läßt mich nur nicht –«
»Nun sieh, alter Freund, ich kenne die Menschen, und ich weiß, daß, wenn ein Mann nach Washington kommt, mag er nun vom Himmel herab oder gar von Cherokee-Strip kommen – er irgend etwas will. Aber ich weist auch, daß er es in der Regel nicht erlangt, daß er bleibt, um etwas andres herauszuschlagen, was er aber ebenfalls nicht erreicht; dasselbe Schicksal hat er mit dem nächsten, dem folgenden und so weiter, aber er hält aus, bis er nahezu ausgezogen und dann zu arm ist und sich auch zu sehr schämt, um heimzukehren – selbst nach Cherokee-Strip. Schließlich bricht ihm das Herz, und man veranstaltet eine Sammlung, um ihn zu begraben. – Unterbrich mich nicht – ich weiß, was ich sage. War ich nicht glücklich und angesehen draußen im fernen Westen? Das weißt du. Als erster Bürger in Hawkeye, von jedermann hochgeachtet, war ich eine Art Selbstherrscher, tatsächlich eine Art Selbstherrscher, Washington. Aber sie ließen mir keine Ruhe, ich sollte als Gesandter nach St. James gehen, der Gouverneur und die Bürgerschaft bestanden darauf, du weißt es; ich willigte endlich ein – es war nicht loszukommen, ich mußte es tun. So kam ich hierher. Einen Tag zu spät, Washington. Was für kleine Dinge doch oft den Gang der Weltgeschichte ändern! Ja, mein Lieber, die Stelle war schon besetzt. Nun war ich aber einmal da; ich erbot mich daher zu einem Kompromiß und war bereit, nach Paris zu gehen. Der Präsident bedauerte sehr und so weiter, aber dieser Posten gehörte nicht dem Westen. Nun saß ich wieder auf dem Trocknen; es war aber nicht zu ändern, und ich mußte ein wenig herabsteigen – wir alle kommen eines Tages so weit, uns dazu entschließen zu müssen, lieber Freund, und es ist noch nicht das Schlimmste, wie man es auch ansehen mag – ich mußte also herabsteigen und mich erbieten, Konstantinopel anzunehmen; beachte das wohl, Washington, denn es ist vollkommen wahr – nach einem Monat verlangte ich China; im nächsten bat ich um Japan; das Jahr darauf war ich ganz unten angelangt und bewarb mich mit Tränen und Bangen um das niedrigste Amt, welches die Regierung der Vereinigten Staaten zu vergeben hat, das eines Feuersteinschleifers in den Kellern des Kriegsministeriums – und beim Himmel, ich erhielt nicht einmal das!«
»Feuersteinschleifer?«
»Ja; ein Amt, das zur Zeit der Revolution im vorigen Jahrhundert geschaffen wurde. Die Musketenfeuersteine für die militärischen Posten wurden vom Kapitol geliefert. Das geschieht noch jetzt, denn obgleich die Feuersteingewehre nicht mehr im Gebrauch und die Forts eingestürzt sind, ist doch die Verordnung nicht zurückgenommen worden – sie wurde übersehen und vergessen, und die Plätze, wo das alte Ticonderaga und andre sonst standen, erhalten nach wie vor ihr bestimmtes Quantum von Feuersteinen jährlich.«
Nach einer Pause sagte Washington sehr nachdenklich: »Wie merkwürdig mir das alles erscheint – als Gesandter für England mit einem jährlichen Gehalt von zwanzigtausend Dollar auszuziehen und dann nicht einmal den Posten eines Feuersteinschleifers zu erhalten mit –«
»Drei Dollar per Woche. So geht's im Leben, Washington – das ist ein treues Bild menschlichen Strebens und Kämpfens; und das Ergebnis? Man strebt nach dem Palast und verdirbt schließlich in der Gosse.«
Es entstand ein neues nachdenkliches Stillschweigen. Dann sagte Washington, indem ernstes Mitgefühl aus seiner Stimme klang:
»Und so hast du, nachdem du gegen deinen Willen hierhergekommen bist, nur um deinen Begriffen von patriotischer Pflicht zu genügen und dem eigennützigen Verlangen der öffentlichen Meinung zu willfahren, gar nichts erreicht?«
»Nichts?« – Der Oberst sprang auf und blieb stehen, um seinem Erstaunen Luft zu machen. »Nichts, Washington? Ich frage dich: ist es nichts, lebenslängliches Mitglied, und das einzige lebenslängliche Mitglied eines diplomatischen Korps zu sein, das bei dem größten Staate der Welt akkreditiert ist – nennst du das nichts?«
Jetzt war die Reihe verblüfft zu sein an Washington. Er war stumm vor Staunen, aber seine weitgeöffneten Augen und die ehrerbietige Bewunderung, die seine Züge ausdrückten, waren beredter als Worte. Der in seinem Stolz verwundete Oberst war beruhigt; er nahm zufriedengestellt seinen Platz wieder ein, beugte sich vor und sagte eindringlich:
»Was schuldete man nun einem Manne, der durch eine in der Weltgeschichte noch nie dagewesene Erfahrung sich auszeichnete – einem Manne, der sozusagen für immer diplomatisch geweiht war dadurch, daß er, wenn auch nur vorübergehend und gesuchsweise, zu jedem einzelnen diplomatischen Posten im Bereiche seiner Regierung in Beziehung gestanden hatte, von dem eines außerordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Ministers am Hofe zu St. James bis herunter zu dem eines Konsuls auf einem Guanofelsen in der Sundastraße – dessen Gehalt in Guano zahlbar ist – einem Guanofelsen, welcher durch einen vulkanischen Ausbruch verschwand, einen Tag nur, ehe man auf der Liste der Bewerber bis herunter zu meinem Namen gelangt war. Gewiß, etwas Einziges und Erhabenes war man mir schuldig, das der Größe dieser unvergleichlichen und denkwürdigen Erfahrung entsprach – und ich erhielt es. Durch einstimmige Wahl der Gemeinde, durch Akklamation von seiten des Volkes, durch jene gewaltige Äußerung, welche Gesetze und Verfassungen beiseiteschiebt und gegen deren Rechtsspruch es keine Berufung gibt, wurde ich zum lebenslänglichen Mitglied des diplomatischen Korps ernannt, zur Vertretung der zahlreichen Staaten und Völker der Erdkugel bei dem republikanischen Hofe der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Und man geleitete mich mit einem Fackelzug nach Hause.«
»Das ist wunderbar, Oberst, wahrhaftig wunderbar.«
»Es ist die erhabenste amtliche Stellung in der ganzen Welt.«
»Das will ich meinen, und die mächtigste.«
»Das ist das rechte Wort dafür. Bedenke nur: ich runzele die Stirn – und der Krieg ist da; ich lächle – und die kämpfenden Nationen legen die Waffen nieder.«
»Aber wie furchtbar – die Verantwortung meine ich.«
»Das ist gar nichts. Verantwortung ist mir keine Last, ich bin daran gewöhnt, bin immer daran gewöhnt gewesen.«
»Und die Arbeit – die Arbeit! Mußt du allen Sitzungen beiwohnen?«
»Wer? Ich? – Wohnt der Kaiser von Rußland etwa allen den Konferenzen der Gouverneure der verschiedenen Provinzen bei? Er sitzt zu Hause und gibt nur seinen Willen kund.«
Washington schwieg einen Augenblick, dann entschlüpfte ihm ein tiefer Seufzer.
»Wie stolz war ich noch vor einer Stunde; wie geringfügig erscheint mir jetzt meine kleine Standeserhöhung! Oberst, der Grund, weshalb ich nach Washington kam, ist – ich bin Kongreßdelegierter für Cherokee-Strip!«
Der Oberst sprang auf und brach in die begeisterten Worte aus:
»Gib mir die Hand, mein Junge – das ist eine wunderbare Neuigkeit! Ich gratuliere dir von ganzem Herzen. Meine Prophezeiungen haben sich bewahrheitet, ich sagte immer, du habest das Zeug zu einem großen Manne in dir, du seiest für eine hohe Stellung geboren und werdest sie erreichen. Frage nur Polly, ob es nicht so ist.«
Washington war durch diese unerwartete Demonstration halb betäubt.
»Aber, lieber Oberst, es ist ja gar nichts dabei; diesen kleinen, schmalen, verlassenen Streifen von Gras und Sand vertreten – das ist ungefähr geradeso, als wenn man eine Billardtafel zu vertreten hätte, noch dazu eine außer Gebrauch gesetzte.«
»Nein, nein, es ist großartig, ein Vorzug, der gerade hier von bedeutendem Einfluß ist.«
»Unsinn, Oberst, ich habe nicht einmal eine Stimme abzugeben.«
»Das tut nichts, du kannst Reden halten.«
»Nein, das kann ich nicht, die Bevölkerung zählt nur zweihundert Seelen.«
»Das schadet nichts.«
»Sie hatten gar nicht das Recht, mich zu wählen, wir werden nicht als staatliches Gebiet angesehen, es existiert kein gesetzkräftiger Beschluß darüber, die Regierung hat durchaus keine offizielle Kenntnis von uns.«
»Darüber mache dir nur keinen Kummer, das werde ich in Ordnung bringen. Ich werde die Sache durchsetzen und euch in kurzer Zeit zu einem staatlich organisierten Gebiet machen.«
»Das wolltest du wirklich, Oberst? Das ist zu gut von dir und sieht dir ganz ähnlich, du alter, wahrer, treuer Freund.«
In Washingtons Augen traten Dankestränen.
»Es ist so sicher, als ob es schon geschehen wäre, mein Junge. Gib mir die Hand. Wir wollen uns zusammen vor den Wagen spannen und werden die Sache dann schon vorwärts bringen.«