Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Während der nächsten Tage hielt er die Tatsache in seinem Geiste fest, daß er in einem Lande sei, in dem es »Arbeit und Brot für alle« gebe. Ja, der Bequemlichkeit wegen paßte er diese Worte einer kurzen Melodie an und summte sie vor sich hin; aber als die Zeit vorrückte, gewann die Tatsache selbst ein etwas zweifelhaftes Ansehen, und bald erlahmte auch die Melodie und hörte endlich auf. Tracys erstes Bemühen war darauf gerichtet, eine Stelle als Beamter in einem der Ministerien zu erlangen, wo seine Oxford-Erziehung zur Geltung kommen und ihm von Nutzen sein konnte. Aber es bot sich ihm gar keine Aussicht. Die erforderlichen Kenntnisse waren hier keine Empfehlung, mit der Regierung übereinstimmende politische Gesinnung und einflußreiche Unterstützung ohne Kenntnisse waren sechsmal mehr wert. Er konnte den Engländer nicht verleugnen, und das sprach gegen ihn im politischen Mittelpunkt eines Landes, in dem beide Parteien für die irische Sache auf den Hausdächern beteten und sie in den Kellern schmähten. Seinem Anzug nach war er einer jener Cowboys aus dem Westen; das trug ihm ins Gesicht Respekt ein, aber es konnte ihm keine Stelle verschaffen. In einem unbedachten Augenblick hatte er gesagt, er wolle diese Kleider tragen, bis der Eigentümer derselben oder seine Freunde sie erblicken und nach dem Gelde fragen würden, und sein Gewissen duldete nun kein Abweichen von diesem Vorsatz.
Als die Woche zu Ende ging, sahen die Dinge ziemlich beunruhigend aus. Er hatte überall nach Arbeit gesucht, die Stufenleiter der Stellungen allmählich herabsteigend, bis er sich um jede Art von Beschäftigung beworben hatte, zu der ein Mann ohne bestimmten Beruf fähig zu sein hoffen darf – ausgenommen Steinklopfen und die andern groben Handarbeiten – und hatte weder Arbeit noch ein Versprechen, solche zu erhalten, erlangt. Er blätterte mechanisch in seinem Tagebuch, und sein Blick fiel auf die erste Eintragung, die er nach dem Brande gemacht:
»Ich selbst habe meine natürliche Veranlagung für ein solches neues Leben nie bezweifelt, niemand könnte das jetzt, der sähe, wie ich logiert bin, und sich überzeugte, daß ich keinen Widerwillen gegen diese Wohnung empfinde, sondern so vollständig zufrieden damit bin, wie irgendein Hund mit einer ähnlichen Hütte sein würde. Preis fünfundzwanzig Dollar wöchentlich. Ich sagte, ich wolle von unten anfangen, ich habe mein Wort gehalten.«
Ein Schauder überlief ihn, und er rief aus:
»Woran habe ich nur gedacht! Dies die unterste Stufe? Eine ganze Woche verträumt, und diese entsetzlichen Ausgaben habe ich anwachsen lassen! Diese Tollheit muß gleich aufhören.«
Er ordnete seine Rechnung sogleich und machte sich auf, eine weniger kostspielige Wohnung zu suchen. Er mußte lang hin und her wandern und eifrig suchen, aber endlich fand er das Gewünschte. Man verlangte Vorausbezahlung von vier und einem halben Dollar. Das sicherte ihm ein Bett und die Kost für eine Woche. Die gutmütige, abgearbeitete Wirtin führte ihn eine enge, teppichlose Treppe ins dritte Stockwerk hinauf und lieferte ihn in seinem Zimmer ab. Es standen darin zwei Doppelbetten und ein einfaches. Es sollte ihm gestattet sein, allein in einem der Doppelbetten zu schlafen, bis ein neuer Mieter kommen würde; man wollte ihm aber dafür nicht mehr berechnen. So konnte also demnächst von ihm verlangt werden, das Bett mit einem Fremden zu teilen! Schon der Gedanke machte ihn krank! Mrs. Marsh, die Wirtin, war sehr freundlich und hoffte, ihr Haus werde ihm gefallen ... es gefiel allen, wie sie versicherte.
»Und es sind recht nette Jungens; sie machen ein bißchen Lärm, aber das ist ihr Vergnügen. Wie Sie sehen, führt diese Tür in ein andres Zimmer; manchmal sind sie nun alle in dem einen, manchmal wieder im andern beisammen, und in warmen Nächten schlafen sie alle auf dem platten Dach, wenn es nicht gerade regnet. Sie machen sich da hinauf, sowie es zu warm wird. Der Frühling ist so bald gekommen, daß sie schon eine oder zwei Nächte draußen waren. Wenn Sie gerne hinaufgehen wollen und sich einen Platz aussuchen, so können Sie das schon tun. Sie finden Kreide in der Schornsteinmauer, da wo ein Backstein fehlt. Nehmen Sie nur die Kreide und ... aber natürlich, Sie haben das schon öfter gemacht.«
»O nein, das habe ich nicht.«
»Nun ja, natürlich haben Sie das nicht nötig gehabt, was denke ich auch! Auf den Weideplätzen im Westen gibt es ja genug Platz auch ohne Kreidestriche, das glaube ich. Also kreiden Sie nur einen Platz an, so groß wie ein Bettlaken, irgendwo auf dem Zinkdach, wo noch keiner bezeichnet ist; der ist hernach Ihr Eigentum. Sie und Ihr Bettgenosse tragen abwechselnd die Laken und die Kissen hinauf und herunter, oder einer trägt sie hinauf und der andre holt sie wieder herunter, das machen Sie miteinander aus, wie Sie wollen. Die Burschen werden Ihnen schon gefallen – sie sind sehr gesellig, bis auf den Buchdrucker. Das ist der in dem einfachen Bett – ein ganz sonderbarer Mensch – ich glaube, man könnte den nicht dazu bringen, mit einem andern zusammenzuschlafen, und wenn das ganze Haus in Flammen stünde. Glauben Sie mir aber, ich rede nicht nur so, ich weiß es ganz bestimmt. Die Jungens haben ihn auf die Probe gestellt. Sie nahmen sein Bett einmal abends mit hinauf, und als er um drei Uhr morgens nach Hause kam – er war dazumal bei einer Morgenzeitung, jetzt ist er bei einem Abendblatt – war kein andrer Platz mehr für ihn da als bei dem Eisenformer ... und was meinen Sie, was er tat? ... er blieb den Rest der Nacht auf ... wahrhaftig! Sie sagen, er sei ein bißchen verrückt, aber das ist er nicht; er ist ein Engländer, und die sind alle schrecklich eigen ... Sie werden mir doch das nicht übelnehmen? Sie ... Sie sind wohl auch ein Engländer?«
»Ja.«
»Das dachte ich mir. Wissen Sie, das konnte ich gleich daran merken, wie Sie die Worte falsch aussprachen, in denen ein A vorkommt, aber das gibt sich schon. Er ist ein ganz guter Bursche und verträgt sich mit dem Photographenjungen und dem Kalfaterer und dem Grobschmied, die in den Marinewerkstätten arbeiten, ganz gut, nicht so mit den andern. Die Sache ist nämlich – aber das ist ein Geheimnis, und die andern wissen's nicht – er ist eine Art von Aristokrat, sein Vater ist ein Doktor, und Sie wissen ja, was das bedeutet – in England, meine ich – denn in unserm Lande ist ein Doktor gerade nicht so sehr viel, selbst wenn er das ist. Aber dort drüben ist's natürlich anders. Der Bursche hat sich nun mit seinem Vater entzweit, war sehr heftig und ging auf und davon nach Amerika; das erste, was ihn zum Bewußtsein brachte, war, daß er jetzt arbeiten oder verhungern mußte. Nun, er war ja auf der Universität gewesen, sehen Sie, und da dachte er, es könnte ihm nicht fehlen ... sagten Sie etwas?«
»Nein, ich seufzte nur.«
»Und gerade darin irrte er sich. Ei, er war gewaltig nah am Verhungern, und ich glaube, er wäre sicher verhungert, wenn nicht ein Zeitungsdrucker oder so jemand Mitleid mit ihm gehabt und ihm eine Stelle als Lehrling verschafft hätte. So lernte er das Geschäft, und nun war alles gut, aber er war nahe daran gewesen, seinen Stolz aufzugeben und nach seinem Vater zu rufen und ... aber Sie seufzen ja schon wieder; fehlt Ihnen etwas, oder ist mein Geschwätz ...«
»O nein, gewiß nicht, bitte, fahren Sie fort, ich habe es gern.«
»Ja, sehen Sie, er ist nun zehn Jahre hier; jetzt ist er achtundzwanzig alt, und in seinem Gemüt ist er nicht so recht zufrieden, weil er sich nicht drein finden kann, daß er ein Arbeiter ist und mit Arbeitern verkehrt, und doch – wie er zu mir sagt – ein Gentleman ist. Das soll doch wohl heißen, daß die Jungens keine sind, aber natürlich, ich bin nicht so dumm, diese Katze aus dem Sack zu lassen.«
»Warum? Wäre denn etwas Böses dabei?«
»Böses dabei? Sie würden ihn prügeln, das täten sie gewiß ... würden Sie's etwa nicht tun? Doch sicher auch. Lassen Sie niemals in diesem Lande einen sagen, Sie wären kein Gentleman. Aber alle Wetter, was denke ich denn? Ich glaube, ein jeder würde sich's zweimal überlegen, ehe er sagte, ein Cowboy sei kein Gentleman.«
Ein zierliches, lebhaftes, schlankes und sehr hübsches Mädchen von ungefähr achtzehn Jahren kam ganz unbefangen in das Zimmer herein. Sie war in billige Stoffe, aber sehr nett und geschmackvoll gekleidet, und der rasche Blick, den die Mutter auf den Fremden warf, als er aufstand, war wie eine Frage nach dem hervorgebrachten Eindruck und schien Äußerungen des Erstaunens und der Bewunderung zu erwarten.
»Das ist meine Tochter Hattie – wir nennen sie Puß. – Das ist der neue Kostgänger, Puß.« – Dies sagte sie ohne aufzustehen.
Der junge Engländer verbeugte sich mit dem seiner Nationalität und seinem Alter in schwierigen und delikaten Verhältnissen eignen Ungeschick; denn da er überrascht war, brach sein natürliches, lebenslanges Selbst hervor, und dieses Selbst wußte eben nicht genau, wie es sich zu benehmen hatte, wenn es einem Zimmermädchen oder der Erbin eines Arbeiterkosthauses vorgestellt wurde. Sein andres Ich, dasjenige, welches die Gleichheit aller Menschen anerkannte, würde die Sache besser durchgeführt haben, wenn es nicht überrumpelt und so seiner Chancen beraubt worden wäre. Das junge Mädchen beachtete die Verbeugung gar nicht, streckte aber die Hand aus, schüttelte die des Fremden freundschaftlich und sagte:
»Wie geht es Ihnen?«
Dann wandte sie sich zum Waschtisch, der im Zimmer stand, drehte ihren Kopf nach links und rechts vor dem erbärmlichen Exemplar eines wohlfeilen Spiegels, das darüber hing, befeuchtete ihre Finger mit der Zunge, verbesserte das Rund einer kleinen Haarlocke, die auf der Stirne klebte, und fing dann an, mit dem Waschgeschirr zu hantieren.
»Na, ich muß jetzt gehen, es ist schon bald Zeit zum Abendessen. Machen Sie sich's bequem, Mr. Tracy, Sie hören die Glocke schon, wenn's so weit ist.«
Die Wirtin ging voller Gemütsruhe hinweg, ohne eines der jungen Leute zum Verlassen des Zimmers aufzufordern. Der junge Mann wunderte sich, daß eine Mutter, die so ehrlich und achtungsvoll erschien, so unbedacht sein konnte, und griff nach seinem Hut, in der Absicht, das Mädchen von seiner Gegenwart zu befreien; aber sie sagte:
»Wohin gehen Sie?«
»Nun eigentlich nirgends hin, aber da ich hier nur im Wege bin ...«
»Wer sagt denn, daß Sie im Wege sind? Setzen Sie sich nur wieder, ich will Sie schon fortschicken, wenn Sie mir im Wege sind.«
Sie machte nun die Betten. Er setzte sich und beobachtete ihre geschickten und raschen Bewegungen.
»Wie kommen Sie nur auf den Gedanken? Meinen Sie denn, ich brauche ein ganzes Zimmer, um ein oder zwei Betten zurecht zu machen?«
»Nein, das war es gerade nicht; wir sind aber hier oben in dem leeren Hause, und da Ihre Mutter hinuntergegangen ist ...«
Das Mädchen unterbrach ihn durch ein fröhliches Lachen und sagte:
»Und niemand hier ist, der mich beschützt? Meiner Treu ... das brauch' ich nicht. Vielleicht tät' ich es, wenn ich allein wäre, denn ich habe Angst vor Gespenstern und leugne es nicht. Ich glaube nicht an sie, nein, das tue ich nicht, ich fürchte mich nur vor ihnen.«
»Wie können Sie sich davor fürchten, wenn Sie nicht daran glauben?«
»Oh, ich weiß nicht, wie es kommt, das ist mir zu hoch; ich weiß nur, daß es so ist. Es geht Maggie Lee ebenso.«
»Wer ist das?«
»Eine von den Kostgängerinnen, eine junge Dame, die in einer Fabrik arbeitet.«
»Sie arbeitet in einer Fabrik?«
»Ja, in einer Schuhfabrik.«
»In einer Schuhfabrik, und Sie nennen sie eine junge Dame?«
»Nun, sie ist erst zweiundzwanzig Jahre alt, wie soll ich sie denn sonst nennen?«
»Ich dachte nicht an das Alter, nur an den Titel. Die Sache ist die, ich verließ England, um den erkünstelten Formen auszuweichen – denn erkünstelte Formen passen nur für ebensolche Leute – und nun haben Sie dieselben hier auch. Das tut mir leid. Ich hoffte, es gäbe hier nur Männer und Frauen, jeder stände dem andern gleich, kein Unterschied des Ranges. Wenn Sie ein Fabrikmädchen eine junge Dame nennen, wie nennen Sie dann die Frau des Präsidenten?«
»Man nennt sie eine alte.«
»Oh, Sie machen nur in bezug auf das Alter einen Unterschied?«
»Es ist doch wohl kein andrer zu machen, soviel ich sehe.«
»Dann sind also alle Frauen Damen?«
»Gewiß, alle die achtungswerten.«
»Ah, das gibt der Sache schon ein besseres Ansehen. Gewiß ist nichts Unrechtes in einem Titel, der allen gegeben wird. Er ist nur dann eine Beleidigung und ein Unrecht, wenn er auf wenige Begünstigte beschränkt wird. Aber Miß ...«
»Hattie.«
»Miß Hattie, seien Sie aufrichtig, gestehen Sie ein, daß der Titel nicht von allen an alle verliehen wird. Die reiche Amerikanerin nennt ihre Köchin gewiß nicht eine Dame ... nicht wahr?«
»Ja, das ist so; was ist aber nun weiter dabei?«
Er war erstaunt und ein wenig enttäuscht, als er sah, daß sein meisterhaftes Argument keinen bemerkbaren Eindruck hervorgebracht hatte.
»Was dabei ist?« sagte er. »Nun dieses: die Gleichheit ist eben hier nicht zugestanden, und die Amerikaner sind nicht besser daran als die Engländer. In Wirklichkeit ist gar kein Unterschied zwischen beiden vorhanden.«
»Aber, was für ein Einfall! In einem Titel ist doch nur das, was hineingelegt wird ... das haben Sie selbst gesagt. Nehmen wir einmal an, der Titel heiße sauber anstatt Dame. Verstehen Sie mich?«
»Ich glaube ja. Anstatt von einer Frau als von einer Dame zu sprechen, setzen Sie sauber und sagen, sie ist eine saubere Person.«
»Ja, so meine ich es. In England sprechen die feinen Leute nicht von den Arbeitern als Herren und Damen?«
»O nein.«
»Und die Arbeiter nennen sich auch selbst nicht Herren und Damen?«
»Gewiß nicht.«
»Wenn sie also das andre Wort benutzten, würde es auch nicht anders sein. Die hochmütigen Leute würden nur sich selber ›sauber‹ nennen, und die andern würden schwächlicherweise in dieselbe Ausdrucksweise verfallen und sich selbst nicht sauber nennen. Wir machen das hier nicht so. Jedermann nennt sich selbst Herr oder Dame und denkt auch, daß er es ist, und kümmert sich nicht darum, wofür andre ihn halten, solange sie es nicht laut sagen. Nun werden Sie denken, das wäre kein Unterschied, aber die Engländer ducken sich, geben nach, und wir tun das nicht. Ist das kein Unterschied?«
»Es ist ein Unterschied, an den ich nicht gedacht hatte, das gebe ich zu. Jedoch, wenn man sich auch selbst eine Dame nennt, so ist das noch nicht ... ahem.«
»An Ihrer Stelle würde ich nicht weiter reden.«
Howard Tracy wandte sich nach der andern Seite, um zu sehen, wer diese Bemerkung eingeschoben hatte. Es war ein untersetzter Mann von ungefähr vierzig Jahren mit aschblondem Haar und einem bartlosen, angenehmen Gesicht, das mit Sommersprossen bedeckt war, aber einen lebhaften und intelligenten Ausdruck hatte; er trug einen Anzug, der aus einem sehr bescheidenen Herrenkleidermagazin stammen mochte, aber sauber, wenn auch etwas abgetragen aussah. Er war aus dem Vorderzimmer über den Flur gekommen, wo er seinen Hut gelassen hatte, und hielt eine mit Sprüngen und Lücken versehene weiße Waschschüssel in der Hand. Das Mädchen ging ihm entgegen und nahm die Schüssel.
»Ich will es für Sie holen. Fahren Sie nur fort und sagen Sie es ihm tüchtig, Mr. Barrow. Es ist der neue Kostgänger, Mr. Tracy, und wir waren gerade dahingekommen, wo es anfing, mir zu gelehrt zu werden.«
»Sehr verbunden, Hattie, wenn Sie so gut sein wollen. Ich kam, von den Jungen zu leihen.«
Er setzte sich behaglich auf einen alten Koffer und sagte:
»Ich habe zugehört, und es interessierte mich; und wie gesagt, ich würde nicht weiter reden, wenn ich Sie wäre. Sie sehen, wohin Sie geraten, nicht wahr? Sich selber eine Dame nennen, macht noch nicht zu einer solchen; das wollten Sie doch sagen, und Sie sehen wohl, daß, wenn Sie es aussprechen, Sie direkt auf eine andre Schwierigkeit stoßen, an die Sie nicht gedacht haben, nämlich die: wessen Recht es ist, die Ernennung zu vollziehen. Drüben in England ernennen sich 20 000 Personen aus einer Million zu Herren und Damen, und die andern 980 000 nehmen diesen Beschluß an und schlucken den Schimpf, der ihnen angetan wird. Nun aber, wenn sie es sich nicht gefallen ließen, würde es kein Vorzug, sondern nur ein toter Buchstabe sein und keinen Wert haben. Hierzulande treten die 20 000, die gern die Auserwählten sein möchten, an die Wahlurne und wählen sich selbst zu Herren und Damen. Aber damit hört die Sache nicht auf. Die übrigen 980 000 kommen auch und erklären sich für Herren und Damen, und das macht dann die ganze Nation dazu. Da aber die ganze Million sich dazu erklärt, so kann von einem Vorzug keine Rede sein. Es stellt dies eine absolute Gleichheit her, das ist keine Einbildung, während drüben die Ungleichheit (durch Beschluß der unendlich Schwächeren und Einwilligung der unendlich Stärkeren) auch absolut ist – so wirklich absolut wie unsre Gleichheit.«
Tracy hatte sich beim Beginn der Rede des andern rasch in seine englische Austernschale zurückgezogen, obgleich er doch nun schon mehrere Wochen sich auf die Berührung und den Verkehr mit der gemeinen Herde und ihre Sitten und Gebräuche einübte; aber er kam bald wieder hervor, und als die Rede zu Ende ging, waren seine Schalen geöffnet, und er zwang sich, ohne ein Gefühl des Gekränktseins die ungenierte Art hinzunehmen, in der die gemeine Herde gesellig und ohne jede Verlegenheit sich uneingeladen in andrer Leute Unterhaltung mischte. Der Prozeß war diesmal nicht sehr schwierig, denn das Lächeln, die Stimme und die Manieren dieses Mannes waren einnehmend und überzeugend. Tracy würde sogar auf der Stelle Gefallen an ihm gefunden haben, wäre es nicht um eine Tatsache gewesen – eine, deren er sich nicht bewußt war –, nämlich, daß die Gleichberechtigung der Menschen für ihn noch keine Wirklichkeit war, sondern nur eine Theorie. Der Verstand erfaßte sie, aber der Mensch fühlte sie nicht. Es war wie mit Hatties Gespenstern, nur umgekehrt. In der Theorie war Barrow seinesgleichen, aber es war ihm entschieden widerlich, ihn das sehen zu lassen. Tracy sagte nach kurzem Besinnen:
»Ich hoffe von Herzen, daß das, was Sie gesagt haben, wahr ist, insofern es Amerika betrifft, denn es sind mir mehrfach Zweifel darüber aufgestiegen. Es wollte mir scheinen, als müsse die Gleichheit da eine unechte sein, wo die Bezeichnungen der Kasten noch in Gebrauch sind; aber diese Bezeichnungen haben entschieden das Beleidigende verloren und sich ausgehoben, nichtig und harmlos, sobald sie das unbestrittene Eigentum jedes Individuums in der ganzen Nation sind. Ich bin zu der Einsicht gelangt, daß eine Kaste nicht besteht und nicht bestehen kann, ausgenommen durch die allgemeine Zustimmung der Massen, die außerhalb ihrer Grenzen stehen. Ich dachte bisher, daß eine Kaste sich selbst bilde und fortpflanze, aber es erscheint mir jetzt wahr, daß sie sich zwar selbst schafft, aber nur Leben und Dauer behalten kann durch das Volk, das von ihr verachtet wird und das doch jederzeit imstande ist, sie aufzulösen, eben dadurch, daß es ihre Bezeichnungen selbst annimmt.«
»So denke auch ich. Es gibt keine Macht auf Erden, die Englands dreißig Millionen daran hindern könnte, sich selbst von morgen an zu Herzögen und Herzoginnen zu erwählen und sich so zu nennen. Nach sechs Monaten würden sich die früheren Herzöge und Herzoginnen sämtlich vom Geschäft zurückgezogen haben. Ich wünschte, man probierte das. Selbst das Königtum würde diesen Prozeß nicht überleben. Eine Handvoll Grollender gegen dreißig Millionen Lacher in einem Zustand vulkanischen Ausbruchs: wahrhaftig, das wäre Herkulanum gegen den Vesuv, und es würden fernere achtzehn Jahrhunderte dazu gehören, dieses Herkulanum nach der Verschüttung wieder aufzufinden. – Was ist ein Oberst in unserm Süden? Er ist ein Niemand, weil jeder da unten Oberst ist. Nein, Tracy (Tracy schüttelt sich), niemand in England würde Sie einen Gentleman nennen, und Sie selbst sich auch nicht; übrigens muß ich Ihnen sagen, es ist dies ein Zustand, der einen Mann manchmal in sehr unvorteilhafte Lagen bringt – ich meine, die volle und allgemeine Anerkennung der Kaste als solcher. Er kommt unbewußt dazu, es ist ihm anerzogen, und er hat niemals darüber nachgedacht. Könnten Sie sich vorstellen, daß das Matterhorn sich geschmeichelt fühle durch die Beachtung eines eurer anmutigen kleinen englischen Hügel?«
»Aber nein.«
»Nun, so soll ein Mann, der seine fünf Sinne beisammen hat, sich vorstellen, Darwin fühle sich geschmeichelt, wenn eine Prinzessin ihn beachtet. Das ist so unnatürlich, daß man es sich gar nicht ausdenken kann. Doch war jenem Memnon die Beachtung der Statue schmeichelhaft – er sagt es, sagt es selbst. Ein System, das einen Gott dazu bringt, seine Gottheit zu verleugnen und zu entweihen – oh, das ist ein falsches, ein ganz falsches und sollte abgeschafft werden, das sage ich.«
Die Erwähnung Darwins führte zu einem Gespräch über Literatur, und dieser Gegenstand erregte solche Begeisterung in Barrow, daß er seinen Rock auszog, um sich bequem und freier zu fühlen, und er hielt sich so lange dabei auf, daß er noch im besten Zuge war, als die lärmenden Eigentümer des Zimmers schreiend und singend hereinkamen und nun anfingen, sich durch Schwingen, Balgen, Waschen und auf alle mögliche andre Weise zu vergnügen. Er blieb noch ein wenig, um Tracy die Gastfreundschaft seines Zimmers und seiner Bibliothek anzubieten und einige persönliche Fragen an ihn zu richten.
»Was ist Ihr Geschäft?«
»Man – nun, man nennt mich zwar einen Cowboy, aber das ist ein Irrtum, das bin ich nicht. Ich habe kein Geschäft.«
»Durch welche Arbeit verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt?«
»Oh, durch irgend etwas – ich meine, ich würde jede Arbeit ergreifen, die ich bekommen könnte, aber bis jetzt bin ich nicht imstande gewesen, Beschäftigung zu finden.«
»Vielleicht kann ich Ihnen dazu verhelfen, ich will es gerne versuchen.«
»Das wäre mir sehr lieb. Ich habe es bis zum Müdewerden versucht.«
»Nun ja, wenn einer kein bestimmtes Geschäft hat, ist er ziemlich schlimm daran in der Welt. Was Sie brauchen, ist, glaube ich, weniger Büchergelehrsamkeit und mehr Butter- und Brotkenntnisse. Ich begreife nicht, was sich Ihr Vater gedacht haben muß. Sie hätten ein Geschäft lernen müssen, ein Geschäft auf alle Fälle. Aber seien Sie nur unbesorgt, wir werden schon etwas zu arbeiten aufstöbern. Bekommen Sie nur nicht etwa das Heimweh, das ist ein schlechtes Geschäft. Wir werden weiter über die Sache reden und uns ein wenig umsehen. Es wird schon gehen. Warten Sie auf mich, ich gehe mit Ihnen zum Abendessen hinunter.«
In Tracy war mittlerweile ein freundschaftliches Gefühl für Barrow entstanden, und er würde ihn einen Freund genannt haben, wenn ihm die Forderung, seine Theorien auch zu verwirklichen, nicht gar zu plötzlich gekommen wäre. Jedenfalls freute er sich seiner Gesellschaft, und es war ihm leichter ums Herz als vorher. Auch war er ziemlich neugierig, zu erfahren, welcher Beruf es wohl sein möchte, der Barrow eine so ausgebreitete Bekanntschaft mit Büchern und so viel Zeit zum Lesen gewährte.
In den unteren Räumen des Hauses wurde jetzt die Glocke zum Abendessen geläutet, und der Klang schien auf seinem Weg nach oben mit jedem Stockwerk an Stärke zuzunehmen. Der gellende Ton wurde immer lärmender, bis zuletzt, als nur noch wenig daran fehlte, daß er einen taub machte, dies Wenige durch das Poltern und Klappern einer ganzen Lawine von Kostgängern ersetzt wurde, die auf der teppichlosen Holztreppe eilig hinabstürzten. Der hohe Adel ging nicht in dieser Weise zu Tische, und Tracys Erziehung befähigte ihn nicht, sich an dieser ausgelassenen, an den zoologischen Garten mahnenden Eile zu erfreuen. Er mußte sich eingestehen, daß er sich erst an einen solchen Ausbruch der Bestialität gewöhnen müsse, ehe er ihn erträglich finden könne. Ohne Zweifel würde er ihn später sogar vorziehen, nur hätte er gewünscht, der Übergang möchte ein wenig gemäßigt werden und nicht so ausgesprochen schroff sein. Barrow und Tracy folgten der Lawine hinunter durch Wolken immer zunehmender und immer aufdringlicher werdender Gerüche von altem Kohl und ähnlichem; Gerüche, denen man nirgends als in einem wohlfeilen Kosthause begegnet; Gerüche, die, wenn man sie einmal eingeatmet, unvergeßlich sind und die man nach Generationen wiedererkennt, aber nie mit Vergnügen. Für Tracy waren diese Gerüche erstickend, beinahe unerträglich, aber er nahm sich zusammen und schwieg. Als sie unten angekommen waren, traten sie in ein großes Speisezimmer, in dem fünfunddreißig bis vierzig Personen an einer langen Tafel saßen. Die beiden nahmen ihre Plätze ein, das Mahl hatte schon begonnen, und die Unterhaltung wurde in der lebhaftesten Weise von einem Ende des Tisches zum andern geführt. Das Tischtuch war von sehr grobem Zeug und reichlich mit Kaffee- oder Fettflecken versehen. Messer und Gabeln waren aus Stahl mit beinernen Griffen, die Löffel schienen auch aus einem ähnlichen Metall zu sein. Die Tee- oder Kaffeetassen waren aus gewöhnlichstem, schwerstem Steingut und sämtliche Geräte und Mobilien von der gröbsten und billigsten Art.
Neben dem Teller eines jeden Kostgängers lag ein einzelnes dickes, großes Stück Brot, und man konnte beobachten, wie jeder sparsam damit umging, geradeso, als ob er nicht auf ein zweites rechnen dürfe. Schüsseln mit Butter waren auf dem Tische verteilt, für die erreichbar, die lange Arme hatten, Butterteller für den einzelnen gab es nicht. Die Butter war vielleicht gut, wenigstens benahm sie sich ruhig und anständig, aber sie hatte mehr »Bukett«, als nötig war, obgleich niemand eine Bemerkung darüber machte oder unangenehm davon berührt schien. Das Hauptgericht war ein irisches Stew, ein kochend heißes, in der Pfanne gebackenes Gemisch von Kartoffeln und Fleisch, den Überresten einer Reihe früherer Mahlzeiten. Jedermann wurde reichlich mit diesem Gericht versehen; es standen noch einige große Teller mit Schinkenscheiben auf dem Tisch sowie Eßwaren von geringerer Bedeutung: Eingemachtes, Obst, Käse und dergleichen. Es gab auch hinreichend Tee und Kaffee, aber von einer infernalischen Sorte, mit braunem Zucker und kondensierter Milch; sich mit diesen Zutaten zu versehen, war keineswegs der Willkür der Kostgänger überlassen, beides wurde vom Hauptquartier aus verteilt – ein Löffel Zucker, ein Löffel kondensierte Milch für jede Tasse, nicht mehr. Die Bedienung besorgten zwei kräftige Negerfrauen, die zwischen dem Tisch und dem Vorratslager mit wunderbarem Gepatsch und Gerassel und großer Energieentfaltung hin und her rannten. Ihre Arbeit wurde gewissermaßen ergänzt durch das junge Mädchen, Puß genannt. Sie brachte den Kostgängern Kaffee und Tee, aber sie machte dabei, genau genommen, mehr Vergnügungsfahrten als Geschäftsgänge. Mit einzelnen scherzte sie, die jungen Leute neckte sie mit lustigen Worten, die ihr – und nach dem dafür geernteten Beifall und Gelächter zu urteilen, auch den andern – witzig erschienen. Sie war der ausgesprochene Liebling der meisten jungen Leute und die im stillen Auserkorene der übrigen. Wo sie Beachtung gewährte, schuf sie Glück, das sah man auf dem Gesicht des Empfängers, und zugleich Leid, das wie ein Schatten auf die Züge der andern fiel und sie verdüsterte. Sie sprach ihre besonderen Freunde niemals mit »Herr« an, sondern nannte sie nur Billy, Tom, John und so weiter, und diese nannten sie nur Puß oder Hattie. Mr. Marsh saß oben am Tisch, seine Frau unten. Er war ein Sechziger und geborener Amerikaner; wäre er aber nur einen Monat früher zur Welt gekommen, so würde er ein Spanier geworden sein. Es war übrigens genug von einem Spanier an ihm; sein Haar war sehr schwarz, seine Gesichtsfarbe sehr dunkel und seine Augen nicht nur schwarz, sondern auch sehr stechend, und es lag etwas in ihnen, das andeutete, daß sie bei Gelegenheit auch vor Leidenschaft brennen konnten. Sein Rücken war gebeugt und sein Gesicht schmal, der ganze Eindruck, den er machte, kein angenehmer. Er war augenscheinlich keine umgängliche Persönlichkeit. Nach dem Aussehen zu schließen, war er das gerade Gegenteil seiner Frau, die ganz Mütterlichkeit, Nächstenliebe, Gefälligkeit und Gutmütigkeit war. Daß alle die jungen Leute und die Mädchen sie Tante Rachel nannten, war das beste Zeichen dafür. Tracys aufmerksam umherwandernder Blick fiel auf einen Kostgänger, der bei der Austeilung des warmen Gerichts übersehen worden war. Er sah blaß und matt aus, als ob er eben vom Krankenbett käme und so bald als möglich wieder dahin zurückkehren müßte. Seine Züge hatten einen tief melancholischen Ausdruck. Die Wogen des Gelächters und der Unterhaltung brachen sich daran, als wäre es ein Fels im Meer und Worte und Lachen wirkliches Wasser. Er hielt den Kopf gebeugt und sah beschämt aus. Einige von den Frauen schenkten ihm von Zeit zu Zeit verstohlene, halb furchtsame Blicke des Mitleids, und die jüngeren Männer fühlten entschiedene Teilnahme für den Burschen, eine Teilnahme, die sich wohl in ihren Zügen, aber nicht in einer eingreifenden Tätigkeit aussprach; die große Mehrzahl der Anwesenden jedoch zeigte sich vollständig gleichgültig gegen den Jüngling und seinen Kummer. Marsh saß mit vorgestrecktem Kopfe da; man konnte dann und wann das boshafte Blitzen seiner Augen unter den buschigen Brauen hervorleuchten sehen. Er beobachtete den jungen Mann mit offenbarer Genugtuung. Er hatte ihn nicht aus Unachtsamkeit vernachlässigt, und die Tafelrunde schien diese Tatsache zu verstehen. Mrs. Marsh wurde dieses Schauspiel sehr unbehaglich. Sie sah aus wie jemand, der allen Hindernissen zum Trotz noch hofft, daß das Unmögliche geschehen werde. Aber da das Unmögliche nicht geschah, so wagte sie endlich, es auszusprechen und ihren Mann daran zu erinnern, daß Nat Brady von dem Stew nichts bekommen habe.
Mr. Marsh hob den Kopf und rief mit ironischer Höflichkeit:
»So, er hat nichts bekommen, wirklich nichts? Wie schade; ich weiß nicht, wie es mir passieren konnte, ihn zu übersehen. Ach, er muß mir verzeihen. Sie müssen wirklich, Mr. – – hm – Baxter, Barker – Sie müssen mir verzeihen. Ich – nun – meine Aufmerksamkeit war ohne Zweifel auf etwas andres gerichtet, ich weiß nicht, auf was. Was mich aber am meisten dabei verdrießt, ist, daß die Sache jetzt bei jeder Mahlzeit vorkommt. Aber Sie müssen diese Kleinigkeiten nicht beachten, Mr. Bunker, diese kleinen Versehen meinerseits kommen mir auch sonst leicht vor, aber sie kommen mir am ehesten dann vor, wenn eine Person – hm, nun ja – wenn eine Person sagen wir seit drei Wochen mit dem Kostgeld im Rückstand ist. Sie haben mich doch verstanden? Nicht wahr? Hier ist Ihr Gericht und – hm, es macht mir das größte Vergnügen, Ihnen dasselbe vorzusetzen, und ich hoffe, Sie nehmen die Wohltat ebensogern an, als ich sie gewähre.«
In Bradys blassem Gesicht stieg ein Erröten auf und verschwand wieder, aber er sagte kein Wort und fing an zu essen unter dem Druck eines allgemeinen Schweigens und der Empfindung, daß aller Augen auf ihn gerichtet waren. Barrow flüsterte Tracy zu: »Der alte Mann hat nur darauf gewartet; er würde um alles in der Welt diese Gelegenheit nicht versäumt haben.«
»Das ist eine Roheit,« sagte Tracy. Dann drängte sich ihm ein Gedanke auf, den er sich vornahm, später in sein Tagebuch einzutragen: »Hier in diesem Hause,« sagte er sich, »ist eine Republik, in der alle frei und gleich sind, wenn Menschen das auf dieser Welt überhaupt sein können; ich bin also an dem Orte angelangt, den zu finden ich auszog, und bin ein Mann unter Männern und lebe mit ihnen ohne Zweifel in der vollständigsten Gleichheit, die für Menschen erreichbar ist. Und doch schon an der Schwelle dieses neuen Lebens finde ich eine Ungleichheit. Es sind Leute an diesem Tisch, zu denen man aus irgendeinem Grunde aufsieht, und auf diesen armen jungen Burschen sieht man von oben herab, behandelt ihn mit Gleichgültigkeit, überhäuft ihn mit Demütigungen, obgleich er kein andres Verbrechen begangen hat als das sehr gewöhnliche, arm zu sein. Die Gleichheit sollte die Menschen edelmütiger machen. Ich glaubte in der Tat, daß sie das tun würde.«
Nach dem Abendessen schlug Barrow einen Spaziergang vor, und sie machten sich auf den Weg. Barrow hatte dabei einen bestimmten Zweck. Er wünschte, daß Tracy den verdächtigen Hut los werde. Es konnte ihm nicht gelingen, für einen in dieser Weise aufgeputzten Menschen Beschäftigung in irgendeinem Handwerk zu finden. Er sagte deshalb, sowie sie auf der Straße waren: »Wenn ich recht verstanden habe, sind Sie kein Cowboy?«
»Nein, das bin ich nicht.«
»Nun, wenn Sie mich nicht für zu neugierig halten wollen, möchte ich fragen, wie kommen Sie dazu, diesen Hut zu tragen? Woher haben Sie ihn?«
Tracy wußte nicht recht, wie er darauf antworten sollte; er sagte:
»Ohne in Einzelheiten einzugehen – vom Wetter dazu genötigt, wechselte ich mit einem Fremden die Kleider, und es wäre mir sehr lieb, wenn ich ihn finden und abermals mit ihm tauschen könnte.«
»Ei, weshalb finden Sie ihn nicht? Wo ist er?«
»Das weiß ich eben nicht. Ich nahm an, das beste Mittel, ihn zu finden, würde gerade das Tragen seiner Kleider sein, die auffallend genug sind, seine Aufmerksamkeit zu erregen, wenn ich ihm auf der Straße begegnen sollte.«
»Oh, ganz gut,« sagte Barrow. »Der Anzug ist dazu hinreichend, denn wenn er auch nicht zu auffallend ist, gleicht er doch auch nicht völlig dem, was andre tragen. Lassen Sie den Hut weg; wenn Sie Ihrem Mann begegnen, wird er seine Kleider doch erkennen. In einem Mittelpunkte der Zivilisation kann Ihnen dieser Hut nur hinderlich sein; ich glaube, selbst ein Engel würde in Washington mit einem solchen Heiligenschein keine Arbeit finden.«
Tracy willigte ein, den Hut mit einer Kopfbedeckung von bescheidenerer Form zu vertauschen, und sie bestiegen einen vollbesetzten Pferdebahnwagen, wo sie mit andern auf der hinteren Plattform stehen mußten. Als der Wagen sich auf den Schienen rasch weiterbewegte, erblickten zwei die Straße überschreitende Männer für einen Moment die Rückseite Tracys, und beide riefen zugleich aus: »Da ist er!« Es waren Sellers und Hawkins. Beide waren wie gelähmt vor Freude, so daß, ehe sie sich fassen und den Versuch machen konnten, den Wagen aufzuhalten, dieser schon zu weit war und sie sich entschließen mußten, auf den nächsten zu warten. Sie warteten eine Weile, dann äußerte Washington, daß es doch nutzlos wäre, mit einem Pferdebahnwagen auf den andern Jagd zu machen, er wolle lieber eine Droschke nehmen. Aber der Oberst sagte:
»Wenn du es überlegst, so ist das alles überhaupt unnötig. Jetzt, da ich ihn materialisiert habe, kann ich seinen Bewegungen gebieten. Ich will ihn schon in meinem Hause haben, bis wir selbst dorthin kommen.«
Sie eilten nun in einem Zustand großer und freudiger Aufregung nach Hause. –
Nachdem der Wechsel des Hutes vollzogen war, gingen die neuen Freunde langsam nach dem Kosthause zurück. Barrow war voller Neugierde in bezug auf diesen jungen Mann. Er begann also wieder zu fragen:
»Sie sind nie in den Rocky Mountains gewesen?«
»Nein.«
»Niemals draußen in den Prärien?«
»Nein.«
»Wie lange sind Sie nun in diesem Lande?«
»Vorher waren Sie nie in Amerika?«
»Nein.«
Bei sich selbst fügte Barrow hinzu: »Was für sonderbare Gestalten die Einfälle romantischer Leute manchmal annehmen! Dieser junge Mann, der wahrscheinlich in England von diesen sogenannten Cowboys und den Abenteuern in den Prärien gelesen hat, kommt hierher und kauft sich einen Cowboyanzug, denkt in seiner Unerfahrenheit, er kann den Cowboy spielen; aber sowie er bei dieser Komödie erwischt wird, schämt er sich derselben und ist bereit, sie aufzugeben. Diesen Tausch hat er als Erklärung vorgegeben, das ist leicht zu durchschauen, viel zu leicht. Freilich, er ist jung, nirgends gewesen, kennt die Welt nicht, ist ohne Zweifel sentimental. Wenn es ihm auch interessant vorkam, war es doch eine sonderbare Wahl, ein närrischer Einfall sicherlich.«
Beide waren eine Zeitlang mit ihren Gedanken beschäftigt; dann sagte Tracy mit einem Seufzer:
»Mr. Barrow, der Fall mit dem jungen Mann beunruhigt mich.«
»Sie meinen Nat Brady?«
»Ja, Brady oder Baxter, oder wie er sonst heißt. Der alte Wirt nannte ihn mit mehreren, verschiedenen Namen.«
»O ja, er ist sehr freigebig mit Namen für Brady, seitdem dieser mit dem Kostgeld im Rückstand ist. Das ist einer von seinen Sarkasmen, er hält sich für sehr stark in solchen Spottreden.«
»In was besteht eigentlich Bradys Verlegenheit? Was ist er, wer ist er?«
»Brady ist Zinngießer: ein junger Zinngießergeselle, der ganz gut vorwärtskam, bis er krank wurde und seine Arbeit verlor; ehe er sie verlor, war er sehr beliebt, jedermann im Hause mochte Brady leiden. Gerade der alte Mann hatte ihn besonders gern; aber Sie wissen ja, wenn ein Mann seine Arbeit verliert und damit die Fähigkeit, sein Brot zu verdienen, seinen Lebensunterhalt zu bezahlen, so macht das einen großen Unterschied in der Art, wie die Leute ihn ansehen und für ihn fühlen.«
»Ist das wirklich so?«
Barrow sah Tracy kopfschüttelnd an. »Nun, natürlich ist es so, sollten Sie das nicht wissen? Das kranke oder verwundete Wild wird stets von seinen Gefährten und Freunden angegriffen und getötet.«
Tracy fühlte ein kaltes, ahnungsvolles Unbehagen, und er sagte für sich: »In einer Republik von Tieren oder Menschen, wo alle gleich sind, ist Unglück ein Verbrechen, und die Glücklichen fallen über die Unglücklichen her und töten sie.« Dann sprach er laut: »Wenn hier im Kosthause einer Freunde haben und beliebt sein will, anstatt über die Achsel angesehen zu werden, muß er also im Wohlstand sein.«
»Ja,« sagte Barrow, »so ist es nun einmal, das liegt in der menschlichen Natur. Sie wenden sich gegen Brady, jetzt, wo er unglücklich ist, und sie mögen ihn nicht mehr so gern wie früher; das ist aber nicht Bradys Schuld; er ist ganz, wie er immer war, hat dieselbe Natur, dieselben Eigenschaften, aber sie – nun ja, sehen Sie, Brady ist ihnen ein Stachel im Gewissen, sie fühlen, daß es ihre Pflicht wäre, ihm zu helfen, sie sind aber zu geizig dazu, und nun schämen sie sich dessen, sollten sich deshalb hassen; aber statt dessen hassen sie Brady, weil sie sich seinetwegen schämen müssen. Ich sage, das liegt in der menschlichen Natur, das geht überall so; dieses Kosthaus ist nur die Welt im kleinen; es ist immer wieder dieselbe Geschichte – die Menschen sind alle gleich. Wenn es uns wohl geht, sind wir beliebt, die Beliebtheit kommt in diesem Fall sehr leicht, wenn aber andre Zeiten kommen, wenden sich unsre Freunde ebenso leicht gegen uns.«
Tracys edle Grundsätze und hohe Zwecke erlitten einen bedenklichen Stoß, und er begann sich einigermaßen abzukühlen. Er fragte sich, ob er nicht doch möglicherweise einen großen Fehler begangen habe, indem er sein Glück in den Wind geschlagen und das Kreuz von andrer Unglück auf sich genommen habe. Aber er wollte auf solche Bedenken nicht hören, er schlug sie sich aus dem Sinn und beschloß, mutig vorwärts zu schreiten auf der Bahn, die er sich selbst vorgezeichnet hatte.
Auszüge aus seinem Tagebuch
Habe nun mehrere Tage in diesem eigentümlichen Bienenstock zugebracht. Ich weiß nicht recht, was ich aus den Leuten machen soll. Sie haben Vorzüge und Tugenden, aber auch wieder Eigenschaften und Manieren, mit denen schwer auszukommen ist. Ich kann an ihrem Umgang kein Gefallen finden. Von dem Augenblick an, da ich in einem gewöhnlichen, zeitgemäßen Hut erschien, bemerkte ich eine Veränderung. Die Achtung, die man mir vorher erwiesen hatte, verschwand plötzlich, und die Leute wurden freundschaftlich – mehr als dies, sie wurden vertraulich, und an eine derartige Vertraulichkeit bin ich nicht gewöhnt und kann mich nicht mit einemmal dareinfinden, das sehe ich. Die Vertraulichkeit dieser Leute wird auch manchmal zur Unverschämtheit. Ich vermute, daß das ganz in der Ordnung ist, und ich werde mich daran gewöhnen, aber ein angenehmer Vorgang ist es nicht. Mein Lieblingswunsch ist erfüllt, ich bin ein Mann unter Männern, auf gleicher Stufe mit Tom, Dick und Harry – und doch ist es nicht ganz das, was ich erwartete. Ich – ich vermisse die Heimat, bin gezwungen einzugestehen, daß ich Heimweh habe. Noch eins – und dies ist ein Geständnis, das ich ungern ablege, aber doch ablegen muß – das, was ich am meisten und fühlbarsten vermisse, ist die Ehrerbietung, mit der ich in England mein Leben lang behandelt worden bin und die mir gewissermaßen unentbehrlich ist. Ich komme ganz gut aus ohne den Luxus, den Reichtum und die Art der Geselligkeit, an die ich bisher gewöhnt war, aber ich vermisse die Achtung, und es scheint, als könne ich mich an den Mangel derselben nicht gewöhnen. Es gibt Achtung und Ehrerbietung hier, aber sie wird mir nicht zuteil, sie wird an zwei Männer verschwendet. Der eine ist ein stattlicher Mann in mittleren Jahren, ein ehemaliger Bleigießer. Jeder freut sich, von ihm beachtet zu werden. Er steckt voll Prahlerei und Umständlichkeit, Selbstgefälligkeit und grammatikalischer Fehler; bei Tische ist er das Orakel, und wenn er den Mund öffnet, wagt kein Hund im ganzen Hundezwinger zu bellen. Die andre Person ist ein Polizeiwächter auf dem Kapitol; er repräsentiert die Regierung. Die diesen beiden Männern erzeigte Ehrerbietung steht nicht viel hinter derjenigen zurück, die in England einem Grafen erwiesen wird, wenn auch die Methode eine andre ist. Es herrscht hier nicht so sehr der unterwürfig-höfliche Ton, das ist der ganze Unterschied. Jawohl, und dabei haben sie doch auch hier eine gewisse Unterwürfigkeit, so daß es den Anschein hat, als ob in einer Republik, wo alle frei und gleich sind, Glück und Wohlstand den Rang verleihen.